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ALTERTUM/010: Beim Zeus, das Übel ist verdient! (Einblicke / Universität Oldenburg)


Einblicke Nr. 58 - Herbst 2013
Das Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Beim Zeus, das Übel ist verdient!

Von Michael Sommer



Auch die Griechen des Altertums haben ihre Krisen gemanagt. Allerdings unter anderen Vorzeichen: Der Glaube unserer Gegenwart, dass Krisen grundsätzlich beherrschbar seien, ging ihnen völlig ab. Der Althistoriker Michael Sommer über eine Epoche, in der Geschichte nichts anderes war als eine Story fortwährenden Verfalls - und die dennoch pragmatisch mit Krisen umzugehen wusste.


Krisen - gestern und heute

Krise kommt von krínein. Das griechische Wort bedeutet soviel wie "unterscheiden", "entscheiden". Der Grundbedeutung des Wortes nach ist eine Krise also eine Entscheidungssituation - eine Lage, in der es spitz auf Kopf steht. So verstehen Mediziner eine Krise, in der sich der weitere Verlauf der Krankheit entscheidet. Unser allgemeines Krisenverständnis ist anders: Wenn sich Griechenland in einer Schuldenkrise befindet, dann ist der Karren längst im Dreck; und wenn Europa eine Wirtschaftskrise durchmacht, dann stehen Schlangen vor den Arbeitsämtern und aufgebrachte Bürger spüren den Abschwung in ihren Portemonnaies.

Dabei ist auch die aktuelle Krise im Kern eine Situation, in der sich nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft Europas entscheidet. Ob sich die Träume der Nachkriegsgeneration nach einem in Frieden und Wohlstand lebenden Kontinent erfüllen oder wie Seifenblasen zerplatzen, hängt von den politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten ab; von ihrer Kompetenz, ihrer Fähigkeit, Akzeptanz zu finden, kurz: ihrem Krisenmanagement. Das Vertrauen darauf, dass Krisen beherrschbar sind, ist der Gegenwart so tief eingewurzelt wie der Fortschrittsoptimismus, den in Europa praktisch seit dem Hochmittelalter die Erfahrung befeuert, dass es jeder Generation besser geht als der vorigen.

Genau dieser Fortschrittsgedanke fehlte der Antike. Im Gegenteil: Griechen und Römer waren schon zufrieden, wenn sie halbwegs auf der Höhe ihrer Vorfahren waren. Für die Intellektuellen des Altertums war Geschichte eine Story fortwährenden moralischen und materiellen Verfalls. Allenfalls glaubte man, wie der Philosoph Empedokles (ca. 495-435 v. Chr.), an eine zyklische Erneuerung der Welt. Die meisten aber waren sich sicher, die Welt habe ihr goldenes Zeitalter längst hinter sich; was noch komme, sei ein rechtes Jammertal. Varianten dieser Auffassung in verschiedenen antiken Kulturkreisen sind die biblische Erzählung vom Paradies und der von Hesiod (7. Jh. v. Chr.) in seinem Lehrgedicht Werke und Tage überlieferte Mythos von den fünf Weltaltern. Vom ersten, dem goldenen Geschlecht heißt es: "Diese nun lebten wie Götter, von Sorgen befreit das Gemüte" (Werke und Tage 112). Auf das goldene folgen ein silbernes, ein bronzenes, ein heroisches und schließlich ein eisernes Zeitalter, über das Hesiod zu berichten weiß: "Weit von dem Treiben der Menschen zum Stamm der Ewigen flüchtend, / Scham und Scheu; zurück wird bleiben der sterblichen Menschen / Düsterer Jammer, und Hilfe sich nirgends zeigen im Elend" (ebd., 199-201).

Die Griechen mögen uns das Wort Krise geschenkt haben, doch im pessimistischen Denken antiker Menschen war kein rechter Platz für die aufgeregte Krisenrhetorik der Moderne. Eher tendierte man dazu, die Gravamina der Zeit, Mangel, Krieg und Seuchen, klaglos hinzunehmen, als Übel, die verdientermaßen über die Menschheit gekommen waren. In einer Welt, die sich von numinosen Kräften durchdrungen wähnte, waren solche Missstände allesamt Symptome moralischen Verfalls. Wo Menschen litten, da war die Kommunikation zwischen Sterblichen und den Göttern gestört. So war es nur folgerichtig, dass der römische Kaiser Decius (249-251 n. Chr.), während das Imperium Romanum politisch und militärisch am Abgrund stand, anordnete, jeder Reichsbewohner habe den Staatsgöttern ein Opfer darzubringen. Nichtbefolgung des Edikts wurde mit dem Tod bestraft.


Xenophon als Krisenmanager

Decius hatte keine Think Tanks, Wirtschaftsweisen und Politikberater um sich, man kann ihm also sein ebenso naives wie wirkungslos verpuffendes Krisenmanagement kaum verdenken. Allerdings kannte die Antike auch eine pragmatische Art des Umgangs mit Missständen. Rationale Denker, die wirtschaftlichen Notlagen durch Maßnahmen abhelfen wollten, waren eine exklusive Minderheit - aber es gab sie. Einer von ihnen war der Athener Xenophon (ca. 430-355 v. Chr.), der während des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) heranwuchs, eines fast dreißigjährigen blutigen Ringens zwischen den griechischen Hegemonialmächten Athen und Sparta. Der enorme Wohlstand von Xenophons Vaterstadt hatte, bevor sie am Ende des Krieges kapitulieren musste, auf ihrer Seemacht beruht: Mit ihrer Flotte hatten die Athener die Ägäis beherrscht und deren Anrainer in ein Bündnissystem gepresst, den Attischen Seebund. Die Abgaben der Bündner, die in Athen zunächst einen Bundesgenossen gegen das expansive Perserreich gesucht hatten, waren direkt ins Athener Staatssäckel gewandert und von dort in die Errichtung so extravaganter Prunkbauten wie des Parthenon auf der Akropolis.

Kaum war die Tinte unter dem von den Spartanern aufgezwungenen Kapitulationsvertrag trocken, war es mit dieser Herrlichkeit vorbei. Zwar unternahmen die Athener in Gestalt des sogenannten Zweiten Attischen Seebunds (378-355) noch einen zweiten Anlauf zur Erringung der Hegemonie, doch zerbrach auch dieses maritime Reich, diesmal unter einer Revolte der Bündner. Da jetzt endgültig keine Tribute mehr in ihre Staatskasse flossen, mussten sich die Athener nach anderen Einkommensquellen umsehen. Sie taten das mit großem Erfindungsreichtum. Vor allem galt es, Getreide in die Metropole zu schaffen, die sich aus ihrem Landgebiet Attika längst nicht mehr selbst versorgen konnte. Um sicherzustellen, dass Getreideschiffe den Piräus anliefen, schufen die Athener Institutionen, die den Hafen Athens zu einem attraktiven Handelsplatz machten: Märkte, auf denen Waren aus aller Herren Länder erhältlich waren, Gesetze, die Händler schützten, eine Marktaufsicht, die garantierte, das alles mit rechten Dingen zuging, und Risikodarlehen, die für die Liquidität der Kaufleute sorgten.

Noch radikaler waren die Vorschläge, die Xenophon in seiner Schrift Über die Staatseinkünfte (354 v. Chr.) den Bürgern von Athen unterbreitete: Statt wie bisher in die Mittel der Hegemonialpolitik, vor allem Athens Flotte, zu investieren, solle man lieber ein umfassendes Konjunkturprogramm beschließen. Der Philosoph plädiert dafür, durch staatliche Intervention den Handel zu beleben und die natürlichen Ressourcen Attikas, vor allem seine Silberbergwerke, effektiver auszubeuten. Anstatt Privatleute die in den Minen eingesetzten Sklaven mit Gewinn vermieten zu lassen, solle der Staat selbst in dieses gewinnträchtige Geschäft einsteigen. Für den Betrieb der Gruben schlägt Xenophon ein genossenschaftliches System vor, das die Risiken auf viele Schultern verteilt. Schließlich rät Xenophon seinen durchaus nicht xenophilen Mitbürgern, Fremde in ihrer Stadt willkommen zu heißen, bestehende Diskriminierungen aufzuheben und ihre Handelsgeschäfte zu fördern: Nur wenn Athen ein attraktiver Standort für Geschäftsleute aus aller Herren Länder sei, lasse sich der Verlust der Hegemonie finanziell verkraften.


Wie Frösche um einen Teich

Xenophons Athen war eine kosmopolitische Weltstadt. Ihr Getreide bezogen die Athener aus dem Schwarzen Meer, und ins gesamte Mittelmeer reichten ihre Handelsverbindungen. Kaufleute aus Phönizien und Ägypten waren in Athen ansässig; Luxuswaren "made in Athens" waren in Persien ebenso begehrt wie am keltischen Rand Europas und bei den Etruskern in Italien. "Wie Frösche um einen Teich", meinte der Philosoph Platon, säßen die Griechen um das Mittelmeer, das sie durch Handel und Kolonisation erschlossen hatten. Nur wenige Jahrhunderte zuvor, zur Zeit Homers, um 700 v. Chr., war eine Fahrt übers Mittelmeer ein veritables Abenteuer gewesen, würdig eines Helden wie Odysseus. Jetzt durchpflügten attische Schiffe im Stundentakt die Ägäis und das Schwarze Meer.

Athen im 4. Jh. v. Chr. war eine Drehscheibe der Globalisierung, wenn man "global" auf die mediterrane Welt der Antike, die Oikumene, bezieht. Angestoßen hatten diesen Prozess freilich nicht Griechen, sondern Menschen aus der Levante: die Phönizier, die mit ihrem Fernhandel schon um 1000 v. Chr. Nordafrika, Spanien und selbst die Atlantikküste erreicht hatten. Immer schneller bewegten sich seitdem Waren, Menschen und Ideen quer über das Mittelmeer, exponentiell nahmen geographisches Wissen, nautische Fertigkeiten und Kommunikationsfähigkeit der Akteure zu. Ein Problem freilich blieb: Das Mittelmeer war politisch fragmentiert in kleine und kleinste politische Einheiten: Stadtstaaten und kleine Föderationen von Städten und Stämmen. Wer die Grenzen seiner Polis auf dem Weg in die Fremde überquerte, war rechtlos. Für Kaufleute war dieser Status keine ideale Geschäftsgrundlage. Ein gewisses Maß an Sicherheit schufen, punktuell, Gastfreundschaften und bilaterale Abkommen zwischen Städten. Besser wurde es, als aus der Erbmasse des von Alexander dem Großen zusammeneroberten Reiches große Territorialstaaten entstanden, in deren Grenzen Frieden und Rechtssicherheit herrschten. Ihren Höhepunkt erreichte die politisch-rechtlich-wirtschaftliche Globalisierung der antiken Welt mit dem Imperium Romanum: Die Pax Romana reichte, als die Caesaren im Zenit ihrer Macht standen, vom Firth of Forth bis zu den Katarakten des Nil, von der Atlantikküste bis zum Tigris. Zwar gab es weiterhin Zollschranken im Reich, doch hielt das Imperium mit Straßen, Brücken, Tunneln, einer Reichspost und einem flächendeckenden Netz von Herbergen eine Infrastruktur bereit, die Mobilität in einem bis dato nicht gekannten Ausmaß ermöglichte. Zur See hielt die römische Flotte Piraten kurz, zu Lande boten die Legionen Schutz. 212 n. Chr. schließlich verfügte der Kaiser Caracalla, dass praktisch alle freien Reichsbewohner das römische Bürgerrecht erhielten. Damit galt für alle dasselbe Recht.

Doch blieb die globalisierte Antike Episode. Die Infrastruktur, die ihr Rückgrat bildete, war immens teuer und überforderte im Grunde genommen die relativ leistungsschwache Volkswirtschaft selbst des Imperium Romanum. Aufwand und Kosten standen so lange in einem gesunden Verhältnis, wie das römische Imperium nach außen ohne echte Rivalen dastand. Kaum änderte sich dies, im 3. Jh. n. Chr., stiegen die Kosten ins Unermessliche. Das Imperium taumelte in die Krise, und mit ihm die globale Wirtschaft. Einer der vielen Kaiser, die kein Rezept zu ihrer Lösung hatten, war Decius, der seine Untertanen zum Opfern zwingen wollte. Er kämpfte einen aussichtslosen Kampf und fiel, auf verlorenem Posten, 251 n. Chr. in den Sümpfen der Dobrudscha.


Literatur:

Sommer, Michael, Wirtschaftsgeschichte der Antike (C. H. Beck Wissen), München 2013.


Prof. Dr. Michael Sommer

Michael Sommer ist seit 2012 Professor für Alte Geschichte an der Universität Oldenburg. Er studierte Geschichte, lateinische und griechische Philologie, Alte Geschichte, Wissenschaftliche Politik und Vorderasiatische Archäologie an der Universität Freiburg. Nach der Promotion 1999 war er drei Jahre lang am Orientalischen Seminar der Universität Freiburg tätig. Es folgte ein zweijähriger Aufenthalt als Visiting Fellow an der Universität Oxford. 2004 kehrte er als Lehrbeauftragter an das Seminar für Alte Geschichte nach Freiburg zurück. Ein Jahr später habilitierte er sich und wechselte an die Universität Liverpool.

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Quelle:
Einblicke Nr. 58, 28. Jahrgang, Herbst 2013, Seite 6-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2014