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AUSSENHANDEL/318: Handelspolitik auf Autopilot - Der Anachronismus des Mercosur-Abkommens (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2019 Die Geister, die wir riefen
Chemikalien belasten zunehmend Mensch und Umwelt - Zeit zu handeln!

Handelspolitik auf Autopilot
Der Anachronismus des Mercosur-Abkommens

von Jürgen Maier


Als im Sommer dieses Jahres die Urwälder am Amazonas brannten und Brasiliens rechtsradikaler Präsident Bolsonaro sich offen hinter die Brandstifter stellte, war die internationale Empörung groß. Kurz zuvor hatte die EU-Kommission bekanntgegeben, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Brasilien und den anderen Mercosur-Staaten nach über zwanzig Jahren erfolgreich beendet zu haben. Mancher Politiker rief angesichts dessen dazu auf, das Abkommen zu blockieren. Das geplante Abkommen ist aber auch unabhängig davon ein Anachronismus.


Es ist exakt zwanzig Jahre her, als die Welthandelsorganisation WTO in eine existenzielle Krise geriet: Bereits ihre zweite Ministerkonferenz im Dezember 1999 in Seattle endete ohne Ergebnis im Chaos, während sich die Innenstadt von Seattle nach tagelangen Massenprotesten im Ausnahmezustand befand. Schon damals war deutlich geworden, dass die in Wirtschaft und Politik der Industrieländer herrschende Vorstellung einer schrankenlos liberalisierten und globalisierten Weltwirtschaft eine elitäre Vision ist, die nur gegen die Mehrheit der Menschen durchgesetzt werden konnte. Auch die folgenden WTO-Ministerkonferenzen änderten nichts daran, dass die meisten Entwicklungsländer die radikalen Visionen der Regierungen der Industrieländer von Marktöffnung und Deregulierung nicht teilten und sie daher in der WTO blockierten. Bald setzten die Regierungen der Europäischen Union (EU) und der USA die Geschichte von der Paralyse der WTO in die Welt, in der angeblich nichts mehr vorangehe. In der Tat: der Neoliberalismus der EU und der USA ging in der WTO nicht mehr voran. Eine Welthandelspolitik, die nicht einseitig die Interessen nördlicher Konzerne bedient hätte, wäre allerdings in der WTO durchaus möglich gewesen.

Kurswechsel der EU

Als Konsequenz setzte die EU nun nicht mehr primär auf die WTO, sondern auf bilaterale und regionale Freihandelsabkommen, um ihre Marktöffnungs- und Deregulierungsagenda durchzusetzen. In ihrer 2006 beschlossenen Strategie 'Global Europe' erkündete die EU, mit einer konsequent neoliberalen Wirtschaftspolitik der "wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt" werden zu wollen. Dafür sollen die Märkte der anderen mit über 20 bilateralen und regionalen Abkommen geöffnet werden. Unausgesprochen blieb, dass der "wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt" von solchen schrankenlos offenen Märkten am meisten profitieren dürfte.

Im Gegensatz zur WTO blieben diese geplanten Abkommen lange unter dem Radar der "kritischen Zivilgesellschaft". Erst mit dem geplanten TTIP-Abkommen mit den USA änderte sich dies schlagartig: das Projekt scheiterte spektakulär bereits im Sommer 2016, als noch nicht einmal Donald Trump selbst glaubte, dass er 2017 ins Weiße Haus einziehen würde.(2) In der Tat wird über die meisten der anderen geplanten Abkommen bis heute verhandelt.

Relikt aus längst vergangenen Tagen erwacht

Eines der ältesten Projekte für solche regionalen Freihandelsabkommen ist das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den Mercosur-Ländern Südamerikas, also Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Schon 1998 beschloss der EU-Ministerrat ein Verhandlungsmandat, seitdem wird verhandelt, wenn auch mit langen Verhandlungspausen aufgrund unüberbrückbarer Interessengegensätze.

Im Kern geht es darum, dass die Mercosur-Länder ihre mit immer noch sehr hohen Zöllen geschützten Märkte für Industrie- und Chemieprodukte, insbesondere Autos, aber auch verarbeitete Lebensmittel, öffnen und die Zölle sukzessive radikal absenken oder ganz abschaffen. Im Gegenzug würde die EU ihre stark abgeschotteten Agrarmärkte für Südamerikas Exporte öffnen, das heißt vor allem Fleisch, Ethanol, Zucker. Auf Soja-Futtermittel erhebt die EU bereits heute keine Zölle.

Auf beiden Seiten sind das weitreichende Zugeständnisse, die keineswegs nur Gewinner, sondern auch viele Verlierer haben würden. Einen Durchbruch gab es daher erst jetzt, unter den Regierungen Bolsonaro und Macri, die konsequenter als alle ihrer Vorgänger einseitig die Interessen der Großagrarier vertreten. Im Vorgriff auf neue Bioethanol-Exportmöglichkeiten hat Bolsonaro jetzt weitreichende Erlaubnisse zur Ausweitung der Flächen erteilt, auf denen Zuckerrohr-Monokulturen erlaubt sind. Als Abnehmer dafür kommt nur die EU in Frage.

21 Jahre nach Verhandlungsbeginn ist ein Abkommen herausgekommen, das eigentlich schon 1998 anachronistisch war, aber im Jahr 2019 nur noch als Polit-Relikt aus längst vergangenen Zeiten bezeichnet werden kann. Wer glaubt heute noch ernsthaft, dass Europas Landwirtschaft noch weiter einer globalen Billigkonkurrenz ausgesetzt werden muss? Europas Bauern wehren sich immer verzweifelter gegen das massive Preisdumping, das ihre Existenzen zerstört. Wir alle wissen, dass die Landwirtschaft ökologischer und regionaler werden muss, wenn wir nicht die Artenvielfalt, die Bienen, das Grundwasser und letztlich unsere Lebensgrundlagen ruinieren wollen und die Tierquälerei immer weiter zuspitzen wollen. Dafür muss Schluss gemacht werden mit der Billig-Mentalität, dafür müssen die Bauern höhere Erzeugerpreise bekommen. Stattdessen sollen Europas Bauern jetzt noch massiver mit Südamerikas Großagrariern konkurrieren, die Sklavenlöhne bezahlen, keine Steuern bezahlen, den Amazonas abfackeln und faktisch keinerlei Umwelt- oder Hygienestandards einhalten müssen.

Zwischen Paralyse und Widerstand in Südamerika

In Südamerika dagegen wird die umfassende Marktöffnung für Industrieprodukte im großen Stil Arbeitsplätze in diesen Sektoren vernichten. Argentinischen Studien zufolge dürften dort 186.000 industrielle Arbeitsplätze verloren gehen, vor allem in der metallverarbeitenden und chemischen Industrie, immerhin 11 Prozent der Industriearbeitsplätze Argentiniens.(3) Deutschland hat Rekord-Exportüberschüsse von 250 Milliarden Euro, entsprechend 8 Prozent des BIP - aber das reicht Deutschlands Industriekonzernen offenbar immer noch nicht.(4) Laut den Regeln der EU sind dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse von über 6 Prozent des BIP ein Problem für die Euro-Zone. Schon jetzt verstößt Deutschland seit 2007 ununterbrochen gegen diesen Wert. Manche Euro-Regeln sind den Deutschen offenbar nicht so wichtig wie andere.

Nein, es ist nicht im öffentlichen Interesse Europas oder Südamerikas, die europäische bäuerliche Landwirtschaft und die mittelständische Industrie Südamerikas plattzumachen. Es ist im privaten Interesse einiger europäischer - vorwiegend in Deutschland ansässiger - Industriekonzerne und einiger südamerikanischer Agrarbarone. Aber der Einfluss dieser Leute auf die Regierungen in Europa und Südamerika ist überproportional hoch. Nur deswegen gelingt es der EU-Kommission bis jetzt, ihre völlig anachronistische Freihandels-Agenda unbeirrt von demokratischer Kontrolle weiter durchzudrücken.

Es zeichnet sich allerdings ab, dass die Geduld der Menschen, in deren Namen die Regierungen diese Abkommen durchsetzen wollen, inzwischen überstrapaziert wurde. Als im Herbst das chilenische Volk sich gegen die neuesten Zumutungen von 40 Jahren neoliberaler Politik militant zur Wehr setzte, fielen Regierung und Oppositions-Parteien aus allen Wolken, genauso wie der Rest der Welt. Im benachbarten Argentinien gab es bis jetzt zwar noch keinen Volksaufstand gegen die seit Jahrzehnten andauernde Ausplünderung normaler Menschen, aber eine dramatische Abwahl des konservativen Präsidenten Macri, der konsequent für die Interessen der Agrarbarone und für das Mercosur-Abkommen eintrat. Die neue Regierung Fernandez will das Abkommen nicht.

Aus Brasilien ist mit Widerstand einstweilen nicht zu rechnen. Brasiliens Bevölkerung und erst recht die "progressive Zivilgesellschaft" ist auch ein Jahr nach dem Wahlsieg Bolsonaros und der hinter ihm stehenden Großagrarier immer noch in Schockstarre und nicht handlungsfähig. Bolsonaro hat bereits gedroht, wenn Argentiniens neue Regierung das Abkommen blockiert, werde Brasilien den Mercosur-Block verlassen und ein eigenes Freihandelsabkommen mit der EU machen.

Und Europa?

Nach den Amazonas-Bränden im Sommer gab es zwar viel Kritik, auch in diversen Regierungen, an dem Mercosur-Freihandelsprojekt. Wahrscheinlich haben die meisten dieser Minister bereits wieder vergessen, was sie damals gesagt haben. Auch Europas "progressive Zivilgesellschaft" hat längst wieder andere Themen. Immerhin: Österreichs Parlament hat in der kurzen Phase, als es eine parteilose Expertenregierung gab und alle Parteien Oppositionsparteien waren, nahezu einstimmig beschlossen, dass die Regierung verpflichtet wird, das Abkommen in den EU-Institutionen abzulehnen. Alle künftig regierenden Parteien haben das mitgetragen.(5)

Selbst wenn Österreich das geplante Abkommen blockieren wollte, kann man davon ausgehen, dass die Kommission und die Ratsmehrheit dann eben das geplante Abkommen in zwei Teile zerlegen werden, einen Handelsteil und einen politischen Teil. Der Handelsteil fällt exklusiv in die Zuständigkeit der EU, den kann man im Rat auch mit Mehrheit beschließen, dafür ist keine Einstimmigkeit erforderlich. Die traditionelle Einstimmigkeit im EU-Rat in der Handelspolitik ist inzwischen Makulatur, seit sich Frankreich bei den Verhandlungsmandaten für die angestrebten diversen Teilabkommen mit den USA überstimmen ließ. Wer Frankreich überstimmt, überstimmt auch Österreich - und Kanzler Kurz kann dann immerhin sogar sagen, er habe sich an den Parlamentsauftrag gehalten. Man kann davon ausgehen, dass diese Möglichkeit bereits Bestandteil der juristischen Überprüfung ("legal scrubbing") ist, die derzeit stattfindet und mit deren Abschluss Mitte 2020 zu rechnen ist.

Rote Karte für das deutsche Wirtschaftsmodell

Die Aussichten für das Projekt Mercosur-Abkommen sind also durchaus unsicher. Die Chancen, dass Argentiniens neue Regierung unter dem Einfluss der dortigen Industrieinteressen ablehnt, sind real. In Europa könnte unter dem Einfluss von aggressiver werdenden Bauern auch noch die eine oder andere Regierung umfallen. Nur in Deutschland, dessen Regierung und Industrie wie niemand anders Druck für dieses Abkommen machen, ist es weitgehend ruhig. Eine mehrstündige Blockade des Futtermittel-Verladehafens Brake/Niedersachsen durch die Bauern von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und Robin Wood war bisher das einzige, was passiert ist. Mercosur ist auch Thema der Bauernproteste, die neben Deutschland auch in den Niederlanden und Frankreich immer massiver werden. Die meisten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vermeiden allerdings konsequent eine ökonomische Analyse dieses Abkommens und der dahinterstehenden Interessen und beschränken sich auf die Forderung nach Nachverhandlungen mit dem Ziel eines eher symbolischen "wirksamen und durchsetzbaren" Nachhaltigkeitskapitels.

Auch wenn die Meinungsführer der deutschen Öffentlichkeit, auch der Zivilgesellschaft, das offenbar extrem unangenehm finden: wir werden nicht mehr lange darum herumkommen, über das sehr spezielle deutsche Wirtschaftsmodell zu reden und es zu ändern. Ein Land, das ernsthaft glaubt, wirtschaftlich davon abhängig zu sein, immer höhere Exportüberschüsse aufzutürmen, damit unausweichlich anderswo Handelsbilanzdefizite zu verursachen, und dafür mit immer mehr Freihandelsabkommen weltweit Marktöffnungen zu erzwingen, wird früher oder später vom Rest der Welt die rote Karte gezeigt bekommen. Es wird zu erheblichen wirtschaftlichen Verwerfungen kommen, wenn Deutschland nicht von selbst zu dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht findet, zu dem uns eigentlich das Stabilitätsgesetz von 1967 verpflichtet. Auf eines können wir allerdings bereits heute wetten: Schuld an Rezessionen hierzulande durch Exportrückgänge werden auf jeden Fall "die Anderen" sein, aber auf gar keinen Fall die deutsche Politik und Wirtschaft. Bis dahin läuft Deutschlands und damit Europas Außenwirtschaftspolitik weiterhin auf Autopilot: noch mehr Globalisierung, noch mehr Marktöffnungen, noch mehr exportieren, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Solange wie möglich.


Der Autor ist Geschäftsführer des Forums Umwelt & Entwicklung.


Anmerkungen:

(1) https://europa.eu/rapid/pressrelease_IP-06-1303_en.htm; das Forum Umwelt & Entwicklung hat die Strategie kommentiert:
https://www.forumue.de/global-europe-die-neue-eu-handelspolitik-im-wahn-der-wettbewerbsfaehigkeit/.

(2) https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ttip-und-freihandel/sigmar-gabriel-erklaert-freihandelsabkommen-ttip-fuer-tot-14419413.html.

(3) https://www.baenegocios.com/economia-finanzas/Advierten-que-la-firma-de-un-TLC-entre-Mercosur-y-UE-afectaria-el-empleo-20171227-0088.html.

(4) https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/kritik-an-deutscher-wirtschaftsbilanz-warum-ein-hoher-exportueberschuss-zum-problem-werden-kann/19697406.html.

(5) https://www.sueddeutsche.de/politik/mercosur-freihandel-oesterreich-1.4607098.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 4/2019, Seite 25 - 27
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2020

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