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BERICHT/148: Karl Marx in Hamburg (Sozialismus)


Sozialismus Heft 1/2008

Karl Marx in Hamburg

Von Michael Sommer


Der 140. Geburtstag des "Kapital" (1867) im letzten Jahr war Anlass, um sich mit der Rezeptionsgeschichte und den heutigen Perspektiven von Karl Marx' "Kritik der politischen Ökonomie" zu beschäftigen.(1) Dieses Jubiläum bietet aber auch die Gelegenheit, zurückzuschauen ins Jahr 1867, als Marx, das Manuskript für den ersten Band des "Kapital" im Gepäck, von London nach Hamburg reiste, um es seinem Verleger Otto Meißner zu überbringen. Seine Reise nimmt sich wie ein kleines Abenteuer aus, das Michael Sommer nachzeichnet. Es erlaubt einen Einblick in die Zeit und die Umstände, in und unter denen Karl Marx sein Hauptwerk schrieb und veröffentlichte.


Marx und sein Hamburger Verleger Otto Meißner hatten sich auf die persönliche Übergabe des Manuskriptes schon 1865 vertraglich geeinigt. Marx hielt es aber auch für notwendig, "Meißner das Messer persönlich auf die Brust zu setzen" (Marx an Engels, 2.4.1867)(2) und zur Eile bei der Herausgabe zu drängen. Der Verleger hatte schon seit Jahren auf das Manuskript warten müssen und obwohl es Marx gelungen war, keinen genauen Abgabetermin im Vertrag festzulegen, rechnete er nach all seinen Vertröstungen fest mit Erpressereien von Meißner. Denn die vorläufige Vereinbarung zwischen Verleger und Autor von 1865 sah die Herausgabe aller Teile des "Kapitals" in zwei gleichzeitig erscheinenden Bänden, zusammen ca. 50 Druckbögen stark, vor. Trotzdem hatte Marx nur das Manuskript für den ersten Band dabei, als er nach Hamburg reiste. Nun befürchtete er, Meißner könnte "unter dem Vorwand, den zweiten Band 'abwarten' zu wollen" (ebd.), das Manuskript zurückhalten und vorerst nicht in den Druck geben. Schließlich hatte ihm Meißner bereits brieflich mitgeteilt, der Plan, erstmal nur den ersten Band zu drucken, "sei ihm nicht recht" (Marx an Engels, 19.1.1867). Marx aber hatte darauf bestanden, "nach Erscheinen des ersten [Bandes] meiner Gesundheit wegen Pause" (ebd.) machen zu wollen. Erst als Marx Meißner vor vollendete Tatsachen stellte, sollte er Recht bekommen und sich Engels' Prophezeiung erfüllen: "Wenn Du ihm den Rest des Manuskripts persönlich bringst, so wird sich das schon machen" (Engels an Marx, 29.1.1867). Meißner druckte vorerst nur den ersten Band.

Was das Honorar betraf, so war mit Meißner vereinbart, dass "aus dem Brutto-Erlöse (nach Abzug der 33 1/3 Prozent Rabatt an die Sortimenter) die Kosten für Papier, Druck, Buchbinderarbeit, Versendung, Inserate etc. bestritten werden und vom Überschuss jeder die Hälfte erhält."(3) Seinem Schwiegersohn Paul Lafargue gegenüber bemerkte Marx, er gehe davon aus, "Das Kapital" werde ihm "nicht einmal so viel einbringen, als mich die Zigarren gekostet, die ich beim Schreiben geraucht."(4) Die erste Hälfte des Manuskripts hatte Marx bereits Ende November 1866 an Meißner geschickt. Den zweiten Teil des nach seiner völligen Unterschätzung insgesamt "25 starke Druckbogen" (Marx an Engels, 2.4.1867) umfassenden Textes - der erste Band ist fast doppelt so dick - stellte er am 2. April 1867 fertig, was Friedrich Engels mit den berühmten Zeilen quittierte: "Hurra! Dieser Ausruf war irrepressibel, als ich endlich schwarz auf weiß las, dass der 1. Band fertig ist und Du gleich damit nach Hamburg willst." (Engels an Marx, 4.4.1867)

Dass Marx das "Kapital" unter katastrophalen Bedingungen geschrieben hat, ist wohl hinlänglich bekannt. Gepeinigt von Karbunkeln, die ihm "nur unter Schmerzen sitzende Position (also schreibende) erlaubten" (Marx an Engels, 2.4.1867), hatte er seine Arbeit zuletzt immer wieder unterbrechen müssen. Neben den körperlichen waren es aber auch die "bürgerlichen Verhältnisse" (Marx an Engels, 10.11.1866), die Marx plagten: Bevor er sich auf den Weg nach Hamburg machen konnte, musste er seine "Kleidungsstücke und Uhr, die im Pfandhaus wohnen, herausnehmen" (Marx an Engels, 2.4.1867). Eingekleidet und von Friedrich Engels mit 35 Pfund ausgestattet - "damit der Nervus Rerum nicht fehlt" (Engels an Marx, 4.4.1867) -, aber mit schlechtem Gewissen machte sich Marx auf den Weg. "Ich kann kaum meine Familie im jetzigen Zustand verlassen", schrieb er an Engels, "wo sie sans sou und die Gläubiger täglich unverschämter werden" (Marx an Engels, 2.4.1867).

Am Mittwoch, den 10. April 1867, morgens um 8 Uhr, verließ Karl Marx mit dem Dampfschiff "John Bull" des noch heute tätigen Schiffsmaklers Pott London in Richtung Kontinent. Am selben Tag übrigens eröffnete August Bebel seine parlamentarische Tätigkeit als 27jähriger bei der Diskussion über die Verfassung des Norddeutschen Bundes. Am Freitag, den 12. April 1867, passierte Marx an Bord der "John Bull" um 5 Uhr früh Cuxhaven, um 12 Uhr mittags traf er dann in Hamburg ein.

Auch Marx musste damals seine Uhr eine Stunde zurückstellen als er in Hamburg eintraf. Ob es allerdings genau eine Stunde war, ist unklar, denn noch gab es in Deutschland keine vereinheitlichte Zeit und Marx hatte sich nach der dortigen Ortszeit zu richten. Erst am 1. April 1894 wurde in Deutschland auf der Basis der Greenwichzeit die einheitliche Zeit eingeführt. Marx war demnach 51 Stunden unterwegs. Das Wetter war schlecht, Schnee- und Hagelböen melden die "Hamburger Nachrichten" für den Tag, Kapitän G.S. Marshall aber brachte das Schiff sicher in den Hamburger Hafen.

Zunächst hatte sich Marx zwar über das "höchst tolle Wetter und Sturm" auf See gefreut - nach dem "langen Verschluss" war ihm dabei, schreibt er, "so kannibalisch wohl als wie 500 Säuen" (Marx an Engels, 13.4.1867).(5) Aber, heißt es weiter, "die Sache" wäre doch "auf die Dauer ennuyant geworden mit all dem kranken und abfallenden Gesindel rechts und links, hätte nicht ein gewisser nucleus Stich gehalten." Dieser kleine Kreis bestand aus einem deutschen Schiffskapitän, äußerlich Engels ähnlich, zwar kleiner, aber mit demselben "gutmütig frivolen Zwinkern des Auges", und einem Londoner Viehhändler, "ein echter John Bull" und "bullenhaft in jeder Beziehung". Weiter zählt Marx neben einem deutschen Uhrmacher aus London und einem Deutschen aus Texas als "Hauptperson" einen Deutschen auf, "der seit 15 Jahren sich herumtreibt im Osten von Peru, einer erst kürzlich geographisch registrierten Gegend, wo u.a. noch tüchtig Menschenfleisch verspeist wird." Der hatte eine "sehr wertvolle Sammlung bei sich von Steinäxten usw." "Als Anhang" schließlich nennt Marx noch eine "Frauensperson" - "(die anderen Damen [lagen] alle seasick und kotzend in der Damencabin)". "Alter Gaul", beschreibt er die Dame, "mit zahnlosem Maul, hannöversch fein sprechend, Tochter eines urahnenligen Ministers, von Baer oder so was, jetzt seit lange Menschenabrichterin, Pietistin, Arbeiterlage hebend, bekannt mit Jules Simon, voll Seelenschöne, womit sie unseren bullenhaften Freund zu Tode langweilte.

"Well!" berichtet Marx weiter von der Überfahrt, "Donnerstag abend, wo der Sturm am schlimmsten, so dass alle Tische und Stühle tanzten, kneipten wir in kleinem Kreis, während 'das' alte weibliche Gaul auf einem Kanapee lag, wovon die Bewegung des Schiffs sie von Zeit zu Zeit in die Mitte der Cabin - um sie zu zerstreuen ein wenig - auf den Boden trollte." "Was", fragt Marx, "hielt diese Schöne unter diesen erschwerenden Umständen gefesselt? Warum verzog sie sich nicht ins Frauengemach?" Nun: "Unser deutscher Wilde erzählte mit wahrem Gusto alle Geschlechtsschweinereien der Wilden. Dies der Reiz für die Zarte, Reine, Feine. Ein Beispiel: Er ist begastet in einer Indianerhütte, wo grade denselben Tag die Frau niederkommt. Die Nachgeburt wird gebraten und - höchster Ausdruck der Gastfreundschaft - er hat ein Stück der Delikatesse mitzugenießen."

Soweit Marx' Schilderung der Überfahrt nach Hamburg. Waren also Seegang und Zeitvertreib eher turbulent, so verlief die Zeit ökonomisch in durchaus ruhigen Bahnen: Die "Hamburger Börsenhalle" meldet für den 12. April 1867: "Die Börse begann ruhig und befestigte sich successive. Für fremde Valuten herrschte im Ganzen eine feste Stimmung". Mit Waren und Passagieren beladen verließ die "John Bull" am Dienstag darauf den Hamburger Hafen und fuhr zurück nach London.

Marx machte sich, in Hamburg angekommen, auf den Weg zu Meißners Verlagshaus in der Bergstraße 26, mitten in Hamburgs Innenstadt, unweit der Börse, gleich neben der Binnenalster. Meißner traf er dort nicht an. Er hinterließ seine Karte beim "Kommis" und lud Meißner zum Diner zu sich. Das heißt: in Zingg's Hotel, wo Marx abgestiegen war, fünf Gehminuten von Meißners Haus entfernt. Das in Baedekers "Handbuch für Reisende in Deutschland" als "vor Beginn der Börse sehr lebhaft"(6) beschriebene Hotel befand sich am Adolphsplatz, gegenüber der Hamburger Börse, in einem 1846 erbauten, vier Etagen hohen Gebäude, "welches in dem Parterre [ein] Kaffeehaus, in den übrigen Etagen [den] Gasthof"(7) beherbergte. Erbaut hatte das Haus der Architekt Auguste de Meuron, der auch den ersten Bau des Hamburger Thalia Theaters entworfen hatte. Nach dem großen Brand von 1842 war er eine Art Stararchitekt in der Hansestadt.(8) Zingg's Hotel galt als Gaststätte ersten Ranges.

1854 war dort auch der erst zwanzigjährige Ernst Haeckel auf seinem Weg nach Helgoland abgestiegen. In einem Brief an seine Eltern beschreibt er lebhaft die Umgebung: "Um 4 Uhr langten wir in Hamburg an und stiegen [...] in Zingg's Hotel ab. Nachdem wir uns mit gebratener Seezunge [...] erquickt, traten wir beide, Valette(9) und ich, unsere Wanderung durch die höchst merkwürdige Stadt an. Zum großen Teil besteht sie noch ganz aus altertümlichen Häusern, wie man sie in Frankfurt am Main so viel sieht, daneben aber viel schöne neue Häuser, denen in Berlin ganz ähnlich. Alle Straßen, durch die wir gingen, wimmelten von einem dichten Menschengedränge, wie ich es fast noch nie gesehen hatte. Fischer, Schiffer, Matrosen bildeten den Hauptkern, dazwischen sehr viel Ausländer, sonnenverbrannte Südländer, stattliche Kaufherrn und Schiffskapitäne und was sonst der ungemein großartige Handel hier alles an Menschen zusammenführte. Dazu sah man in den Straßen fast keine Häuser ohne mehrere Kaufläden, wohl aber viele, wo deren ein halbes Dutzend beisammen waren. Das Schreien und Lärmen, Kribbeln und Wimmeln, was zu einem solchen ungeheuren, regen Verkehr gehört, könnt Ihr Euch denken. Kurz, es war ein Leben und Treiben, wie man es nur immer von den lebhaftesten Handelsstädten geschildert findet."(10) Wo Zingg's Hotel damals stand, steht seit 1953 ein Neubau von Georg Wellhausen(11) - und beherbergt die Deutsche Bank. Nur der Grundriss des 1943 zerstörten Gebäudes ist noch sichtbar.

Otto Meißner jedenfalls kam nachmittags in Zingg's Hotel. Da seine Frau ihn aber erwartete, dinierten Marx und er nicht zusammen, Meißner lud Marx ein, ihn zu begleiten, der aber lehnte ab und besuchte lieber Eugen Strohn, den Bruder des alten Mitgliedes im Bund der Kommunisten Wilhelm Strohn. Meißner kam schließlich abends um 7 Uhr zu Marx ins Hotel. "Netter Kerl, obgleich etwas sächselnd, wie sein Name andeutelt", beschreibt ihn Marx. Beide verhandelten kurz schließlich hatte Marx nur den Text des ersten Bandes dabei -, schnell aber war alles "all right" und das Manuskript wanderte in den Safe des Meißnerschen Hauses. Schließlich "kneipten" beide und Meißner, voller "Verachtung für das sämtliche Lumpenliteratenpack", erklärte sein großes "Entzücken", Marx' Bekanntschaft zu machen (Marx an Engels, 13.4.1867).

Marx blieb vier Tage in Hamburg, bevor er am 16. April zu seinem Freund Ludwig Kugelmann nach Hannover weiterfuhr, wo er gegen 9 Uhr Abends eingetroffen ist, sofern seine vorab an Kugelmann telegrafierte Einschätzung zutrifft. Mit Kugelmann korrespondierte Marx seit 1862, persönlich waren sich die beiden noch nicht begegnet.

Das Manuskript des "Kapital" hatte Otto Meißner am selben Tag an die Druckerei von Otto Wigand in Leipzig abgeschickt. In Hamburg wollte er nicht drucken lassen, da er weder die Zahl der Drucker noch die Gelehrsamkeit der Korrektoren für ausreichend hielt. Engels war derselben Ansicht und schrieb an Marx: "Ich glaube nicht, dass die Gelehrsamkeit der Leipziger Korrektoren für Deine Art hinreicht. Meine Broschüre ließ Meißner auch bei Wigand drucken, und was haben die Schisser mir da für Zeug hineinkorrigiert." (Engels an Marx, 27.4.1867) Nachdem am 29. April mit dem Satz begonnen worden war und Marx am 5. Mai, seinem Geburtstag, die ersten Korrekturbogen zur Revision erhalten hatte, erwiesen sich die Leipziger aber als die Erwartungen übertreffend: "Die Druckfehler", schreibt Marx, "waren relativ unbedeutend." (Marx an Engels, 7.5.1867)

Marx zählte seine Zeit in Hannover zu "den schönsten und freudigsten Oasen in der Lebenswüste". Kugelmann weihte ihn in die Herrlichkeiten Hannovers ein und die ganze Familie behandelte ihn aufs allerliebeswürdigste und tat alles, was sie ihm "an den Augen absehn" (ebd.) konnte. Trotzdem hielt es Marx für unmöglich, den ganzen Druck in Hannover abzuwarten, zumal er für etliche Korrekturen seine Unterlagen benötigte, die in London lagen.

Am 16. Mai trat Marx daher die Rückreise an. Zunächst fuhr er wieder nach Hamburg, wo er sich noch einmal mit Otto Meißner traf und, wie er schreibt, "trotz aller Vorsichtsmaßregeln" (Marx an Ludwig Kugelmann, 10.6.1867)(12) Wilhelm Marr kennenlernte. Der wurde zwölf Jahre später als Autor der Propagandaschrift "Der Sieg des Germanenthums über das Judenthum - Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus betrachtet" und als Gründer der "Antisemitenliga" zum Wortführer des Rassenantisemitismus in Deutschland. 1867 nannte Marx ihn "ins Christliche übersetzter Lassalle, natürlich viel weniger wert".

Den Besuch einer Vorstellung des damals führenden Wagnerinterpreten Albert Niemann ließ Marx ausfallen, weil er sich "zu sehr durch die Gesellschaft in Hannover verwöhnt" fühlte, "um einer Theatervorstellung in minder guter Kompanie beiwohnen zu wollen", und betrat am 17. Mai das Schiff nach London.

Und wieder sollte Marx eine bemerkenswerte Schiffsreise erleben. "Die Überfahrt von Hamburg nach London war, etwas raues Wetter den ersten Tag abgerechnet, im Ganzen günstig" schrieb er später an Ludwig Kugelmann. Auf dem Schiff, "einige Stunden vor London", "erklärte ein deutsches Fräulein, das mir schon durch seine militärische Haltung aufgefallen war, sie wolle denselben Abend von London nach Weston supra Mare abfahren und wisse nicht, wie sie das mit ihrem vielen Gepäck anstellen solle."

In Weston supra Mare, einem Badeort an der Westküste Englands, wurde am 6. Juni 1867 ein Pier, der das Festland mit einer kleinen Insel verbindet, eröffnet. Vielleicht fuhr das Fräulein zur Eröffnungsparty.

"Der casus", schreibt Marx weiter, "war um so schlimmer, als am Sabbat hilfreiche Hände in England fehlen. Ich ließ mir die Eisenbahnstation zeigen, wohin sich das Fräulein in London zu verfügen. Freunde hatten selbe auf eine Karte geschrieben. Es war die North Western Station, an der ich auch vorbeizufahren hatte. Ich bot also, als guter Ritter, dem Fräulein an, sie an Stelle abzusetzen. Akzeptiert. Bei näherem Nachdenken fiel mir jedoch ein, dass Weston supra Mare südwestlich, die von mir zu passierende und dem Fräulein niedergeschriebene Station dagegen nordwestlich liege. Ich konsultierte den Sea-Captain. Richtig, es fand sich, dass sie an einem mir ganz entgegengesetzten Teil Londons zu deponieren sei. Doch ich war einmal engagiert und musste gute Miene zum bösen Spiel machen. Um 2 Uhr nachmittags kamen wir an. Ich brachte die umherirrende Schöne zu ihrer Station, wo ich erfahre, dass ihr Zug erst 8 Uhr abends abgeht. Nun saß ich in der Patsche und hatte sechs Stunden mit Mademoiselle durch Spazierengehen im Hyde-Park, Niederlassen in Ice-Shops(13) etc. totzuschlagen."

Klugerweise hatte Marx an seine Tochter geschrieben, er könne den "Tag und die Stunde" seiner Heimkehr nicht genau bestimmen (Marx an seine Tochter Laura, 13.5.1867). So fiel die nachmittägliche Liaison nicht weiter auf.

"Es ergab sich, dass [das Fräulein] Elisabeth von Puttkamer hieß, Nichte Bismarcks, bei dem sie eben einige Wochen in Berlin zugebracht hatte. Sie hatte die ganze Armeeliste bei sich, da diese Familie unser 'tapferes Kriegsheer' überreichlich mit Herren von Ehr' und Taille versieht. [...] Sie war nicht wenig erstaunt, als sie erfuhr, dass sie in 'rote' Hände gefallen sei. Ich tröstete sie jedoch, dass unser Rendezvous 'ohne Blutverlust' abgehen werde, und sah sie gesund und munter nach ihrem Bestimmungsplatz abfahren. Denken Sie, welches Futter dies wäre für Blind und andre Vulgär-Demokraten, meine Verschwörung mit Bismarck!"

"In einem zierlichen Brieflein sagte [Fräulein Puttkamer später] voll 'kindlicher Hochachtung' ihrem Ritter 'herzinnigsten Dank' für alle Mühe, die er mit ihr als einem 'unerfahrenen Geschöpf' gehabt habe, und so ließen auch ihre Eltern vermelden, sie seien glücklich zu erfahren, dass es noch gute Menschen auf der Reise gebe."(14)

Marx ging offenbar von einem zufälligen Zusammentreffen aus. Aber schon während seines Aufenthaltes in Hannover hatte er Besuch bekommen von einem "Satrapen Bismarcks", einem Advokaten Warnebold, der Marx den angeblichen Wunsch Bismarcks übermittelte, ihn und seine "großen Talente im Interesse des deutschen Volks zu verwerten" (Marx an Engels, 24.4.1867). Engels überraschte das nicht: "Dass Bismarck bei Dir anklopfen würde, hatte ich erwartet. [...] Bismarck denkt, wenn ich nur fortfahre, bei Marx anzuklopfen, so treffe ich schließlich doch einmal den richtigen Moment, und wir machen dann doch ein Geschäftchen zusammen." (Engels an Marx, 27.4.1867)

Franz Mehring ist aber sicher, dass Marx die Botschaft Warnebolds nicht ernstgenommen haben wird. "In den noch ganz unfertigen Zuständen des Norddeutschen Bundes," schreibt er, "nachdem kaum die Gefahr eines Krieges mit Frankreich [...] beschworen worden war, konnte Bismarck unmöglich daran denken, die kaum erst in sein Lager übergegangene Bourgeoisie [...] dadurch vor den Kopf zu stoßen, dass er den Verfasser des 'Kommunistischen Manifestes' in seine Dienste nahm."(15) Wie immer Marx solche Versuche Bismarcks auch einschätzte, er war vorsichtig genug, um sich nicht zu kompromittieren. Manfred Kliem schreibt in seiner Marx-Biographie: "Mit Taschenspielertricks war der Arbeiterbewegung nicht beizukommen."(16)

Als Erscheinungsdatum des ersten "Kapital"-Bandes gilt der 14. September 1867. An diesem Tag nämlich fand sich im Börsenblatt des deutschen Buchhandels die Mitteilung der Neuerscheinung durch die J.C. Hinrichs'sche Buchhandlung. Allerdings musste die Hinrichs'sche Buchhandlung für die am 14. September veröffentlichte Notiz, dass das Buch erschienen ist, bis spätestens zum 12. September eine entsprechende Meldung an die Zeitung gegeben haben. Dem musste der Versand des Buches von der Druckerei Otto Wigands in Leipzig an die Hinrichs'sche Buchhandlung und die Zusammenstellung der Anzeigenliste für das Börsenblatt vorausgegangen sein. "Daher", resümieren die Herausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe, "kann man annehmen, dass der erste Band des 'Kapitals' etwa am 11. September 1867 herauskam".(17)

In der Jahresübersicht Meißners fand sich "Das Kapital" eingeordnet zwischen einer Arbeit von W. Lazarus "Über Moralitätsverhältnisse und ihre Ursachen" und Dr. C.H. Prellers Buch "Die Käfer von Hamburg und Umgebung. Ein Beitrag zur nordalbingischen Insektenfauna".

Das Manuskript des ersten Bandes wurde von Wigand nach Fertigstellung des Drucks zurück an Otto Meißner geschickt. Als Beleg für die Verlagsrechte wurde es dort aufbewahrt, bis - wahrscheinlich 1929 - der älteste Enkel Meißners, Otto Heinrich Meißner, das Manuskript dem SPD-Archiv in Berlin überließ. Hier verlieren sich dann seine Spuren, es ist bis heute verschollen. Die Übergabequittung, auf der Datum und Empfänger vermerkt waren, wurde zerstört, als das Meißnersche Verlagshaus bei der Bombardierung Hamburgs 1943 ausbrannte. Ob es sich bei dieser Geschichte aber um die Wahrheit handelt oder nicht vielmehr um eine Nachdichtung, ist nicht abschließend geklärt. Tatsächlich hat die fragliche Quittung nie jemand zu Gesicht bekommen. Insofern ist nicht auszuschließen, dass Meißner das Manuskript und die Druckfahnen in den 1920er Jahren, als seine Verlagsrechte verfallen waren, einfach in den Müll geworfen hat.

Wie dem auch sei: Das Manuskript ist verschollen. Das Haus Meißners wurde 1943 bei der Bombardierung Hamburgs weitgehend, Zingg's Hotel komplett zerstört. An der einen Stelle findet sich heute ein Kaffeeladen, an der anderen die Deutsche Bank. In Hamburgs Innenstadt erinnert nichts mehr an Marx' Aufenthalt im Jahr 1867.

Der Journalist Kai-Uwe Scholz schreibt in seinem Stadtplan der Dichter und Denker,(18) eine Erinnerungstafel in der Bergstraße "wäre ein schöner Hinweis darauf, dass in der Stadt der Pfeffersäcke pragmatischer Geschäftssinn stets obenan steht".

Dass dort keine Tafel zu finden ist, ist sicherlich der treffendere Hinweis auf den pragmatischen Geschäftssinn der Hanseatischen Bourgeoisie. "Die Leute sorgen nur dafür, wie sie möglichst viel Geld zusammenscharren", schrieb schon Ernst Haeckel an seine Eltern.(19) Die Abwesenheit offizieller Ehrung ist wohl die für diese Stadt angemessene Würdigung des "Kapital"-Autors.


Michael Sommer, Marxistische Abendschule (MASCH) Hamburg


Anmerkungen:

1 So auf dem Kongress "140 Jahre Kapital - Aktuelle Perspektiven auf die Kritik der politischen Ökonomie", den die Marxistische Abendschule Hamburg und das Gesellschaftswissenschaftliche Institut Hannover am 1. und 2.12.2007 in Hamburg veranstalteten. Dort ist auch der folgende Text vorgetragen worden.

2 Alle folgenden Briefe von und an Marx, in: Marx-Engels-Werke, Band 31, Berlin/DDR 1957ff

3 Vereinbarung zwischen Karl Marx und dem Verlagsbuchhändler Otto Meißner, in: Manfred Kliem: Karl Marx. Dokumente seines Lebens, Leipzig 1970, S. 411ff.

4 Paul Lafargue: Karl Marx. Persönliche Erinnerungen, in: Die Neue Zeit. Revue des geistigen und öffentlichen Lebens, 9. Jg. 1890/91, Bd. 1, Nr. 1, Stuttgart 1891, S. 11.

5 Die folgenden Zitate stammen ebenfalls aus diesem Brief.

6 Karl Baedeker: Handbuch für Reisende in Deutschland und dem Oesterreichischen Kaiserstaat, Zweiter Theil, Koblenz 1855, S. 35.

7 Hamburg, in: Ephemeriden, Beilage zur Allgemeinen Bauzeitung, Nr. 4/1846, S. 79f. Der Autor des Ephemeriden-Artikels schreibt weiter: "Die Fassade gefällt nicht, allein gewiss zu Unrecht; das Gebäude hat ein schönes stattliches Ansehen, in guten Verhältnissen; vielleicht hätten die trennenden Gurtgesimse besser gewählt sein können, die Bekrönung aber ist reich, ohne überladen zu sein, kräftig und würdig." Hotelier Zingg, so schätzt derselbe Autor, haben Grundstück und Haus seinerzeit 300.000 Mark gekostet.

8 Und findet sich insofern wenigstens indirekt in Heines "Deutschland. Ein Wintermärchen" wieder: "Die Stadt, zur Hälfte abgebrannt/ wird aufgebaut allmählich;/ wie'n Pudel, der halb geschoren ist,/ sieht Hamburg aus, trübselig." (Heinrich Heine: Im traurigen Monat November war's. Gedichte und Schriften, Stuttgart/München 1986, S. 361.)

9 Adolph de la Valette St. George, Haeckels Studienfreund.

10 Ernst Haeckel: Briefe an die Eltern, 51. Brief, 20.8.1854.
URL: http://www.zum.de/stueber/haeckel/jugend/brief_51.html

11 Wellhausen hatte seit 1941 für Konstanty Gutschow gearbeitet, der 1941 den Generalbebauungsplan für den Ausbau Hamburgs zur "Führerstadt" entworfen hatte. Ende 1943 wurde Gutschow von Albert Speer zum organisatorischen Leiter des "Arbeitsstabs für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte" ernannt und erstellte Wiederaufbauplanungen für Hamburg. Sein Vertrag mit der Stadt wurde von der britischen Militärregierung zum Jahresende 1945 gekündigt, sein Generalbebauungsplan aber blieb Grundlage des Wiederaufbaus der Hansestadt - auch für Wellhausen.

12 Die folgenden Zitate stammen ebenfalls aus diesem Brief.

13 1867 war das Speiseeis nichts Ungewöhnliches mehr. Allerdings war die Herstellung noch auf Stangeneis aus dem Winter, das in Eiskellern gelagert wurde, oder den Gebrauch von Salpeter angewiesen. Schon Goethe schätzte das Himbeereis. Erst 1881, mit der Erfindung der Kältemaschine durch Carl von Linde, wurde die industrielle Eisproduktion möglich.

14 Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens, in: Franz Mehring: Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR 1960, S. 366.

15 Mehring: Karl Marx..., a.a.O., S. 377.

16 Kliem: Karl Marx..., a.a.O., S. 410.

17 Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Zweite Abteilung, Band 5, Apparat, S. 673f.

18 Kai Uwe Scholz: Literarisches Hamburg. 99 Autoren - Wohnorte, Wirken, und Werke, Berlin 2002, zitiert nach: Hamburger Abendblatt, 3. Juli 2002.

19 Haeckel: Briefe..., a.a.O.


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Quelle:
Sozialismus Heft 1/2008, Seite 55-59
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2008