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BERICHT/235: Last und Lust - Wie sich die Bedeutung der Arbeit gewandelt hat (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 127/März 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Last und Lust
Wie sich die Bedeutung der Arbeit gewandelt hat

Von Jürgen Schmidt und Jürgen Kocka


Arbeit prägt die menschliche Existenz auf vielfältige Weise. Sie gibt dem Leben Struktur und Sinn. Als Erwerbsarbeit soll sie den Lebensunterhalt sichern. Sie kann aber auch Last und Qual bedeuten. Was als Arbeit verstanden und von anderen Tätigkeiten abgegrenzt wird, variiert stark mit dem kulturellen und historischen Kontext. Beispielsweise benutzen die australischen Yir-Yoront für Spielen und Arbeiten denselben Begriff. Und als der Ethnologe Georg Elwert 20 Jahre nach seinem ersten Aufenthalt in ein Dorf in Benin zurückkehrte und Bekannte traf, mochten diese nicht glauben, dass er immer noch im gleichen Beruf arbeitete: Jedes Lebensalter habe doch seine eigene Arbeit.

Unser Verständnis von Arbeit ist von den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts geprägt. Die Durchsetzung der Erwerbsarbeit während der Industrialisierung hatte weitreichende Konsequenzen für das heute vorherrschende Verständnis von Arbeit. Erwerbsarbeit auf eine bestimmte Lebensphase festzulegen, das Ideal eines Berufs fürs ganze Leben und die Trennung von Arbeitsplatz und Zuhause gehören dazu. Wo lagen die Wurzeln für diese Entwicklung? "Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir uns unseres Lebens bewusst", urteilte Immanuel Kant 1782 über die Arbeit. Im gleichen Atemzug verwarf er die Muße als etwas Lebloses, das an unserem Leben nur "so vorbeistreicht". In der Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts erlebte die Wertschätzung der Arbeit ihren ersten Höhepunkt.

Das antike Griechenland kannte noch keinen umfassenden Arbeitsbegriff. Die Menschen ordneten Sklavenarbeit auf dem Feld, Hausarbeit der Frauen, Handwerk, künstlerisches Schaffen und politisches Wirken unterschiedlichen Kategorien zu. Die Zusammenfassung unter einem Oberbegriff wäre den Griechen absurd erschienen, erst recht, weil körperliche Arbeit in der Polis von staatsbürgerlichem und politischem Engagement ausschloss. Ähnliche Vorbehalte gab es in der römischen Antike. "Alle Handwerker befassen sich mit einer schmutzigen Tätigkeit, denn eine Werkstatt kann nichts Edles an sich haben", schrieb Cicero.

In der jüdisch-christlichen Tradition war Arbeit die Strafe Gottes für den Sündenfall: "Mit Mühsal sollst du dich von (dem Acker) nähren dein Leben lang", heißt es im Alten Testament. Mit der Vertreibung aus dem Paradies wurde Arbeit zur lebenslangen Last. Zugleich führte Arbeit aber zum Seelenheil, hatte etwas Befreiendes. Mit Jesus, dem gelernten Zimmermann, der sich mit Fischern umgab, machte das Christentum der Verachtung körperlicher Arbeit ein Ende.

Im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa trugen die bürgerlichen Städte ihren Teil zur Deutung des Arbeitsbegriffs bei. Die städtischen Verwaltungen des 14. und 15. Jahrhunderts setzten Müßiggang und Armut einen positiven Arbeitsbegriff entgegen. Arbeit garantierte Wohlstand, Tugend und Macht. Im absolutistischen Staat der Frühen Neuzeit griffen Herrscher und Behörden dies auf - wer arbeitete, war nicht auf Armenpflege und -unterstützung von Staat oder Stadt angewiesen.

Im Übergang zur Aufklärung, in der Aufklärung und in der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft wurde Arbeit gleich dreifach aufgewertet. Sie erschien erstens nicht mehr primär als Last und Fluch, sondern gab dem Leben des Einzelnen Sinn. In Denis Diderots "Encyclopédie" hieß es im Artikel über "travail", Arbeit trage zu Ausgeglichenheit und Tugendhaftigkeit bei.

Der Arbeitsbegriff wurde zweitens zunehmend in einem ökonomischen Sinn verstanden: Adam Smith erschien Arbeit als die eigentliche Quelle des Reichtums. Arbeit entfaltete eine dynamische Kraft, die Fortschritt, Erfolg und Luxus ermöglichte.

Drittens lag im Arbeitsbegriff ein befreiender Schwung. Mit der Betonung ehrbarer Arbeit in Handel, Handwerk und Betrieb grenzte sich das Bürgertum vom Adel ab und kritisierte von dieser Warte aus feudal-absolutistische Strukturen. Im Lichte dieser Kritik wurden die Adligen mit nichtsnutzigen Drohnen im emsigen bürgerlichen Bienenstock verglichen, ein Vorwurf, den Thomas Morus schon 1516 in seinem Buch "Utopia" erhoben hatte.

In ihrer aufklärerischen Emphase dachten viele Autoren kaum an den Arbeitsalltag. Falls doch, unterschieden sie oft zwischen produktiver und unproduktiver, zwischen geistiger und manueller Arbeit, zwischen dem am Schreibtisch vollbrachten edlen Werk und dem in der stinkenden Gerberei hergestellten Stück Leder. Dennoch: Als sprachliches Ordnungselement hatte sich ein allgemein verstandener Arbeitsbegriff durchgesetzt. Begleitet von staatlich-kommunaler Armenpolitik und bürgerlicher Wertschätzung der Arbeit war ein Zurück etwa zu antiken Vorstellungen nicht mehr vorstellbar.

Arbeit war im europäischen Kontext gewissermaßen kodifiziert: Mit Arbeit stellte man etwas her, das über die Arbeit selbst hinauswies. Mit Arbeit erfüllte der Mensch eine Aufgabe, die ihm gestellt war oder die er sich setzte, sei es für das eigene Überleben oder Vorwärtskommen, sei es für die Gemeinschaft oder die Gesellschaft, in der er lebte. Mit Arbeit war Mühe verbunden und die Bereitschaft, Widerstände zu überwinden.

Dieser allmählich herausgebildete allgemeine Arbeitsbegriff beeinflusste die Arbeitswirklichkeit des 19. Jahrhunderts nachhaltig. Gleichzeitig nahm die Arbeit Formen an, die die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Konstrukts offenlegten. In einer sich entwickelnden kapitalistischen Marktgesellschaft entschieden nicht mehr Stand oder adlige Herkunft über sozialen Status und Prestige, sondern mehr und mehr die Stellung auf dem Arbeitsmarkt. Arbeit spitzte sich auf Erwerbsarbeit zu, und das gilt umgangssprachlich bis heute.

Der Arbeitsplatz als eigenständiger Ort setzte sich - je nach Wirtschaftssektor unterschiedlich - als Strukturprinzip durch. Haushalt und Arbeitsplatz ließen sich nicht nur getrennt denken, sondern in der Praxis unterschiedlich gestalten. Am Arbeitsplatz wurde die Arbeitszeit zunehmend überwacht und reglementiert, Arbeitsabläufe wurden rationalisiert und verdichteten sich. Waren vorher daheim noch fließende Übergänge zwischen verschiedenen Tätigkeiten möglich, schwand diese Verknüpfung. Das Ideal einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung - hier der männliche Alleinverdiener am Arbeitsplatz, dort die unentgeltlich im Haushalt arbeitende Frau - wurde zwar betont, ließ sich in der Realität jedoch nicht immer umsetzen, beispielsweise nicht in der Landwirtschaft, und Arbeiterfamilien waren durchweg auf das (Zusatz-)Einkommen von Frauen und Kindern angewiesen.

Mit einem klar umrissenen Arbeitsplatz wurde es auch möglich, diesen zu verlieren. Arbeitslosigkeit tauchte seit dem späten 19. Jahrhundert in den Lexika und der politischen Sprache auf, auch wenn ihre genaue Definition schwierig blieb. Das war einer der Gründe dafür, dass eine reichsweite Arbeitslosenversicherung im Vergleich zu den Sozialversicherungen in den 1880er Jahren erst mit Verspätung, nämlich 1927 in der Weimarer Republik, verwirklicht wurde.

Schließlich erlaubte die zentrale Bedeutung der Kategorie Arbeit neue Deutungen der Gesellschaft. Traditionelle Ungleichheitsmuster im Arbeitsprozess wie jene zwischen Herr und Knecht, Geselle und Meister wurden ergänzt: Auch Arbeiter und Arbeitgeber standen sich jetzt gegenüber. Die Gesellschaft wurde als Klassengesellschaft erfahren.

Die Realität der Arbeit drängte im 19. Jahrhundert immer stärker ins öffentliche Bewusstsein. Wie sollte ein Ziegeleiarbeiter, der monotone Handgriffe am heißen Brennofen verrichtete, Sinn aus dieser Tätigkeit ziehen? War das stundenlange Ausfüllen von Bestellscheinen in den Handelskontoren nicht entfremdete Arbeit? Zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung stumpften ab. Hinzu kamen die sozialen Folgen der frühen Industrialisierung: Kinderarbeit, überlange Arbeitszeiten, krankmachende Arbeit, Verschleiß.

Der "Arbeitsgeist sank auf Null", schrieb der Fabrikarbeiter Carl Fischer in seiner Autobiografie über die Auswirkungen harter Arbeit im späten 19. Jahrhundert: "Man hatte zu oft für zwei Mann arbeiten müssen", erinnerte er sich: "Nun wurde das Rückgrat steif und das Bücken beschwerlich, die Arme wurden schlapp und die Gelenke waren ausgeleiert, man war nicht mehr fix genug wie vordem und empfand die Arbeit nun wirklich als eine Qual." Und weiter schrieb er: "Da verglich man sich selber mit einer alten Maschine, die ihre Dienste gethan und ihre Zeit abgelaufen hatte, die nun in den Schrott mußte, weil keine Reparatur mehr angebracht war, weil sie nicht mehr konkuriren [sic] konnte, weil sie zu alt und gebrechlich war."

Bei der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts ging es daher auch darum, wie sich Verwerfungen durch die Reform der Arbeit bewältigen ließen. Staatliche Interventionen wirkten sich aus. Durch rechtliche Normen und die Einführung von Sozialversicherungen begann sich Erwerbsarbeit im Lebenslauf der Einzelnen auf bestimmte Phasen einzugrenzen. Auf Kindheit und (Schul-)Ausbildung folgte eine jahrzehntelange Arbeitsphase, an die sich der Ruhestand anschloss. In der Praxis sollte es allerdings bis in die Wohlstandsjahre der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dauern, bis die Realität diesem Muster nahe kam. Es galt immer mehr für Männer als für Frauen.

Neben dem Staat war die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts ein zweiter wichtiger Akteur. Sie stand dem Prinzip Arbeit grundsätzlich positiv gegenübe. Die in der Arbeiterbewegung engagierten Arbeiter zogen ihr Selbstverständnis oft aus ihrer beruflichen Tätigkeit. Moritz T. W. Bromme beispielsweise arbeitete Ende des 19. Jahrhunderts als Holzpantoffelmacher und berichtete: "Das Anreißen ist zwar nicht gerade schwere Arbeit, [...] muß aber dafür äußerst schnell gehen und bedarf einer gewissen Intelligenz." Ein ungeschickter Arbeiter, erinnerte sich Bromme, konnte "seinen Arbeitgeber jährlich, ohne daß er es will, um hunderte von Mark schädigen, wenn er das Holz nicht auszunutzen versteht". Er selbst aber könne sich "nun rühmen, daß ich das Holz bis aufs äußerste auszunutzen verstand", betonte der Handwerker stolz. Ehrbare, qualifizierte Arbeit diente zur Abgrenzung von bürgerlichen Müßiggängern und arbeitsscheuen Existenzen.

In ihrer frühen Phase bis in die 1870er Jahre erschien der Arbeiterbewegung Selbsthilfe durch besser und gerechter organisierte Arbeit als ein Mittel zur Lösung der Arbeitsfrage. Die Forderung nach menschenfreundlicherer Arbeit durch kürzere Arbeitszeiten, Arbeitsschutz, bessere Bezahlung sowie sozialrechtliche Absicherung kam seit dem späten 19. Jahrhundert hinzu.

Schließlich thematisierte die Arbeiterbewegung Arbeit auch unter der Frage, wie sich die Arbeiterschaft in die Gesellschaft einbeziehen ließe und an ihr teilhaben könne. "Sie [die in der Partei tätigen Arbeiter] erkannten die Bedeutung ihrer Arbeit und würdigten sie nicht etwa nur als den Quell ihres Lebensunterhalts, sondern begriffen recht gut, daß die Arbeit des Gedankens und der Hände es ist, welche allein den Bestand der Gesellschaft zu garantieren vermag", kommentierte der aus einer Arzt- und Kaufmannsfamilie stammende spätere SPD-Reichstagsabgeordnete Wilhelm Blos: "Diese Pioniere der künftigen Gesellschaft waren mir unendlich interessanter, als jene Spießbürger, welche so sehr das Milieu beherrschten, in dem ich aufgewachsen war."

Zu bedenken ist jedoch, dass Arbeit nicht nur Befreiungs- und Freiheitspotentiale enthielt. In den totalitären Ideologien und Systemen des 20. Jahrhunderts wird die politische Vieldeutigkeit von Arbeit offenbar. Die Erfahrungen mit Faschismus und Kommunismus zeigen, dass der Arbeit als solcher keine ausreichende Widerstandskraft gegen totalitären Missbrauch inne wohnt.

Arbeit ist ein Konstrukt, das je nach historischem und kulturellem Kontext unterschiedlich ausgelegt worden ist. In der europäischen Tradition bewegt es sich zwischen den beiden Polen Fluch und Segen. Je nach Art der Arbeit, sozialer Stellung und Lebensperspektiven überwiegt entweder die Erfahrung der Last, oder es herrscht die Sicht auf Arbeit als sinnerfüllendes Tun vor. Die Vorstellung von einem Leben ohne Arbeit aber bleibt im europäischen Denken randständig, wenngleich es nur wenige so emphatisch-eindeutig zu sehen vermögen wie der 1973 verstorbene Cellist Pablo Casals. Er schrieb: "Meine Arbeit ist mein Leben, ich kann mir eines ohne das andere nicht vorstellen. Aufhören zu arbeiten heißt anfangen zu sterben."


Jürgen Kocka, Historiker, hatte bis 2009 eine Professur für Geschichte der industriellen Welt an der FU Berlin und eine Forschungsprofessur für Historische Sozialwissenschaften am WZB inne. Von 2001 bis 2007 war er Präsident des WZB. Derzeit ist er Gastprofessor an der University of California, Los Angeles.
kocka@wzb.eu

Jürgen Schmidt studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Heidelberg, Innsbruck und Berlin. 2003 wurde er im Fach Geschichte promoviert. Bis September 2009 war er Mitarbeiter in der Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa" sowie bei der Forschungsprofessur "Historische Sozialwissenschaften" am WZB. Seit Dezember 2009 arbeitet er an der Humboldt-Universität zu Berlin im Rahmen des Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kollegs "Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive".
juergen.schmidt@asa.hu-berlin.de


Literatur

Manfred Bierwisch (Hg.), Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen, Berlin: Akademie Verlag 2003, 174 S.

Wilhelm Blos, Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten, Erster Band, München: G. Birk 1914, 287 S.

Moritz T. W. Bromme, Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Mit einem Nachwort und hrsg. v. Bernd Neumann, Frankfurt a.M.: Athenäum Verlag 1971 (Erstauflage 1905), 382 Seiten.

Carl Fischer, Denkwürdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters. Hrsg. und mit einem Geleitwort versehen von Paul Göhre, Leipzig: Eugen Diederichs 1903, 391 S.

Jürgen Kocka, Claus Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt a.M./New York: Campus 2000, 510 S.

Jürgen Kocka (Ed.), Work in Modern Society. The German Experience in European-American Perspective, New York/Oxford: Berghahn Books 2009, 248 S.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 127, März 2010, Seite 31-34
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2010