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INTERVIEW/055: Irland - Träume, Wünsche, Taten ...    Prof. Colin Harvey im Gespräch (SB)


Interview mit dem Juraprofessor und Menschenrechtsaktivisten Colin Harvey am 8. Januar 2020 in Belfast


Nirgendwo hat der Brexit, der am 31. Januar 2020 vollzogen wird, mehr Probleme aufgeworfen als in Nordirland. In der einstigen Unruheprovinz hat beim Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 eine Mehrheit der Wähler für den Verbleib in der EU votiert. Gebildet wurde diese Mehrheit aus katholischen Nationalisten, die am Langzeitziel der Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik festhalten, und den liberalen Teilen der Gemeinde der protestantischen Unionisten, die sich um wirtschaftliche Nachteile und neue Gewaltausbrüche infolge des EU-Austritts des Vereinigten Königreichs sorgen.

Im Vorfeld der Brexit-Abstimmung hat sich die größte protestantische Gruppierung, die Democratic Unionist Party (DUP), für den EU-Austritt stark gemacht und dabei Geldbeträge in sechsstelliger Höhe aus dubiosen Quellen für politische Werbung ausgegeben. Als Premierministerin Theresa May bei den britischen Unterhauswahlen im Frühjahr 2017 die parlamentarische Mehrheit der Konservativen verspielte, sprangen die zehn DUP-Abgeordneten in die Bresche. Doch der Preis für die Unterstützung der DUP sollte sich als extrem hoch erweisen. Der Provinzverein protestantischer Fundamentalisten hat aus Angst, die neue Regelung könnte zu einer Schwächung der Verbindung zwischen Nordirland und Großbritannien führen, mehrmals eine mögliche Einigung Londons mit Brüssel torpediert und damit einen Erfolg der Brexit-Verhandlungen verhindert.

Erst mit dem Rücktritt der glücklosen May und der Wahl Boris Johnsons zum neuen Premierminister und Tory-Chef im vergangenen Sommer kam Bewegung in die festgefahrene Situation. Bei einem Treffen in Wirral nahe Liverpool im November einigte sich Johnson mit dem irischen Premierminister Leo Varadkar darauf, daß die Kontrollen an der künftigen Handelsgrenze zwischen EU und Nordirland beiderseits der Irischen See, also an den See- und Flughäfen, erfolgen werden, damit weiterhin die Landgrenze auf der grünen Insel unsichtbar bleibt. Damit ging eine wichtige Forderung von Dublin und Brüssel, die eine Gefährdung des 1998 mit dem Karfreitagsabkommen erzielten Friedens in Nordirland vermeiden wollten, in Erfüllung. Die Empörung der DUP über den vermeintlichen "Verrat" an Nordirlands Protestanten konnte Johnson absolut gleichgültig sein, nachdem er bei den Unterhauswahlen im vergangenen Dezember eine Mehrheit für die Tories von mehr als 80 Sitzen herausgeholt hatte.

Doch der Brexit-Streit hat die Innenpolitik Nordirlands nachhaltig verändert. Die Nationalisten haben das leidenschaftliche Engagement der DUP für den Brexit als eine Absage der protestantischen Hardliner an die politischen Verhältnisse, wie sie im Karfreitagsabkommen vorgeschrieben sind, interpretiert. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die demonstrative Nichtbereitschaft der DUP, mit Dublin zur Linderung der zu erwartenden Brexit-Probleme zusammenzuarbeiten, und durch ihre demonstrative Weigerung, ein Gesetz zur Gleichstellung der gälischen Sprache in Nordirland verabschieden zu lassen. Die Kontroverse um dieses Thema hatte Anfang 2017 zum Scheitern der interkonfessionellen Autonomieregierung in Belfast zwischen DUP und der nationalistischen Partei Sinn Féin geführt. Vor diesem Hintergrund des politischen Stillstands und der Brexit-Problematik wird nicht nur in Nordirland, sondern auch in der Republik der Ruf nach einer Beendigung der Teilung der Insel immer lauter. Zu den Wortführern der neuen Wiedervereinigungsbewegung gehört Professor Colin Harvey, der an der Queen's University in Belfast Jura lehrt und international hohes Ansehen als Menschenrechtskoryphäe genießt. Am 8. Januar sprach der Schattenblick mit Prof. Harvey an seinem Arbeitsplatz über den Brexit und dessen anhaltenden Auswirkungen in Irland.


Außenansicht des aus rotem Backstein im neogotischen Stil gebauten Lanyon Building aus dem Jahr 1849 - Foto: © 2020 by Schattenblick

Die 1845 gegründete Queen's Universität zu Belfast
Foto: © 2020 by Schattenblick

Schattenblick: Wie kam es dazu, Professor Harvey, daß Sie ein solch exponiertes Profil in der Debatte um die Wiedervereinigung Irlands erlangten?

Colin Harvey: Leitstern sowohl meiner jahrelangen Arbeit als Akademiker und als auch meiner zivilgesellschaftlichen Aktivitäten außerhalb des Hochschulbetriebs sind stets die Menschenrechte und die Frage der Gleichberechtigung gewesen. Politisch war ich in den beiden letzten Jahrzehnten sehr stark mit Wegen zur Schaffung einer Menschenrechtscharta und damit der Einlösung eines der wichtigsten Versprechen des Karfreitagsabkommens von 1998, das bis heute nicht erfüllt worden ist, beschäftigt.

Das historische Votum einer Mehrheit der an der Volksbefragung im Juni 2016 beteiligten Wähler des Vereinigten Königreichs für den Austritt aus der Europäischen Union hat mich dazu veranlaßt, mich besonders intensiv mit dem Brexit und dessen vielfältigen Auswirkungen, insbesondere auf die Rechte der Menschen in Nordirland, zu befassen. Eine der wichtigsten Folgen des Brexits ist der Umstand, daß seit dreieinhalb Jahren die Menschen in Irland, im Norden wie im Süden, verstärkt und offen über die völkerrechtliche Ordnung auf der Insel diskutieren. Das hat damit zu tun, daß im Augenblick des formellen Vollzugs des Brexits, der für den 31. Januar 2020 vereinbart ist, die Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden zur Außengrenze der EU wird. Aus Rücksicht auf das Karfreitagsabkommen, das 30 Jahre Bürgerkrieg beendete, beharrten Dublin und Brüssel bei den Brexit-Verhandlungen mit London darauf, daß die innerirische Grenze weiterhin "unsichtbar" bleiben sollte. 2017 hat der Europäische Rat offiziell erklärt, daß Nordirland im Falle der Wiedervereinigung mit dem Süden der Insel selbstverständlich und sofort Teil der EU wird.

Vor diesem Hintergrund erscheint mir ein Dialog über die Zukunft Irlands und das Verhältnis von Nord und Süd dringend geboten, nicht zuletzt, damit man in Irland bei der Vorbereitung einer Volksbefragung über die Wiedervereinigung jenen schweren Fehler vermeidet, den die EU-Gegner und -Befürworter in Großbritannien bei der Brexit-Abstimmung gemacht haben. Die Briten haben es nämlich versäumt, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was der Brexit genau beinhalten sollte, und streiten sich seit dem Votum für den Austritt über Form und Inhalt des Ganzen aufs Heftigste.

Zu einer offenen Debatte über die Wiedervereinigung Irlands, deren Eventualität im Karfreitagsabkommen ausdrücklich vorgesehen ist, gehört meines Erachtens selbstverständlich der Beitrag von Akademikern und Fachleuten aus allen Bereichen. Meine Arbeit auf dem Feld der Menschenrechte hatte stets politische Implikationen und floß deshalb in die öffentliche Debatte ein. Meine Vorträge und Studien über das Szenario der Wiedervereinigung Irlands haben in den letzten zwei, drei Jahren natürlich erhöhte Aufmerksamkeit erfahren, weil das Thema insbesondere in Nordirland zwischen pro-britischen Unionisten und irischen Nationalisten ein solch heißes Eisen ist.

SB: Sie gehörten zu den Initiatoren und Unterzeichnern jenes offenen Briefs, in dem sich 2017 rund 200 Führungspersönlichkeiten der nationalistischen Zivilgesellschaft Nordirlands an den irischen Premierminister Leo Varadkar wandten und diesen darum baten, daß Dublin den Norden bei den kommenden Brexit-Verhandlungen nicht im Stich lasse. Sie traten zudem bei der historischen Konferenz im Januar 2019 in der Waterfront Hall in Belfast über Wege zur Wiedervereinigung Irlands auf, an der sich rund 1500 Menschen beteiligten. Und Sie haben den Brief der Initiative Ireland's Future unterzeichnet, in dem Anfang November 2019 mehr als 1000 namhafte Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen in ganz Irland Varadkar dazu aufforderten, eine Bürgerversammlung einzuberufen, auf der zivilgesellschaftliche Vertreter alle Fragen der irischen Wiedervereinigung erörtern und Empfehlungen ausarbeiten sollten. Bitte erklären Sie uns, was diese Entwicklungen zu bedeuten haben.

CH: Der Brexit und Londons völlige Mißachtung des Votums einer Mehrheit der nordirischen Wähler für den Verbleib in der EU haben, um die Worte Varadkars zu benutzen, in Irland die "tektonischen Platten" in Bewegung versetzt und die nach 1998 fast in Vergessenheit geratene Frage der Wiedervereinigung Irlands neu entfacht - insbesondere im Norden, aber auch im Süden. An dieser Debatte beteiligen sich diverse Persönlichkeiten, Parteien und Interessensvereinigungen, und ich leiste als Hochschullehrer meinen bescheidenen Beitrag dazu. Ich habe mich gefreut, besagte offene Briefe mitunterzeichnen sowie auf der Konferenz in der Waterfront Hall eine Rede halten zu dürfen. Als Organisationsmitglied von Irland's Future bin ich zudem letztes Jahr auf zwei weiteren Versammlungen zum Thema Wiedervereinigung aufgetreten - die eine im nordirischen Newry, wo man wegen der Nähe zur Grenze negative Auswirkungen des Brexit befürchtet, die andere in Croke Park, dem Stadion und Hauptquartier des Verbands des gälischen Fußballs und des Hurlings in Dublin.

Bei Irland's Future geht es darum, die notwendigen Veränderungen - verfassungsmäßige, rechtliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche und so weiter -, welche die Wiedervereinigung Irlands mit sich bringen wird, zu gestalten, um nicht von den Geschehnissen überrollt zu werden. Ich halte die Initiative für zeitgemäß und konstruktiv und freue mich deshalb, mich daran beteiligen zu können. Ich denke schon, daß die Debatte um die Beendigung der Teilung Irlands unvermeidlich ist, weshalb so viele Stimmen wie möglich - von nationalistischer als auch von unionistischer Seite - Gehör finden sollten.

Im Rahmen meiner eigenen Beteiligung an der Debatte habe ich zusammen mit dem Rechtsanwalt Mark Bassett im Auftrag der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken im EU-Parlament die Studie "The EU and Irish Unity - Planning and Preparing for Constitutional Change in Ireland" erstellt und Anfang Oktober in Strasbourg präsentiert.


Preisgekrönter Neubau mit viel Glas und stilgerechtem roten Backstein - Foto: © 2020 by Schattenblick

Der Main Site Tower, brandneuer Sitz der Law School der Belfaster Queen's University
Foto: © 2020 by Schattenblick

SB: Doch Ihr Einsatz ist nicht überall auf Gegenliebe gestoßen. In der Presse hieß es, Vertreter des protestantischen Oranierordens hätten sich bei der Leitung der Queen's University über Ihr politisches Engagement beschwert und die Erteilung einer Rüge verlangt.

CH: Solche Reaktionen seitens des unionistischen Establishments sind zu erwarten, wenn man als Mitglied der gesellschaftlichen Elite in Nordirland die Trommel für die Wiedervereinigung mit der Republik rührt. Als jedoch der Gegenwind - Drohungen loyalistischer Paramilitärs in den sozialen Medien, Intrigen unionistischer Politiker gegen meiner Person - zu heftig wurde, ging ich Ende vergangenen Jahres mit der Geschichte an die Presse. Der Vorstoß hat für eine Beruhigung der Lage gesorgt - jedenfalls nach außen hin. Doch bei den loyalistischen Paramilitärs, die in der Vergangenheit vor Morden an Menschenrechtsanwälten nicht zurückschreckten, kann man niemals sicher sein.

Ich möchte die Episode nicht überbewerten. Viele Menschen, insbesondere Frauen, erleben in den sozialen Medien weit schlimmere Anfeindungen. Nichtsdestotrotz zeigt die Empörung mancher Unionisten über die öffentliche Erörterung der Frage der Wiedervereinigung Irlands, daß sich diese mehr als zwanzig Jahre später immer noch nicht so recht mit dem Karfreitagsabkommen abgefunden haben. Schließlich schreibt das Vertragswerk ausdrücklich vor, daß das Streben nach dem Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich und jenes nach einer Beendigung der Teilung Irlands gleichermaßen legitime politische Ziele sind, solange sie ausschließlich mit friedlichen politischen Mitteln verfolgt werden. Viele Unionisten glauben, das Karfreitagsabkommen bedeute, daß sich die nationalistische Bevölkerung in Nordirland für immer mit der verfassungsmäßigen Bindung an Großbritannien abzufinden habe. Das stimmt ganz und gar nicht. Das Gegenteil ist der Fall.

SB: Manche Völkerrechtler vertreten die Ansicht, das Karfreitagsabkommen habe die verfassungsmäßige Stellung Nordirlands innerhalb des Vereinigten Königreichs durch den ausdrücklichen Verweis auf die Eventualität der Wiedervereinigung Irlands relativiert und daß mit dem Brexit - sogar gegen den Wunsch der Mehrheit der nordirischen Bürger - der britische Staat vertragsbrüchig geworden sei. Was sagen Sie dazu?

CH: Im Karfreitagsabkommen steht eindeutig, daß jede Veränderung der verfassungsmäßigen Stellung Nordirlands nur mit der Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung erfolgen darf. Vor diesem Hintergrund Nordirland gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerungsmehrheit aus der EU herauszunehmen stellt zweifelsohne einen schweren und unverantwortlichen Eingriff in das ausgeklügelte zwischenstaatliche Arrangement, das mit dem Friedensvertrag von 1998 geschaffen worden war, dar. Im Abkommen selbst steht das Prinzip der Zustimmung seitens der Bevölkerungsmehrheit in direktem Bezug mit der Frage der Wiedervereinigung. Solange eine Mehrheit sie ablehnt, bleibt Nordirland im Vereinigten Königreich. Sobald jedoch aufgrund demographischer und sonstiger Veränderungen eine Mehrheit sie befürwortet, hat das britische Nordirlandministerium eine entsprechende Volksbefragung abzuhalten, um den Schritt einzuleiten und völkerrechtlich zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund hat das Ansinnen Londons, den Brexit ohne jede Rücksicht auf die nordirischen Befindlichkeiten durchzuziehen, viele Menschen in der Provinz schockiert und nicht wenige liberale Unionisten, die ansonsten nicht viel über eine Wiedervereinigung nachgedacht hätten, zum Umdenken veranlaßt. Dies zeigt auch die hohe Anzahl von nordirischen Protestanten, die seit dem Brexit-Votum ihr Recht auf die irische Staatsbürgerschaft in Anspruch genommen haben, um an einen EU-Reisepaß zu kommen.

Angesichts der zunehmenden Debatte in Nordirland über die Frage der irischen Wiedervereinigung habe ich Ende November den 22. Mai 2023 - genau 25 Jahre nach der Annahme des Karfreitagsabkommens durch getrennte Volksbefragungen in Nord- und Südirland - als Datum vorgeschlagen, an dem die Wähler in beiden Teilen der Insel über die Beendigung der Teilung entscheiden sollten. Es hatte mich zunehmend frustriert, zu Veranstaltungen zu gehen, bei denen die Durchführung einer sogenannten "border poll" gefordert und die Notwendigkeit entsprechender Vorbereitungen diskutiert, das Ganze jedoch am Ende auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wurde. Ohne einen Zeitrahmen wird meines Erachtens nur endlos geredet, ohne dem eigentlichen Ziel näherzukommen.

Der Brexit macht das friedliche Zusammenleben in Irland extrem kompliziert. Den Iren droht eine Trennung ihrer Insel durch die EU-Außengrenze. Die irische und die britische Staatsbürgerschaft sind dann nicht mehr austauschbar und gleichrangig. Die eine geht zusätzlich mit der EU-Bürgerschaft einher, die andere nicht mehr. Brexit spült viele der politischen Annahmen, die dem Karfreitagsabkommen zugrunde lagen und seitdem den gesellschaftlichen Frieden untermauert hatten, einfach fort. Daher glaube ich, daß die kommenden Jahren in den anglo-irischen Beziehungen durch große Schwierigkeiten und Herausforderungen gekennzeichnet sein werden.

SB: Bekanntlich hat die Democratic Unionist Party (DUP) als fast einzige Partei Nordirlands das Karfreitagsabkommen nicht unterzeichnet. Damals hat der DUP-Gründer, der Pfarrer Ian Paisley, das Vertragswerk als "Verrat" an der protestantischen Bevölkerung Nordirlands verteufelt. Als sich jedoch die Irisch-Republikanische Armee (IRA) in den Nuller-Jahren von ihrem Waffenarsenal trennte und den bewaffneten Kampf für beendet erklärte, willigte die DUP - inzwischen zur größten protestantischen Partei geworden - in eine Koalitionsregierung in Belfast an der Seite der IRA-nahen Sinn Féin ein. Was sagen Sie zu der These, daß der auffällige Einsatz der DUP für den Brexit - zum Teil sogar in der "harten" Variante mit befestigten Grenzanlagen von Derry bis Dundalk - dem Wunsch entspringt, das Karfreitagsabkommen auszuhebeln und so weit wie möglich rückgängig zu machen?

CH: Viele Menschen haben die damalige Ablehnung des Karfreitagsabkommens durch die DUP schlichtweg vergessen. In loyalistischen und unionistischen Kreisen gibt es nicht wenige Leute, die den Friedensvertrag von 1998 bis heute nicht akzeptieren. Arlene Foster, heute DUP-Vorsitzende, hat damals wegen ihrer Ablehnung des Karfreitagsabkommens die Ulster Unionist Party verlassen und UUP-Chef David Trimble die Gefolgschaft aufgekündigt. Sie war nicht die einzige. Auch Jeffrey Donaldson, heute prominenter DUP-Abgeordneter im britischen Unterhaus, hat damals mit Foster zusammen denselben Schritt vollzogen. Von daher gibt es viele Unionisten, die im Brexit ein Mittel zur Aushöhlung des Karfreitagsabkommens sehen und ihn deshalb begrüßen. Ich bin überzeugt, daß es Unionisten gibt - einen harten Kern wohlgemerkt -, die sich nichts sehnlicher als die Errichtung einer harten Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland wünschen.

Meiner Einschätzung nach war das Verhalten der DUP in der Brexit-Frage ein schwerer strategischer Fehler, der dem Unionismus in Nordirland ein Bärendienst erwiesen hat. Durch ihr umstrittenes politisches Bündnis mit den harten Brexiteers bei den regierenden Konservativen in Großbritannien hat die DUP viele liberale Unionisten in die Arme derjenigen getrieben, die entweder wie Sinn Féin und die Social Democratic Labour Party die Wiedervereinigung Irlands anstreben oder wie die überkonfessionelle Alliance Party für einen Sonderstatus für Nordirland zwischen Großbritannien und der EU eintreten. Wenn es das Ziel der DUP gewesen ist, die "teuere Union" zwischen Nordirland und Großbritannien zu schützen und zu bewahren, dann haben die Männer und Frauen um Arlene Foster und Nigel Dodds seit 2016 einen katastrophal kontraproduktiven Kurs verfolgt. Dies geht aus den Ergebnissen der Wahlen der letzten drei Jahre in Nordirland zur Regionalversammlung in Belfast, zum britischen Unterhaus sowie für das EU-Parlament eindeutig hervor. Bei der Unterhauswahl im letzten Dezember, bei der Boris Johnson eine satte Mehrheit für die britischen Konservativen erringen konnte, haben die Unionisten in Nordirland zum ersten Mal seit der Teilung Irlands weniger Sitze erobert als die Nationalisten.

SB: Also würden Sie der These zustimmen, daß der Brexit in Nordirland die Sache der Unionisten geschwächt und die der Nationalisten gestärkt hat?

CH: Absolut. Der Brexit hat die Debatte um eine Beendigung der irischen Teilung neu entfacht. In einem beispiellosen Anflug von Arroganz und Hybris hat die DUP seit 2016 den Willen der Anti-Brexit-Mehrheit in Nordirland schlichtweg ignoriert und sich damit selbst ins Abseits manövriert. Die meisten Nordiren sind strikt dagegen, daß sie am Ende dieses Monats nicht mehr in der EU leben und deren Vorzüge nicht länger genießen sollen. In Schottland hatten die Menschen 2016 sogar mit Zweidrittelmehrheit für den Verbleib in der EU votiert. Auch die Schotten werden gegen ihren Willen aus der EU herausgerissen, weshalb dort die Forderung nach Unabhängigkeit und der Auflösung des Vereinigten Königreichs mit England immer lauter wird. Deshalb will die Autonomieregierung in Edinburgh um Nicola Sturgeon 2021 eine erneute Volksbefragung über die schottische Unabhängigkeit durchführen.

Natürlich hinge der Ausgang einer solchen Befragung in Schottland wie auch eines "border poll" in Nordirland davon ab, welches der beiden Gebilde, Vereinigtes Königreich oder EU, die Brexit-Krise besser meistert. So wie ich die Lage einschätze, werden die Menschen in Nordirland eher in Richtung Wiedervereinigung mit der Republik Irland und damit zur vollen EU-Mitgliedschaft tendieren als sich mit einem Sonderstatus abzufinden. Natürlich können wir nicht mit Sicherheit prognostizieren, wie sich die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU über die künftigen Handelsbeziehungen gestalten werden. Dennoch darf man nicht außer Acht lassen, daß die EU ein sehr starkes geostrategisches Eigeninteresse am wirtschaftlichen Erfolg des Mitgliedsstaats Irland auch nach dem Brexit haben wird. Ich gehe davon aus, daß eine Fortsetzung des wirtschaftlichen Ungleichgewichts zwischen einer boomenden Republik auf der einen Seite und einem an Subventionen aus dem britischen Staatshaushalt hängenden, konjunkturschwachen Nordirland auf Dauer nicht tragbar sein und daß dieser Zustand unweigerlich sein Ende in der Wiedervereinigung finden wird.

Als Irland 1922 getrennt wurde, dann nicht zuletzt deshalb, weil die Protestanten im industrialisierten, wohlhabenden Norden nicht an einem armen Süden mit einer überwältigend katholischen Mehrheit gekoppelt werden wollten. Inzwischen haben sich die Verhältnisse grundlegend verändert. In der Republik, wo inzwischen die Abtreibung nicht mehr unter Strafe steht und die Ehe für alle legal ist, hat der katholische Klerus kaum noch etwas zu melden. Die Republik Irland hat Nordirland in Sachen Industrialisierung und Wirtschaftsleistung längst weit hinter sich gelassen. Also fallen die zwei wichtigsten Argumente, die damals zur Teilung führten, flach. Zwar hegen viele Protestanten aus historischen Gründen Sympathie für Großbritannien, aber es läßt sich nicht leugnen, daß auch in deren Kreisen die Republik Irland an Attraktivität gewinnt und dadurch die Diskussion um eine mögliche Wiedervereinigung zunimmt.


Prof. Harvey im gläsernen Universitätsturm mit den Dächern von Belfast im Hintergrund - Foto: © 2020 by Schattenblick

Professor Colin Harvey
Foto: © 2020 by Schattenblick

SB: Wie zufrieden sind Sie mit dem Stand der Diskussion auf nationalistischer Seite nördlich und südlich der Grenze um die Wiedervereinigung?

CH: Die verschiedenen neuen zivilgesellschaftlichen Initiativen Ireland's Future und #think32 haben den etablierten politischen Parteien den Rang abgelaufen und führen inzwischen die Debatte an. Es sind die einfachen engagierten Bürger, die den Takt vorgeben, und nicht mehr die gewählten Volksvertreter. Ich muß die Organisatoren und Anführer solcher Initiativen besonders in Nordirland loben. Als prominenter Vertreter des protestantischen Establishments in Nordirland gehört Mut dazu, sich offen zu einer Auflösung der Union mit Großbritannien und zur Wiedervereinigung Irlands zu bekennen. Da bringt man nicht nur unionistische Politiker gegen sich auf, auch gewaltbereite loyalistische Paramilitärs werden auf einen aufmerksam. Ich denke, daß irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft die weise Voraussicht dieser Menschen allgemein anerkannt wird. Bis dahin dürften auch die Berufspolitiker beiderseits der Grenze die Zeichen der Zeit erkannt und ihr Handeln danach ausgerichtet haben.

Jedenfalls ist es die Zivilgesellschaft, die in der Sache der Wiedervereinigung vorausgeht und ihr jetzt schon öffentlichkeitswirksam den Boden bereitet. Das begrüße ich sehr. Im Gegensatz dazu irritiert mich das verhaltene Agieren der politischen Klasse in der Republik erheblich. Immer wieder hat Premierminister Varadkar die Wiedervereinigungsdiskussion als "kontraproduktiv" und "toxisch" bezeichnet, als dürfe man öffentlich nichts besprechen, was die Unionisten in Nordirland irgendwie beunruhigen könnte. Damit versucht Varadkar, den Nationalisten ihr legitimes und explizites Recht nach dem Karfreitagsabkommen, nämlich friedlich für ein wiedervereinigtes Irland zu werben und daraufhin zuzuarbeiten, einen Riegel vorzuschieben. Doch das steht ihm überhaupt nicht zu. An der Stelle ist seine Position vollkommen antidemokratisch. Man muß sich sehr über die Dubliner Regierung wundern. Einerseits werben ihre Diplomaten in den Hauptstädten des europäischen Festlands in der Brexit-Frage für die unbedingte Einhaltung des Karfreitagsabkommens durch Großbritannien, andererseits maßt sie es sich unzulässig an, diejenigen in Nordirland zu maßregeln, die ihre Rechte nach besagtem zwischenstaatlichen Vertrag ausüben wollen.

Auch wenn Außenminister Simon Coveney über Weihnachten die Kritik Dublins an Wiedervereinigungsbefürwortern in Nordirland leicht abgeschwächt hat, kann ich darin trotzdem nichts als die Fortsetzung der jahrelangen Weigerung des politischen Establishments in der Republik sehen, seiner Verantwortung für die Nationalisten nördlich der Grenze gerecht zu werden. Da drängt sich bei mir die Frage auf, ob diese Leute jemals das Karfreitagsabkommen gelesen und seine Bedeutung für das Verhältnis beider Teile Irlands tatsächlich verstanden haben.

SB: Doch das Argument, das Varadkar und Oppositionsführer Mícheál Martin von der Partei Fianna Fáil mit ihrer demonstrativen Absage an die Forderung nach einer baldigen Volksbefragung über die Wiedervereinigung stets vortragen, lautet, man dürfe die eine Million Protestanten in Nordirland nicht überfordern, weil dies den gesellschaftlichen Frieden gefährden könnte; man müsse zunächst einmal den Brexit in all seiner Kompliziertheit bewältigen, bevor man sich der Frage der Wiedervereinigung Irlands widmet.

CH: Das stimmt natürlich, kann jedoch nicht als Argument gelten, eine organisch gewachsene Diskussion um die Wiedervereinigung Irlands ins Abseits zu verbannen. Schließlich war es Varadkar selbst, der mit Blick auf die völkerrechtliche Position Nordirlands vor dem Hintergrund des Brexits vieldeutig erklärt hat, daß die "tektonischen Platten in Bewegung geraten" seien.

SB: Allgemein herrscht im nationalistischen Lager in ganz Irland die Ansicht vor, daß Varadkar und Coveney die Brexit-Krise bisher besser als erwartet gemeistert und Irlands Einfluß bei den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien durchaus zur Geltung gebracht hätten. Stimmen Sie dem zu?

CH: Absolut. Zweifelsohne ist das diplomatische Geschick der irischen Regierung im Brexit-Streit mit Großbritannien beeindruckend gewesen. Man kann die großartige Arbeit, welche die Fine-Gael-Regierung und die Beamten im irischen Außenministerium geleistet haben, um das Protokoll über das Festhalten an einer "unsichtbaren" Grenze auf der Insel Irland in den Austrittsvertrag Großbritanniens mit der EU aufnehmen zu lassen und die restlichen 26 Noch-EU-Staaten auf die Linie Dublins zu bringen, nur lobend anerkennen. Diese einheitliche Front von Dublin, Brüssel und den anderen europäischen Hauptstädten London gegenüber war für Irland als Ganzes von großem strategischen Wert. Jeder Versuch der Briten, die Verhandlungspartner zu spalten und gegeneinander auszuspielen, konnte erfolgreich abgewehrt werden.

Die Vorbereitungen Dublins auf die verschiedenen Brexit-Szenarien war zudem vorbildlich. Keine Eventualität wurde übersehen oder bei der Planung ausgelassen. Das macht die Weigerung der beiden großen Parteien der Republik Irland, Fine Gael und Fianna Fáil, sich an der öffentliche Diskussion über die Wiedervereinigung zu beteiligen, so ärgerlich. Eigentlich verlangen die Nationalisten beiderseits der Grenze nichts anders, als daß sich Dublin auf die Eventualität einer Beendigung der Teilung einrichtet, die möglichen Gefahren und Risiken auflistet und entsprechende Papiere mit möglichen Szenarien erstellt und zur Debatte veröffentlicht. In den letzten 18 Monaten hat sich die Diskussion in Nordirland um den Verbleib im Vereinigten Königreich oder eine Wiedervereinigung mit der Republik wie ein Strohfeuer ausgebreitet. Das Thema ist in aller Munde. Da kann es sich Dublin nicht leisten, den Kopf einfach in den Sand zu stecken, denn die Diskussion wird nicht einfach aufhören. Sie wird im Gegenteil weiter zunehmen.

SB: Als der Schattenblick zur Jahreswende 2017/2018 ein Interview mit Linda Ervine, die seit Jahren mit wachsendem Erfolg im Skainos Centre an der mehrheitlich von protestantischen Arbeitern bewohnten Lower Newtownards Road in East Belfast die gälische Sprache unterrichtet, führte, berichtete sie, daß selbst in jener berühmt-berüchtigten Hochburg der Loyalisten die Frage "Wiedervereinigung mit dem Süden - ja oder nein?" kein Tabuthema mehr, sondern im Gegenteil Alltagsgespräch sei. Das hätte man vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten.

CH: Das zeigt nur, wie sehr der Brexit den völkerrechtlichen Status Nordirlands in Frage stellt. Vor diesem Hintergrund bin ich der Meinung, daß die Reaktion der einfachen Menschen beiderseits der irischen Grenze auf die Brexit-Umwälzungen sehr würdevoll und besonnen gewesen ist. Sie haben mit sinnvollen Vorschlägen und Lösungsansätzen auf die Probleme geantwortet, die ihnen der Brexit, ein überaus aggressiver Vorstoß seitens englischer Chauvinisten, aufgezwungen hat.

Varadkar und Martin behaupten, Dublin müsse Rücksicht auf die Ängste und Befindlichkeiten der Unionisten in Nordirland nehmen. Aber schauen Sie das Verhalten Londons an. Nehmen die Brexiteers in der britischen Regierung Rücksicht auf die Nationalisten in Nordirland oder auf die Verpflichtungen Londons nach dem Karfreitagsabkommen oder auf die Schotten, die mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib in der EU votierten? Kein Stück tun sie das.

Ich will die Ängste und Unsicherheiten von Teilen der protestantischen Bevölkerung Nordirlands in bezug auf die eventuelle Wiedervereinigung mit der Republik nicht leugnen. Sie existieren und zum Teil nicht unbegründet. Um so mehr sollten sie artikuliert und ausdiskutiert werden. In dem Zusammenhang geben sich die Initiatoren der laufenden Wiedervereinigungsdebatte auffällig Mühe, auf die Befindlichkeiten der protestantischen Gemeinde einzugehen und Konzepte zu erarbeiten, wie mögliche Kompromisse, die ein friedliches Zusammenleben in einem größeren gemeinsamen Staat in Irland ermöglichen, aussehen könnten. Niemand redet davon, nächste Woche ein Referendum abzuhalten, die Wiedervereinigung rasch über die Bühne zu bringen und damit basta! Statt dessen ist viel von Übergangsphasen, bürokratischen Wegen und Planung die Rede. Man bemüht sich, die ganze Diskussion so unaufgeregt und nüchtern, man könnte fast langweilig sagen, zu gestalten.


Das im neoklassischen Stil gebaute, 1932 eröffnete Parlamentsgebäude - Foto: © 2020 by Schattenblick

Stormont, Sitz des nordirischen Regionalparlaments am Rande von Belfast
Foto: © 2020 by Schattenblick

SB: Noch vor seiner Hinrichtung durch das britische Militär wegen Teilnahme am Osteraufstand 1916 hat der große sozialistische Vordenker James Connolly in seinen Schriften vor einem "Karneval der Reaktion" auf beiden Seiten der Grenze gewarnt, sollte Irland geteilt werden. Genauso ist es ab 1922 gekommen mit einer von der katholischen Kirche dominierten Republik im Süden und einem protestantisch-unionistischen Einheitsstaat in Norden, der schließlich 1968 an seinen inneren Widersprüchen aufgrund der rechtlichen Benachteiligung der katholisch-nationalistischen Minderheit gescheitert ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie man verhindern kann, daß im wiedervereinigten Irland nicht genau jene konservativen Kräfte, die im Norden und Süden jahrzehntelang das Sagen hatten, weiterhin die Politik bestimmen?

Häufig wird der wirtschaftliche Erfolg der Republik gelobt und so getan, als müsse sich Nordirland ihr nur anschließen, um ökonomisch wieder zu gesunden. Doch in der Republik herrscht eine beschämende Obdachlosigkeit. Es gibt eine gravierende Wohnungsnot und auch das Gesundheitssystem befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Wie kann man also dafür sorgen, daß im wiedervereinigten Irland "alle Kinder der Nation gleichmäßig geschätzt werden", wie es in der Unabhängigkeitserklärung von 1916 heißt, und die Gesellschaft nicht aufgrund einer neoliberalen Wirtschaftsordnung weiter von Armut und Ausgrenzung geprägt wird?

CH: Das ist eine gute Frage, die den Fokus in die Richtung lenkt, die meiner Meinung nach die Diskussion um die Wiedervereinigung Irlands nehmen muß. Die vermögenden Kreise, die im Süden hinter Fine Gael und Fianna Fáil und im Norden hinter der DUP stehen, wären mit einer Wiedervereinigung vollkommen zufrieden, die sich auf einige völkerrechtliche Veränderungen beschränkt, den politischen und wirtschaftlichen Status quo jedoch weitgehend unangetastet läßt. Für sie müßte die Wiedervereinigung auf nichts mehr als eine Übertragung der politischen Verantwortung für Nordirland von London nach Dublin hinauslaufen. Doch aus den Gesprächen, die ich in letzter Zeit mit vielen Menschen geführt habe, bin ich überzeugt, daß sich die meisten Iren eine weitergehende, grundlegendere Veränderung, quasi einen Neubeginn, wünschen, bei dem viele der bisherigen Mängel Nordirlands und der Republik wenn nicht gänzlich aufgehoben, so zumindest ernsthaft angegangen werden.

Viele Teilnehmer an der bisherigen Diskussion um die Wiedervereinigung sind durch ihr Interesse an sozialer Gerechtigkeit motiviert. Meine Hoffnung ist, daß solche Menschen die Diskussion weiterhin bestimmen und sich am Ende schließlich durchsetzen. Gleichzeitig gibt es besonders in der Republik Irland auch verschiedene Menschenrechts- und zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich in Reaktion auf den früheren Bürgerkrieg scheuen, sich mit der "nationalen Frage" zu befassen. Das halte ich für einen Fehler, denn die Wiedervereinigung ist unvermeidlich und je mehr sich solche Aktivisten in Bereichen wie Gesundheit, Wohnungsnot et cetera an der Diskussion darüber beteiligen, um so mehr können sie das neue Irland in ihrem Sinne gestalten. Die irische Linke darf die Umsetzung der Wiedervereinigung nicht den konservativen Kräften überlassen, weil es dann zu keiner positiven, progressiven sozioökonomischen Veränderung in Irland kommen wird.

Die Wiedervereinigung soll Irland grundlegend transformieren und darf nicht auf einige kosmetische Veränderungen beschränkt bleiben. Ein Feld, das ich seit Jahren beackere, ist dasjenige der sozialen und wirtschaftlichen Rechte. In meiner früheren Funktion als Mitglied der nordirischen Menschenrechtskommission habe ich am Entwurf einer Menschenrechtscharta für Nordirland, welche die sozioökonomischen Rechte der ärmeren Bevölkerungschichten stärken bzw. schützen soll, gearbeitet. Daher bin ich der Meinung, daß die Diskussion um die Wiedervereinigung Irlands die Position der Eliten in der Republik mindestens so stark in Frage stellen soll wie sie es für das unionistische Establishment im Norden tut. Nicht nur Nordirland muß aus dem Prozeß grundlegend reformiert hervorgehen, sondern auch der Süden und damit die ganze Insel. Das wäre jedenfalls mein Ziel. Wie Sie mit Ihrer Frage angedeutet haben, gibt es in der Republik Kräfte, die mit leichten Änderungen der von Éamon de Valera entworfenen irischen Verfassung von 1937 und damit praktisch mit der einfachen Übertragung der völkerrechtlichen Kontrolle über Nordirland von London nach Dublin vollkommen bedient wären. Das darf nicht passieren.

SB: Damit kommen wir zu der Frage, wie ein wiedervereinigtes Irland aussehen könnte und welche staatsrechtliche Form es annehmen sollte. Wäre ein koföderaler Staat bestehend aus der Republik im Süden - mit Regierung und Parlament in Dublin - mit dem Norden - samt bestehender Autonomieverwaltung und Regionalversammlung in Belfast - nicht einfach eine Fortsetzung der Teilung mit anderen Mitteln? Bedenkt man das bereits vielfach beklagte politische und wirtschaftliche Übergewicht der Millionenstadt Dublin dem Rest der Republik gegenüber, wäre für Irland eine neue Bundesrepublik auf der Grundlage der historischen Provinzen Leinster, Ulster, Munster und Connacht mit weitreichender Automie für alle vier und mit Dublin weiterhin als Hauptstadt - ähnlich dem Entwurf Sinn Féins mit Namen "Éire Nua" ("Neues Irland") aus den siebziger Jahren - nicht die bessere Lösung?

CH: Ich denke, es stehen verschiedene Optionen für das neue Staatsgebilde zur Auswahl, darunter Einheitsstaat, Konföderation aus Nordirland und der Republik oder Bundesrepublik mit einer Dezentralisierung und einer ordnungspolitischen Aufwertung der historischen vier Provinzen zu Ländern ähnlich dem deutschen Modell. Mit der Frage der konkreten Ausgestaltung der Wiedervereinigung müssen sich die Teilnehmer an der laufenden Diskussion auseinandersetzen.


Der frühere Wohnsitz des Duke of Leinster, Vorbild für das Weiße Haus in Washington - Foto: © 2020 by Schattenblick

Leinster House, Sitz des irischen Parlaments in Dublin
Foto: © 2020 by Schattenblick

SB: Haben Sie eine persönliche Präferenz?

CH: Für mich ist vor allem wichtig, daß die Debatte ausschließlich auf der Grundlage des Karfreitagsabkommens stattfindet. Ich sage das deshalb, weil ich der Meinung bin, daß der Vertrag gerade in bezug auf seine völkerrechtliche Bedeutung als Kompromißlösung auf dem Weg zur Beilegung des Dauerstreits zwischen Irland und Großbritannien einen höheren Stellenwert, als er ihn bisher genießt, verdient hat. Hinzu kommt, daß das Karfreitagsabkommen zwar in zwei getrennten Umfragen beiderseits der Grenze, aber dafür immerhin vom irischen Volk als ganzem am selben Tag mit großer Mehrheit angenommen wurde. Dieser Umstand darf niemals in Vergessenheit geraten oder heruntergespielt werden.

Was die Frage der Präferenzen in bezug auf die künftige Staatsform betrifft, so besteht mein Hauptanliegen darin, eine möglichst ergebnisoffene Diskussion über die Wiedervereinigung zu befördern, in die sich so viele Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft mit all ihren Ideen und Vorschlägen einbringen, ohne Angst zu haben, sie stießen damit auf Ablehnung oder taube Ohren. Von daher möchte ich meine persönlichen Vorlieben für mich behalten, denn ich möchte nicht den Eindruck aufkommen lassen, ich habe für alles die Lösung oder den passenden Entwurf bereits in der Tasche. Dem ist nicht so. Ich denke, daß die Art der Diskussion über die Zukunft Irlands und das Ausmaß an Respekt, den die verschiedenen Teilnehmer einander entgegenbringen, entscheidend für ein harmonisches Zusammenleben auf dieser Insel sein werden. Erst wenn die Debatte organisch wächst und gedeiht, kann dabei am Ende ein wiedervereinigtes Irland herauskommen, zu dem sich all seine Bürger bekennen und worauf alle stolz sein können. Ich ziehe ein ergebnisoffenes Vorgehen einer Lösung vor, die von Akademikern, Politikern und Technokraten ausgeklügelt und sozusagen von oben herab verordnet wird. Für mich ist am wichtigsten, daß in dem neuen Staat, egal welches Modell sich am Ende durchsetzt - ob Einheitsstaat, Konföderation oder Bundesrepublik -, die bürgerlichen und sozialen Rechte großgeschrieben werden.

SB: Also fordern Sie eine Menschenrechtscharta, wie sie im Karfreitagsabkommen vorgesehen war, jedoch bis heute nicht realisiert wurde?

CH: Nun, ein nicht unwesentlicher Grund für die politische Lähmung der nordirischen Institutionen, explizit der Regionalversammlung und der Autonomieregierung in Belfast, ist, daß wir bereits seit Jahren in der Provinz eine Krise in der Frage der Gleichberechtigung und der Menschenrechte haben. Wichtige, im Karfreitagsabkommen enthaltene Versprechen wie eine angemessene Aufarbeitung der Geschichte der "Troubles" und der vielen damit einhergegangenen ungelösten Mordfälle sowie ein Gesetz zur Gleichstellung der gälischen Sprache sind bis heute nicht eingelöst worden und zwar aufgrund einer Blockadehaltung der unionistischen Parteien. Sinn Féin hat sich Anfang 2017 nicht zuletzt deshalb aus der interkonfessionellen Koalitionsregierung zurückgezogen und damit die nordirischen Institutionen zum Kollaps gebracht, weil die katholisch-nationalistische Bevölkerung endgültig die Geduld mit dem selbstherrlichen, arroganten Benehmen der DUP verloren hatte. Deswegen sind die Menschenrechte und ihre Einhaltung in der Frage der Wiedervereinigung Irlands so wichtig. Im neuen Irland soll niemand aufgrund seiner Religion, Ethnizität, seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung benachteiligt werden. Die bestehende irische Verfassung von 1937 deckt den Bereich sozialer Gerechtigkeit absolut ungenügend ab. Auch deshalb erleben wir aktuell in der Republik schwere soziale Mißstände. Von daher muß dieser Mangel in einer neuen Verfassung für die ganze Insel behoben werden.

SB: Was sagen Sie den Menschen, die im Falle eines wiedervereinigten Irland eine erhebliche Schwächung der bereits bestehenden Republik und ihrer Errungenschaften einschließlich einer Aufgabe der bisherigen Nationalflagge der grün-weiß-orangenen Trikolore, der Nationalhymne "Amhrán na bhFiann" ("Soldatenlied") und eines Verzichts auf die bisherige militärische Neutralität durch einen NATO-Beitritt befürchten? Es gibt Leute, die eine Wiedervereinigung herbeisehnen, aber zugleich in Sorge sind, daß die Zugeständnisse an die Unionisten zu weit gehen könnten und daß die daraus resultierende Annäherung an Großbritannien die Unabhängigkeit Irlands gefährdete. Solche Leute zögen es vielleicht vor, mit der Wiedervereinigung einige Jahrzehnte zu warten, bis der Anteil der unionistischen Protestanten an der Bevölkerung in Nordirland gegenüber den nationalistischen Katholiken deutlich gesunken ist und man ihnen und ihrem Britentum gegenüber weit weniger Zugeständnisse machen müßte. Was erwidern Sie auf die Bedenken solcher Menschen?

CH: Ich kann verstehen, wenn die Verpflichtungen, die im Karfreitagsabkommen fest verankert sind, wie gegenseitiger Respekt der jeweiligen politischen und kulturellen Traditionen, Unbehagen in der Republik Irland verursachen. Dort stehen viele Menschen Manifestationen der protestantischen Kultur Nordirlands wie den Oraniermärschen nicht zuletzt deshalb ablehnend gegenüber, weil die Protestanten sie traditionell als demonstrativen Machtbeweis gegenüber den nordirischen Katholiken verstanden haben. Da fragen sich viele im Süden zu Recht, warum sie den Unionisten und den Logenbrüdern des Oranier-Ordens Respekt entgegenbringen sollen, solange diese nicht bereit sind, das den Katholiken in Nordirland gegenüber zu tun. Die Frage ist zweifelsohne berechtigt. Meine Antwort lautet, daß es sich für die nationalistischen Seite empfiehlt, die inzwischen eine deutliche Bevölkerungsmehrheit auf der ganzen Insel innehat, in der Diskussion um die Wiedervereinigung gegenüber den protestantischen Unionisten Größe zu zeigen und sich entsprechend zu verhalten.

Das neue Irland sollte eine Gesellschaft sein, in der Menschen mit einem Selbstverständnis als Briten ihren berechtigten Platz finden und ihre Kultur respektiert wird. Die Frage, wie weit die Republik gehen muß oder soll, um den Unionisten in einem neuen gemeinsamen Staat entgegenzukommen, ist aktuell in Irland Gegenstand einer lebhaften Debatte - siehe die jüngste Kontroverse um das Vorhaben der Dubliner Regierung, eine Gedenkfeier für die im Unabhängigkeitskrieg getöteten Angehörigen der früheren Royal Irish Constabulary (RIC), die damals als verlängerter Arm der britischen Besatzungsmacht fungierte, abzuhalten. Die öffentliche Aufregung um das Projekt war so heftig und so negativ, daß die Feier bis auf weiteres vertagt werden mußte, was eine schwere politische Blamage für Premierminister Varadkar, Justizminister Charley Flanagan und Kulturministerin Josepha Madigan war.

Gleichzeitig darf man sich als Bürger der Republik nicht anmaßen, bereits jetzt zu wissen, wie die Unionisten in einem neuen Irland ihre Rechte gewahrt sehen wollten oder mit welchen Zugeständnissen sie zufrieden oder unzufrieden wären. Ich denke, es gibt bei den Unionisten diverse Vorstellungen eines künftigen Modus vivendi in einem eventuellen neuen irischen Staat. Sie kämen bei den entsprechenden Gesprächen auf den Tisch und könnten dann ausdiskutiert werden. Letztes Jahr nahm ich an einer Bürgerversammlung in Derry zum Thema Wiedervereinigung teil. Ein Mitdiskutant, der sich als liberaler Unionist zu erkennen gab, erklärt frei heraus, in einem neuen Irland wäre für ihn eine Regionalversammlung und Autonomieregierung in Belfast völlig überflüssig; ihm würde vollkommen genügen, als gleichberechtigter Bürger mit geschützten Menschenrechten zu gelten. Erst wenn wir die öffentliche Diskussion soweit vorangebracht haben, daß Mitglieder der protestantischen Gemeinde in größerer Anzahl daran teilnehmen, werden wir überhaupt erfahren, wie sie sich ein wiedervereinigtes Irland vorstellen können und welche Forderungen sie an das neue Gemeinwesen hätten.

SB: Die Republik Irland hat eine starke Tradition der militärischen Neutralität. Viele Menschen im Süden möchten daran festhalten und befürchten, daß die Zugeständnisse an die Unionisten darauf hinausliefen, daß man deren Verbundenheit nicht nur mit der britischen Krone, sondern auch mit dem britischen Militär respektiere - was möglicherweise eine verstärkte sicherheitspolitische Zusammenarbeit Dublins mit London und Irlands mit der NATO mit sich brächte. Was sagen Sie den Menschen, denen das Sorgen bereitet?

CH: Die Angst vor einem von den politischen Eliten beiderseits der Irischen See beschlossenen "Arrangement" zum Nachteil der einfachen Menschen ist berechtigt. In den schönen Formulierungen des Karfreitagsabkommens wurden den benachteiligten Teilen der katholischen und protestantischen Gemeinden in Nordirland alle möglichen Verbesserungen ihrer Lage in Aussicht gestellt. Die meisten dieser Versprechen haben sich jedoch als heiße Luft erwiesen. Nordirland ist mehr als zwanzig Jahre später immer noch das Armenhaus des Vereinigten Königreichs. Die am schwersten von Armut betroffenen Stadtteile des Staates befinden sich in Belfast und Derry. Dort toben auch Drogenkriminalität und Gewalt. Doch nur weil die Politiker in Nord und Süd den Wunsch der großen Mehrheit der Menschen in Irland nach einer gerechten Gesellschaft sträflich vernachlässigt haben ist das noch lange kein Grund, nicht weiterhin dafür zu kämpfen und die Möglichkeiten, die sich aus der Wiedervereinigung ergäben, zu nutzen, um dieses hehre Ziel doch noch zu verwirklichen.

SB: Vielen Dank, Professor Harvey, für das ausführliche Gespräch.


Leere Grundstücke, häßliche Metallzäune, heruntergekommene Sozialwohnungen - Foto: © 2020 by Schattenblick

Soziale Tristesse im Armenviertel West Belfast
Foto: © 2020 by Schattenblick

26. Januar 2020


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