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BERICHT/038: Jahr der Mathematik (MünchnerUni Magazin)


MünchnerUni Magazin 01/2008
Zeitschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München

Essay
Jahr der Mathematik
Annäherung an eine Fremde Welt?

Von Prof. Dr. Heinrich Steinlein


Im Januar hat Bundesbildungsministerin Annette Schavan den Startschuss für das Jahr der Mathematik gegeben. ein Jahr, das den Blick schärfen soll für ein Fach, dessen Faszination und Bedeutung für ganz alltägliche Dinge kaum beachtet werden.


Im vergangenen Jahr wollten die Gebrüder Lech und Jaroslaw Kaczynski für Polen in der Europäischen Union durchsetzen, die Sitze in deren Ministerrat nach einer Formel zu verteilen, welche die Länder nicht proportional zur Einwohnerzahl, sondern nach der Quadratwurzel davon berücksichtigt. Danach wäre Polen, das knapp halb so viele Einwohner wie Deutschland hat, im Ministerrat statt auf halb so viele Stimmen auf ein Stimmverhältnis zu Deutschland von gut 2 zu 3 gekommen. Wie ungerecht!

Nun ist die Sache nicht ganz so einfach, stimmen doch in Räten wie etwa im deutschen Bundesrat die einzelnen Blöcke, z. B. die Delegierten eines Landes, geschlossen ab. Dies führt in der Regel dazu, dass kleine Blöcke weniger Einfluss auf Abstimmungsergebnisse haben, als ihrer Größe entspricht, ja bei speziellen Sitzverteilungen den Ausgang keiner einzigen Abstimmung beeinflussen können. Mathematiker haben sich der Problematik angenommen und nach einer Formel gesucht, die z. B. im Ministerrat allen Bürgern Europas weitestgehend den gleichen Einfluss garantiert, und fanden, man staune, die Formel mit der Quadratwurzel. Die mathematische Begründung der Formel war bekannt. Woran lag es, dass die Politiker nicht auf die Mathematiker hörten und einen weit weniger gerechten und viel komplizierteren Abstimmungsmodus wählten?

Man rührt mit dieser Frage an das Selbstverständnis des Faches und seiner Vertreter: Mathematik ist die älteste exakte Wissenschaft mit einer grandiosen Geschichte und einer rasanten Entwicklung in der Gegenwart. Mathematik durchdringt alle Lebensbereiche: Ob in der Computertomographie, beim CD-Player, der Optimierung von Fahrplänen, der Modellierung von Zahnimplantaten, der Risikobewertung von Versicherungs- und Bankprodukten, der Ver- und Entschlüsselung von Daten und und und - ohne tief liegende Methoden der Mathematik geht gar nichts. Ein aktuelles Beispiel: Ein Absolvent der LMU-Mathematik hat kürzlich in Kanada an Modelluntersuchungen zu den Überlebensmöglichkeiten von Knuts und Flockes frei lebenden Artgenossen im Szenario der globalen Erwärmung mitgewirkt.

Es scheint aber den Mathematikern kaum zu gelingen, einer breiten Öffentlichkeit die Bedeutung ihres Faches zu vermitteln. So fühlen sie sich weitgehend missverstanden als gute Rechner, wo es doch der Wahrheit weit mehr entspricht, dass Mathematik das ist, was man tun muss, bevor man zu rechnen beginnt. Ein kleines Beispiel aus der Raumfahrt mag dies erläutern: Stellen Sie sich zunächst vor, Sie wollen Ihr Auto auf einer Kuppe parken. Sie müssten es genügend beschleunigen, dass Sie hochkommen, und Sie könnten energieeffizient die Beschleunigung so dosieren, dass das Auto gerade noch hochkommt und oben nicht mehr abgebremst werden muss. Ein winziger Impuls würde anschließend genügen, es wieder zurückrollen zu lassen. Vor einem ähnlichen Problem stand die NASA mit der Sonde Genesis, die auf einer Parkposition zwischen Erde und Sonne für die Dauer von mehr als einem Jahr winzige Mengen des Sonnenwindes einfangen sollte. Als Parkplatz bietet sich zunächst der so genannte erste Lagrangepunkt L1 an, ein von uns ca. 1,5 Millionen Kilometer entfernter Punkt auf der Verbindungsstrecke zwischen Erde und Sonne, der dadurch charakterisiert ist, dass sich in ihm die Anziehungskräfte von Erde und Sonne derart kompensieren, dass ein dort positionierter Raumkörper die Sonne synchron mit der Erde umkreisen würde. Nun ist aus verschiedenen Gründen L1 nicht die ideale Parkposition - und genau hier beginnt die Mathematik: Der passende mathematische Rahmen ist der 6-dimensionale Phasenraum der Orts- und Geschwindigkeitsvektoren in einem Koordinatensystem, das synchron mit der Erde um die Sonne rotiert. In diesem System zeigt die Umgebung von (L1,0) ("0" für Geschwindigkeit 0) eine bemerkenswerte Struktur, ist sie doch "aufgespannt" von jeweils eindimensionalen stabilen und instabilen Mannigfaltigkeiten sowie einer vierdimensionalen "Zentrumsmannigfaltigkeit" mit periodischen Bahnen um den Punkt (L1,0). Die mathematische Theorie sagt nun, dass man die Raumsonde in eine Bahn steuern kann, die sich "entlang" der stabilen Mannigfaltigkeit spiralförmig einer solchen Bahn annähert. Zum Ende der Mission genügt ein kleiner Impuls, um die Sonde nun entlang der instabilen Mannigfaltigkeit zur Erde zurück zu führen. Mit Mathematik nichts zu tun hat das spektakuläre Ende der Mission: Beim Eintritt in die Erdatmosphäre öffnete sich der Fallschirm nicht, die Sonde zerschellte am Boden, und jetzt bemühen sich Wissenschaftler, aus den Trümmern die winzigen Spuren von Sonnenwind zu isolieren.


Geburt einer mathematischen Theorie

Ich möchte ein weiteres Beispiel für das Aufspüren mathematischer Strukturen anführen: Vor 250 Jahren machte Leonhard Euler die eher spielerische Beobachtung, dass für die Anzahlen E der Ecken, K der Kanten und F der Flächen der Platonischen Körper Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Ikosaeder und Dodekaeder stets gilt E - K + F = 2.

So sind beispielsweise beim Würfel E = 8, K = 12 und F = 6. Nimmt man noch das dreidimensionale Innere dieser Körper hinzu - die Anzahl I ist natürlich jeweils gleich 1 -, so kann man diese "Wechselsumme" erweitern zu E - K + F - I = 1. Diese Idee führte zur Eulercharakteristik χ geometrische Objekte: Beispielsweise gilt für den Würfel W bzw. dessen Oberfläche

. Das Gleiche gilt für die topologisch äquivalenten Objekte wie die KugelBund deren Oberfläche

im 3-dimensionalen Raum.

Um nicht im Spielerischen zu bleiben, hier die für Anwendungen höchst bedeutsame Aussage des Brouwerschen Fixpunktsatzes (die übrigens nicht nur für die Dimension 3 gilt): Jede stetige (d. h. "vernünftige") Abbildung f: B -> B hat mindestens einen Fixpunkt.

Anschaulich gesprochen: Wenn man in "vernünftiger" Weise jedem Punkt x von B einen Punkt f(x) wiederum in B zuordnet, kommt man nicht umhin, mindestens einmal f(x) = x zu wählen.

Warum dieses Beispiel? Zunächst, weil es eine Verbindung zum Eulerschen Polyedersatz herstellt, folgt doch der Brouwersche Fixpunktsatz recht elegant aus χ(B) ≠ χ(S). Zum anderen leitet es über zu der grandiosen Theorie, die in 250 Jahren aus Eulers Idee entstanden ist: Der Fixpunktsatz ist ein prominentes Werkzeug für eine der Hauptaufgaben der Mathematik: das Lösen von Gleichungen. Abstrakt gesprochen handelt es sich dabei um folgende Situation: Man hat zwei Mengen M und N und eine Abbildung f: M -> N. Für ein vorgegebenes y in N wird ein x im M gesucht mit f(x) = y. In der Regel wird man nicht explizit Lösungen angeben können, sondern muss sich schrittweise vorarbeiten. Die Kunst bei einer derartigen Analyse besteht darin, irrelevante Informationen auszublenden, um die wesentliche Struktur herauszuarbeiten. In der Topologie heißen die diesbezüglichen Abstraktionswerkzeuge "Homotopie" und "Homotopieäquivalenz", mit denen ähnliche Räume bzw. Abbildungen zu Klassen zusammengefasst werden. Der Erfolg ist überwältigend: Wie aus einem Nebel tauchen völlig unerwartete algebraische Strukturen auf, d. h. Strukturen, die sich in verallgemeinerter Form an den Grundrechnungsarten für Zahlen und Vektoren orientieren. Die Algebraische Topologie, die entlang dieser Ideen aus Eulers harmloser Beobachtung entstand, ist eines der mächtigsten und faszinierendsten mathematischen Teilgebiete geworden.

Natürlich dürfen die Mathematiker nicht diese Form des Denkens für sich alleine beanspruchen. Auch in anderen Wissenschaften werden wesentliche Informationen isoliert, um Probleme qualitativ analysieren zu können. Doch weil die Mathematiker dieses strukturierte Denken so dezidiert kultivieren und zu einem, wenn nicht dem Kernziel ihrer universitären Ausbildung gemacht haben, sind ihre Absolventen so überaus begehrt auf dem Arbeitsmarkt, ob in Banken und Versicherungen, Unternehmensberatungen, Technologiekonzernen, in der Softwareentwicklung, um nur die derzeit wichtigsten Beispiele zu nennen.

Die Mathematik hat in über 2000 Jahren eine kaum noch zu überblickende Vielfalt entwickelt. Und wie die überwältigende Vielfalt und Schönheit der Natur auf der spontanen Mutation der Gene und dem Wettbewerb der Arten beruht, so baut die Evolution der Mathematik auf den Geistesblitzen ihrer Genies auf, die Neues wagten, das sich dann in der rauen Wirklichkeit bewähren musste. Dem ist es zu verdanken, dass andere Wissenschaften wie die Physik bei der Entwicklung neuer Theorien vielfach schon die nötigen mathematischen Werkzeuge vorfanden, z. B. Einstein bei der Entwicklung der Relativitätstheorie.

Unser Mathematisches Institut hat stets diese Sicht der Mathematik bewahrt, die sich nicht von den Gitterstäben der unmittelbaren Anwendbarkeit einengen lässt. Es versucht auch weiter, eine Breite zu erhalten von stark anwendungsorientierten Gebieten wie Stochastik, Finanzmathematik und Mathematische Physik bis hin zur Reinen Mathematik, wobei auch Letztere keineswegs den Bezug zur Anwendung vernachlässigt. Diese Orientierung des Instituts erwies sich stets als besonders attraktiv die für die Besten der Besten. Die Leidenschaft für Mathematik entwickelt sich oft schon während der Schulzeit, bestens gefördert durch diverse Wettbewerbe, deren prominentester, die Internationale Mathematik-Olympiade (IMO), jährlich mit bis zu sechs Teilnehmern pro Land stattfindet. Von unserem Lehrkörper sind vier ehemalige IMO-Teilnehmer, davon drei der Ordinarien. Noch beeindruckender ist die Quote unter unseren Studierenden: In den Jahren 2000 bis 2007 sandte Deutschland insgesamt 25 Schülerinnen und Schüler zu den Olympiaden. 22 von ihnen haben inzwischen das Abitur, und von denen haben allein zehn an unserem Institut das Studium aufgenommen, darunter auch der erfolgreichste IMO-Teilnehmer aller Zeiten. So bilden die ehemaligen IMO-Teilnehmer den Kern eines Kreises hochbegabter und bestens motivierter Studierender. Sie bedeuten eine Verantwortung, der man nicht durch eine vorübergehende Aufmerksamkeit in einem Wissenschaftsjahr gerecht wird, sondern nur durch langfristiges Engagement für dieses zentrale Fach an unserer Universität.


Prof. Dr. Heinrich Steinlein ist Professor in
der Arbeitsgruppe Analysis, Mathematische Physik und
Numerik am Mathematischen Institut der LMU.


Im Jahr der Mathematik 2008 wird es viele Veranstaltungen geben, um einer breiten Öffentlichkeit einen Eindruck von der Faszination dieses Faches zu vermitteln. Zwar wird es kaum gelingen, aktuelle Forschungsgebiete und Resultate realistisch darzustellen, doch kann jeder, der sich darauf einlässt, die Ideenwelt und Schönheit dieses Faches kennen lernen.
Informationen zu Veranstaltungen gibt es auf www.lmu.de/aktuelles/veranstaltungen.


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Quelle:
MünchnerUni Magazin 01/2008, Seite 8-9
Herausgeber: Rektorat der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München
Redaktion: Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2008