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INTERVIEW/048: Irland - Versöhnungshelden auf vergessener Furt ...    Linda Ervine im Gespräch (SB)


Interview mit der Sprachaktivistin Linda Ervine am 5. Januar 2018 in Belfast


Unter Nordirlands pro-britischen Protestanten ist Linda Ervine mit Abstand die profilierteste Anhängerin der gälischen Sprache. Die Schwägerin des 2007 verstorbenen David Ervine, der als Vorsitzender der kleinen linken Progressive Unionist Party (PUP) wesentlichen Anteil an der Ausrufung des Waffenstillstands der Ulster Volunteer Force (UVF) 1994 und an dem Zustandekommen des Karfreitagsabkommens vier Jahre später hatte, organisiert unter dem Namen "Turas" ("Reise" - Anm. d. SB-Red.) seit einigen Jahren den Gälischunterricht an der East Belfast Mission in der Lower Newtownards Road, jenem unterprivilegierten Arbeiterviertel in Ostbelfast, das als Hochburg loyalistischer Paramilitärs berüchtigt ist. Entgegen allen Erwartungen ist Turas, deren Unterrichtsstunden in dem hochmodernen, mit EU-Fördergeldern gebauten Skainos-Zentrum angeboten werden, zu einer Erfolgsgeschichte geworden. Am 5. Januar besuchte der Schattenblick die methodistische East Belfast Mission, um mit Linda Ervine über Turas, den Brexit und die anhaltende politische Krise in Nordirland zu sprechen.


Hochmoderne Fassade glänzt im winterlichen Sonnenlicht - Foto: © 2018 by Schattenblick

Die East Belfast Mission an der Lower Newtownards Road
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Ervine, seit wann gibt es Turas und wie ist der heutige Stand?

Linda Ervine: Der Grundstein zur Wiederentdeckung des Gälischen hier in East Belfast wurde gelegt, als Anfang 2011 die protestantische East Belfast Mission an der Lower Newtownards Road und das benachbarte katholische Short Strand Community Centre zu einem interkonfessionellen sechswöchigen Einführungskurs einluden. Ich habe als Mitglied einer protestantischen Frauengruppe an dem Kurs teilgenommen. Mir hat das so viel Spaß gemacht, daß ich gleich den Gälischunterricht an einem anderen Gemeindezentrum in Südbelfast fortsetzte.

Damals war mein Mann Brian Ervine noch Vorsitzender der PUP. Da hat ein Journalist mitbekommen, daß ich Gälisch studiere, den Umstand für berichtenswert gehalten und ein Interview mit mir in der Zeitung herausgebracht. Daraufhin setzten sich nicht wenige Leute der hiesigen Nachbarschaft mit der East Belfast Mission in Verbindung, um sich nach dem Gälischunterricht zu erkundigen. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es dort noch gar keinen solchen Kurs. Also haben mich die Interessenten gefragt, ob ich nicht Unterricht in der East Belfast Mission organisieren könnte, wenn sie einen Lehrer bzw. eine Lehrerin besorgten. Ich sagte zu. Im November 2011 fing der Gälischunterricht in der East Belfast Mission offiziell an. Damals war ich noch als Freiwillige am Projekt beteiligt. Doch im Frühjahr 2012 hat Foras na Gaeilge, das seit 1999 für die Förderung der gälischen Sprache in beiden Teilen Irlands zuständig ist, entschieden, den Unterricht in der East Belfast Mission finanziell zu unterstützen. In dem Zusammenhang wurde der Posten des Language Development Officer geschaffen, für den ich mich beworben und den ich schließlich erhalten habe.

Unter dem Namen "Turas" haben wir damals mit einer einzigen Klasse begonnen. Heute bieten wir pro Woche vierzehn Klassen der verschiedensten Stufen von Anfänger- bis Abiturniveau an. Wir bieten auch Unterricht in Volksmusik - Blechflöte - sowie gälischem Tanz an, führen Filme und eigene Theaterstücke vor. Darüber hinaus halten wir in ganz Irland Vorträge über Turas und den Erfolg des Projekts, um gleichgesinnte Gruppen zu ermutigen. Beim Projekt Turas habe ich drei Mitarbeiter - zwei davon in Vollzeit-, den dritten in Teilzeitbeschäftigung. Zudem haben wir einen Förderverein namens "Cairde Turas" ("Freunde von Turas" - Anm. d. SB-Red.) gegründet, dem inzwischen 200 Mitglieder angehören. Am Anfang wurde Turas sehr stark mit meinem Namen verbunden. Das wollte ich nicht, denn das Projekt sollte allen Menschen hier in East Belfast gehören. Durch die Gründung des Fördervereins, der unter anderem Spendenaktionen für uns durchführt, haben wir diesen Aspekt deutlich zum Ausdruck gebracht. Zwar standen und stehen bis heute einige im Viertel der Initiative ablehnend gegenüber, da sie in der gälischen Sprache eine Bedrohung der britischen Kultur in Nordirland sehen, aber es hat niemals deshalb Ärger oder Streß gegeben. Turas ist ein Teil des Ostbelfaster Lebens geworden und wird von allen akzeptiert.

SB: Von der wachsenden Akzeptanz von Turas an der Newtownards Road einmal abgesehen, inwieweit hat das wachsende Interesse an der gälischen Sprache im protestantischen Ostbelfast zur Versöhnung zwischen den Konfessionen in Nordirland insgesamt beigetragen? Vor kurzem haben Sie und eine Turas-Delegation das Kulturzentrum im neuen Gälischviertel im katholischen Westbelfast, der einstigen Hochburg der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), besucht. Den Pressefotos zufolge sah es so aus, als seien sie dort recht herzlich empfangen worden. Stimmt dieser Eindruck?

LE: Absolut. Als wir mit Turas angefangen haben, gab es protestantische Stimmen, die meinten, wir sollten stets von der gälischen, niemals von der irischen Sprache reden. Das haben wir abgelehnt. Meines Erachtens sind beide Bezeichnungen gleichrangig, sprachwissenschaftlich korrekt und somit austauschbar. Diejenigen, welche die Forderung erhoben, wollten, daß wir uns von der irisch-sprachigen Gemeinde, deren Mitglieder hauptsächlich aus Katholiken bzw. Nationalisten besteht, abkapseln. Das kam uns nicht in den Sinn. Wir wollen Teil dieser Bewegung sein und damit auch demonstrieren, daß die gälische Sprache für alle Menschen in Nordirland da ist, daß sie zum gemeinsamen kulturellen Erbe gehört.

Nicht wenige Protestanten aus Schottland, die sich im 17. und 18. Jahrhundert mit Unterstützung der englischen Krone als Siedler im Norden Irlands niederließen, sprachen Gälisch. Von daher haben wir von Anfang an den Kontakt zu anderen irischen Sprachgruppen gesucht und immer wieder welche besucht oder sie zu Besuch bei uns im Skainos eingeladen. Das hat immer gut geklappt und Brücken zwischen den Konfessionen geschlagen. Anfangs war es nicht so leicht. Einige Turas-Mitglieder waren nervös. Aber mit der Zeit gab es immer weniger Berührungsängste, was sehr herzerwärmend ist. Besonders zwischen dem republikanisch geprägten West Belfast und dem loyalistisch geprägten East Belfast sind dank Turas Kontakt und Verkehr entstanden, wie sie vorher nicht existierten. Das kann man nichts anderes als positiv bezeichnen.

In Verbindung mit der Aufnahme der neuen, ersten Linienbusverbindung zwischen Ost- Westbelfast, die im diesem Jahr in Betrieb gehen soll, haben wir uns eine weitere neue Idee ausgedacht. Inzwischen haben wir unsere eigene Bibliothek gälischer Bücher hier in der East Belfast Mission. Vor dem Hintergrund der verbesserten Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln wollen wir unseren Bücherfundus als Nordirlands einzige anerkannte Leihbibliothek für gälische Schriften etablieren und ausbauen.


Linda Ervine im Porträt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Linda Ervine
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Das wäre natürlich großartig.

LE: Der Meinung sind wir auch. Damit würden wir zur Anlaufstelle für Abiturienten und alle Arten von Studenten, die ihr Gälisch verbessern wollen, weil sie Prüfungen zu bestehen haben. Das würde die Sichtbarkeit von Turas und der East Belfast Mission weit über Ostbelfast hinaus erhöhen und uns hoffentlich höhere Besucherzahlen bescheren.

SB: Können Sie Leuten, die mit den Verhältnissen in Nordirland nicht vertraut sind, vielleicht erklären, warum die Forderung von Sinn Féin nach der Verabschiedung eines Gesetzes zur Gleichstellung der gälischen Sprache und die Weigerung der Democratic Unionist Party (DUP) um Arlene Foster, sich auf diese Forderung einzulassen, mit zu der politischen Krise geführt haben, die seit Januar letzten Jahres hier herrscht?

LE: Die ganze Situation ist beklagenswert, weil sie eigentlich so überflüssig ist. In Schottland und Wales sind die gälische und die walisische Sprache offiziell anerkannt. Es gibt keinen objektiven Grund, warum die irische Sprache in Nordirland nicht ähnlich anerkannt werden sollte. Doch für viele Unionisten stellt sie leider die Hauptwaffe in einem Kulturkampf dar, mit dem Sinn Féin Nordirland irischer und weniger britisch machen will, um die Provinz irgendwann mit der Republik zu vereinigen.

Über dieses Thema dachte ich heute morgen nach, denn wir organisieren hier in der East Belfast Mission gerade eine Reihe von Veranstaltungen mit Blick auf die Ereignisse in Verbindung mit der Bürgerrechtsbewegung in Nordirland vor fünfzig Jahren. Das tangiert mich persönlich, denn mein Großvater nahm 1967 als linker Gewerkschafter an der Gründung der Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) teil. Bei der Sichtung von Ausstellungsmaterial habe ich auf dem Foto einer Demonstration ein Transparent mit der Forderung "Britische Rechte für britische Bürger" gesehen. Damals wehrten sich die Unionisten dagegen, ihren katholischen Mitbürgern eine Reihe von Rechten einzuräumen, die im restlichen Vereinigten Königreich längst selbstverständlich waren. Bis heute verharren sie in dieser Verweigerungshaltung und wollen keine Abtreibung, keine Ehe für alle und keine Gleichstellung der gälischen Sprache hinnehmen. Leider kommt man nicht um die Feststellung herum, daß der Unionismus immer zutiefst reaktionär war und es bis heute geblieben ist. Zum Glück muß ich mir da keine Vorwürfe machen, denn in meiner Familie waren alle entweder Kommunisten oder Sozialisten.

Als Ende der sechziger Jahre die Bürgerrechtsbewegung die Forderung nach Gleichstellung von Katholiken bei der Vergabe von Sozialwohnungen, im kommunalen Wahlrecht und bei der Einstellung im öffentlichen Dienst sowie nach dem Verbot der Diskriminierung bei Bewerbung um Arbeitsplätze in privaten Unternehmen erhob, reagierte die protestantische Gemeinde mit aggressiver Ablehnung. Man setzte sich mit Gewalt gegen die Forderungen zur Wehr mit der Begründung, die Katholiken würden den Protestanten die Sozialwohnungen und die Arbeitsplätze wegnehmen.

Heute blockieren die Unionisten die Verabschiedung eines Gesetzes zur Gleichstellung der gälischen Sprache mit der Behauptung, seine Umsetzung würde Gelder, die an anderen Stellen dringend gebraucht werden, verschwenden, die Gerichte wären durch eine Lawine an Übersetzungsarbeit überfordert. Sie machen das Ganze zum Problem, indem sie Katastrophenszenarien an die Wand malen, statt zu überlegen, wie die Anerkennung der gälischen Sprache das Alltagsleben in Nordirland bereichern könnte - unter anderem durch die Attraktivität für Sprachtouristen aus aller Welt. Die unionistischen Politiker sind meines Erachtens für die Konfrontation hauptverantwortlich, denn sie lassen keine Gelegenheit aus, Ängste zu schüren und den Keil zwischen Katholiken und Protestanten zu treiben, um die eigene Wählerschaft an sich zu binden. Auf unionistischer Seite fehlen Politiker mit Weitblick und Größe. Die protestantischen Volksvertreter treten stets kleingeistig und defensiv auf, was sehr bedauerlich ist.

SB: Gleichwohl gibt es seitens der Unionisten häufig den Vorwurf, Sinn Féin würde die gälische Sprache als politische Waffe einsetzen, ihr gehe es nicht wirklich um Erhalt oder Förderung der Sprache, sondern einzig darum, im Kulturkampf den probritischen Protestanten eine Niederlage zu bescheren, sie zu demütigen. Ist vielleicht etwas an dem Vorwurf dran?

LE: Der Streit zwischen Sinn Féin und der DUP um den Irish Language Act (ILA) hat mehrere Aspekte. Zur Zeit des Bürgerkrieges wurde die gälische Sprache dadurch zum politisch-militärischen Faktor, daß die IRA-Gefangenen in den Hochsicherheitstrakten sie alle benutzen, damit ihre Gespräche vom in der Regel protestantischen Wachpersonal nicht verstanden werden konnten. Da kam die Sprache sehr wohl als Waffe der Katholiken gegen die Protestanten zum Tragen. Dies erklärt die Berührungsängste der meisten Protestanten. Wenn Sinn-Féin-Politiker im Regionalparlament eine Rede auf Gälisch halten, wird das von Vertretern der DUP gleich als feindlicher Angriff aufgefaßt. Daher die wiederholten Bemühungen von DUP-Abgeordneten wie Gregory Campbell und Sammy Wilson, die irische Sprache und ihre Verwendung ins Lächerliche zu ziehen und dem Spott preiszugeben.

Man darf nicht vergessen, daß die gälische Sprache Anfang des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle beim Aufkommen des irischen Nationalismus gespielt hat. Nicht zuletzt unter Verweis auf die Existenz einer eigenen Sprache haben Leute wie Padraig Pearse den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien verfochten. Doch meiner Meinung nach war die Erhebung des Gälischen zur Nationalsprache Irlands zu kurz gedacht. Die gälische Sprache gibt es nicht nur in Irland, sondern mit leichter Variation auch auf der Isle of Man sowie in weiten Teilen Schottlands, besonders in den Highlands sowie an der Westküste mit den vielen Inseln. Aus meiner Sicht zeigt dies, daß die gälische Sprache nicht nur Irland-spezifisch ist, sondern als Kulturgut den britischen Inseln als Ganzes zugerechnet werden muß.

Ich kann den Vorwurf der Unionisten an die Adresse Sinn Féins nachvollziehen. Lange Zeit haben deren Mitglieder die Nutzung der irischen Sprache quasi mit dem Bekenntnis zur Republik Irland und der eventuellen Wiedervereinigung der Insel gleichgesetzt. Doch auch wenn sie damit viele Protestanten und Unionisten vor den Kopf gestoßen haben, haben sie immerhin das Interesse am Erlernen der gälischen Sprache in den eigenen Reihen sowie bei der katholischen Bevölkerung geweckt bzw. am Leben erhalten. Inzwischen sollten wir alle von den lächerlichen Grabenkämpfen ablassen und die gälische Sprache als etwas begreifen, was die Menschen in Irland und Großbritannien einander durch ein besseres Verständnis der eigenen kulturellen Wurzeln näherbringen kann. Die Vorstellung, daß das Eintreten für die gälische Sprache gleich ein Angriff auf die britische Krone und die Union zwischen Nordirland und Großbritannien sei, sollte längst überholt sein.

SB: In einem früheren Zeitungsinterview haben Sie behauptet, die schärfsten Kritiker von Sinn Féin, denen Sie jemals begegnet seien, fänden sich unter denjenigen Katholiken, die fließend Gälisch sprechen. Stimmt das?

LE: So habe ich es jedenfalls erlebt. Diejenigen Nationalisten, die fließend Gälisch sprechen, lassen sich von Sinn Féin nichts vormachen. Sie sind aufgeklärter und für die Stammtischparolen auf republikanischer Seite weit weniger erreichbar. Gleichwohl ist es nicht meine Aufgabe, Sinn Féins Politik zu analysieren oder zu kritisieren. Viele Unionisten meinen, Sinn Féin habe den Streit um den Irish Language Act künstlich aufgebauscht. Aber wenn sie den Streit nicht vom Zaun gebrochen hätten, hätten die Unionisten die Umsetzung der Vereinbarung zur gesetzlichen Gleichsetzung der irischen Sprache weitere Jahre verschleppt. Irgendwann mußte Sinn Féin die Reißleine ziehen. Es war unvermeidlich.

Ich denke schon, daß sich die beiden Parteien irgendwann wieder vertragen und gemeinsam ein Sprachgesetz verabschieden werden, mit dem alle einigermaßen leben können. Man hört immer wieder die Forderung, die irische Sprache zu "entpolitisieren". Ich halte es dagegen mit Aodán MacPóilin, dem Gründer des gälischen Viertels in West Belfast, der bis zu seinem Tod 2016 immer wieder betonte, man sollte sie in allen Bereichen des Lebens, auch des politischen, einführen. So ist die Lage in Schottland und Wales, wo alle politischen Gruppen der Förderung der gälischen bzw. der walisischen Sprache wohlwollend gegenüberstehen. So sollte es auch in Nordirland sein.


Der Skainos-Eingang, eine gelungene Mischung aus Backstein und getöntem Glas - Foto: © 2018 by Schattenblick

Eingangsbereich des Skainos Centre
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Die Angst vor überbordenden Kosten im Zuge einer Gleichstellung der gälischen Sprache zu schüren gelingt den unionistischen Politikern nicht zuletzt deshalb, weil niemand weiß, wie die gesetzliche Regelung am Ende aussehen wird. Wenn es nach Ihnen ginge, welche Punkte sollte der Entwurf enthalten, damit das Gesetz wirkungsvoll, aber gleichzeitig kostengünstig bleibt?

LE: Es werden verschiedene Punkte diskutiert, von denen ich einige für sinnvoll, andere wieder für weniger wichtig halte. Auf jedem Fall sollten Schulen, in denen alle Fächer auf Gälisch unterrichtet werden, genauso staatlich gefördert werden wie herkömmliche Schulen. Die Anzahl der gälischsprachigen Schulen nimmt in den letzten Jahren in ganz Irland rasant zu, nicht zuletzt, weil die Lehrer engagiert sind und die Kinder eine sehr gute Bildung erhalten. Des weiteren bin ich der Meinung, daß Gälischsprachige genauso mit den Ämtern in Nordirland auf Gälisch kommunizieren können sollen wie es die Gälischsprachigen in Schottland und der Republik Irland oder die Walisischsprachigen in Wales bereits tun können. Die Verwendung einer offiziell anerkannten Minderheitensprache im Umgang mit den staatlichen Stellen gehört für mich zu den Grundrechten eines jeden Bürgers und ist daher nicht verhandelbar. Ich glaube nicht, daß dabei Kosten in nennenswertem Umfang anfielen.

SB: Und was ist mit dem Verbot der Verwendung der gälischen Sprache vor Gericht aus dem Jahr 1737? Sollte nicht auch diese Gesetzespassage als Anachronismus endlich aufgehoben werden?

LE: Auf jeden Fall. Die unionistischen Politiker machen als selbsternannte Verteidiger von Law and Order stets viel Aufhebens um diese Forderung. Sie malen ein Alptraumszenario aus, demzufolge sich Nordirlands Kriminelle Gälisch zulegen würden, um das Gerichtssystem vor lauter Übersetzungen und Dolmetschern lahmzulegen, den Abbruch ihrer Verhandlungen wegen unnötigen Aufwands zu erwirken und weiter ihr verbrecherisches Treiben fortsetzen zu können.

SB: (lacht) Ist doch klar. Sämtliche Ganoven aus der loyalistischen und der republikanischen Halbwelt werden dem Skainos die Türen einrennen, um von Ihnen Gälischunterricht zu bekommen.

LE: (lacht ebenfalls) Die Idee ist ganz klar hirnrissig. Die Anzahl der Fälle, in denen Leute nachher auf ihr Recht bestehen - sofern es eingeräumt wird - Gälisch im Prozeß zu sprechen, wird schwindend gering sein. Die Kosten und der Aufwand, diesem Wunsch im Einzelfall zu entsprechen, werden minimal sein. Und sollte irgendwann die Anzahl der Menschen in Nordirland, die Gälisch als Alltagssprache verwenden, unheimlich wachsen, erwüchse daraus zwangsläufig das Personal, ein bilinguales Gerichtssystem zu gewährleisten. Ich fände es besser, wenn die Unionisten ihre Sorgen vor möglichen finanziellen Belastungen konkret benennen und vielleicht Vorschläge machen würden, wie sich negative Folgen vermeiden ließen, statt das Anliegen der gälischsprachigen Gemeinde, sich in ihrer eigenen Sprache vor Gericht vertreten zu können, als irrational und unangemessen abzutun. Wie wäre es mit kreativen Lösungen statt immer nur Negativität?

Nordirland, insbesondere Belfast, hat sich inzwischen zum Touristenmagneten entwickelt. Das ist großartig, denn es schafft viele Arbeitsplätze. Ich kann mich noch gut an die Zeit vor dreißig Jahren erinnern, als die einzigen Auswärtigen, die sich nach Belfast trauten, Journalisten waren, die über den Bürgerkrieg berichten wollten. Eine wichtige Touristenattraktion ist die irische bzw. nordirische Kultur, zu der selbstverständlich die gälische Sprache gehört. Allein aus wirtschaftlichen Gründen müßte es doch naheliegen, Gälisch zu pflegen und es nach außen hin sichtbar zu präsentieren. Ich denke schon, daß die unionistische Führung dies in den nächsten Jahren endlich begreifen und ihre Ablehnung des Gälischen aufgeben wird.

SB: Wie waren die Meinungen hier im loyalistischen East Belfast in Bezug auf die EU zum Zeitpunkt des Brexit-Referendums im Juni 2016 und haben sie sich seitdem nennenswert verändert?

LE: Nicht wenige Leute in der Newtownards Road und Umgebung waren gegen den EU-Austritt. Doch die meisten sind den Schauergeschichten der DUP und dem Traum vom "Global Britain", um den Propaganda-Begriff der britischen Tories zu gebrauchen, auf den Leim gegangen. Bekanntlich spielte das Thema Einwanderung beim Brexit-Referendum eine überragende Rolle. Viele Menschen, die für den EU-Austritt votierten, taten dies in der Hoffnung, den Zustrom an Einwanderern aus Osteuropa und anderswoher begrenzen zu können. In East Belfast dürfte dies besonders der Fall gewesen sein, denn wir haben hier seit einigen Jahren ein großes Problem mit der Fremdenfeindlichkeit. Osteuropäer und Afrikaner werden auf offener Straße angepöbelt, nachts werden Steine durch die Fenster ihrer Wohnungen geworfen. Hier in Ostbelfast gibt es viel Armut und es leben viele Familien in prekären Verhältnissen. Das Bildungsniveau ist im Allgemeinen auch nicht besonders hoch. Vor diesem Hintergrund begreifen viele Menschen nicht, wie die britische Regierung das staatliche Gesundheitssystem mittels Kürzungen schlechter macht, sondern machen für die längeren Wartezeiten und den Andrang in der Notaufnahme die Einwanderer verantwortlich. Für alle Mißstände sollen die Einwanderer als Ursache herhalten. Wohnungsnot? Die Einwanderer nehmen uns die Wohnungen weg. Arbeitslosigkeit? Die Einwanderer nehmen uns die Arbeitsplätze weg.

Viel zu viele Angehörige der protestantischen Arbeiterklasse in Nordirland - ähnliches spielt sich in Großbritannien ab - glauben leider die Lügen, welche die rechtsgerichtete Boulevardpresse über die Einwanderer verbreitet. Meine Tochter arbeitet in einer Fahrschule als Sekretärin. Sie erzählte mir vor kurzem, wie sich ein einheimischer Fahrschüler öffentlich beschwerte, daß anerkannten Kriegsflüchtlingen die Kosten für den Fahrunterricht vom Staat bezahlt werden und sie nach bestandener Prüfung ein nagelneues Auto zur Verfügung gestellt bekommen. Auf die Frage, wo er diesen Blödsinn herhabe, behauptete dieser Mann, es in der Zeitung gelesen zu haben.

Wegen der Verbreitung solcher Legenden über die Bevorzugung von Einwanderern sah sich vor kurzem das Amt für die Vergabe von Sozialwohnungen in Belfast gezwungen, ein Informationsblatt zu verteilen, um solche kursierenden Behauptungen mit den aktuellen Daten zu widerlegen. Tatsächlich bekommen Einwanderer und Kriegsflüchtlinge weit weniger staatliche Hilfe als Mitglieder der alteingesessenen Bevölkerung. Viele Einwanderer wohnen in Häusern, die sonst leerstünden. Allein durch ihre Miete tragen sie zur Wirtschaft und zum Erhalt des städtischen Wohnungsbestands in Belfast bei. Viele Einwanderer arbeiten im Niedriglohnsektor und leisten damit einen wichtigen Beitrag dazu, unter anderem das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten. Die Menschen, die in Nordirland für den EU-Austritt votierten, taten dies vielfach aus Fremdenfeindlichkeit, ohne darüber nachzudenken, wie der Brexit ihnen selbst und ihren Familien wirtschaftlich schaden könnte.

Ob sie ihre Entscheidung bereuen? Eineinhalb Jahre später macht sich schon eine gewisse Ernüchterung breit. Viele EU-Skeptiker haben sich den Brexit weniger problematisch vorgestellt, haben nicht bedacht, was dem Vereinigten Königreich alles verlorengehen könnte, tritt das Land, wie von Premierministerin Theresa May verkündet, 2019 tatsächlich aus dem Binnenmarkt und der Zollunion aus. Hinzu kommt die drohende Errichtung einer festen Zollgrenze samt Kontrollpunkten zwischen Nordirland und der Republik - eine Entwicklung, welcher mit Sicherheit die früheren Anhängern der IRA nicht tatenlos zusehen würden, was natürlich Ängste vor einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges auslöst.

Doch eines hat der Brexit bewirkt. Seit der Abstimmung habe ich in protestantischen und unionistischen Kreisen mehr Menschen denn je über die Möglichkeit der Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik diskutieren gehört. Früher war allein der Gedanke vollkommen tabu. Von den politischen Implikationen einmal abgesehen, war die Wiedervereinigung früher deshalb unvorstellbar, weil alle Protestanten im Norden annahmen, sie ginge mit einem deutlichen Absenken ihres Lebensstandards einher. Schließlich war Nordirland bei der Teilung Irlands 1921 ein mächtiger Industriestandort, der Süden dagegen ein armes Agrarland. Heute sehen die Dinge ganz anders aus. Die Republik ist eine moderne Industrienation, während Nordirland am Subventionstropf Londons hängt und sich die meisten Beschäftigten im staatlichen Sektor befinden. Von daher überlegen sich viele Protestanten, ob die Vereinigung mit dem Süden nicht vielleicht eine sinnvolle Sache wäre.


Turas-Transparent mit Straßenschild 'Newtownards Road / Bóthar Bhaile Nua na hArda' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Turas lädt zur Sprachreise ein
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Werden derlei ketzerische Überlegungen sogar hier im loyalistischen Kerngebiet East Belfast öffentlich ventiliert?

LE: Ja. Ob Sie es glauben oder nicht, selbst hier an der Lower Newtownards Road wird offen über die irische Wiedervereinigung diskutiert. Die Atmosphäre hat sich total gewandelt.

SB: Bei den jüngsten Wahlen in Nordirland - zum Regionalparlament im vergangenen März und zum britischen Unterhaus im darauffolgenden Juni - ist es zu einer starken Polarisierung der politischen Landschaft gekommen. DUP und Sinn Féin haben alle anderen politischen Gruppierungen praktisch an die Wand gedrängt. Gleichwohl sehen sich die beiden größten Parteien auf unionistischer und nationalistischer Seite weiterhin nicht imstande, ihren Streit beizulegen und die politischen Institutionen in Nordirland wiederzubeleben. Angesichts des nunmehr einjährigen Stillstands die Frage an Sie, ob irgendeine Aussicht auf ein Wiedererstarken der linken Progressive Unionist Party besteht, die in den neunziger und nuller Jahren als politischer Arm der paramilitärischen UVF erheblich zum Gelingen des Karfreitagsabkommens beitragen hat?

LE: Die Antwort laut nein. Eine solche Aussicht besteht nicht - eine Feststellung, die mich zutiefst traurig macht. Die PUP geht langsam, aber sicher zugrunde - wegen fehlenden Rückhalts in der Bevölkerung und Spannungen unter den ehemaligen Paramilitärs. Sie hat seit 2011 keinen Abgeordneten im nordirischen Regionalparlament mehr. Bei der letzten Kommunalwahl 2014 hat sie einen Stimmenanteil von 0,9 Prozent erzielt und von 462 Kommunalratssitzen lediglich vier erobert - drei davon in Belfast und einen an der Küste Antrims. Die Partei hat noch einige gute Leute wie John Kyle, aber irgendwie ist der Schwung raus.

Meiner Meinung nach hat Billy Hutchinson einen großen strategischen Fehler gemacht, als er im Winter 2012/2013 die Entscheidung traf, sich den Demonstrationen gegen Einschränkungen des Hissens der britischen Fahne am Belfaster Rathaus anzuschließen. Damals hat die DUP weit erfolgreicher als die PUP die Flaggenproteste für sich instrumentalisiert. Am Ende wußte niemand mehr, wo die DUP beginnt und die PUP endet. Und so hat die DUP erfolgreich weite Teile der Wählerschaft der PUP an sich binden können und letztere als leere Hülle zurückgelassen. Zudem hat die PUP damals wegen der Nähe zu den Krawallmachern auf der Straße einige fähige Leute, die für eine ganz andere, eine linke, progressive Politik standen, verloren. Von diesen Ereignissen hat sich die PUP bis heute nicht erholt. Ich glaube nicht, daß sie das jemals schaffen wird.

Der Untergang der PUP macht mich sehr traurig. Mein Schwager David Ervine war einst Parteivorsitzender. Als er 2007 überraschend einem Herzinfarkt erlag, setzte der Abwärtstrend ein. 2010 trat seine Nachfolgerin Dawn Purvis wegen Streß mit den ehemaligen Paramilitärs zurück. Ihr folgte mein Mann Brian Ervine. Aber auch er könnte den Niedergang nicht aufhalten. Ich habe früher für die PUP regelmäßig Wahlkampf gemacht, Plakate aufgehängt, Wahlzettel verteilt, das Gespräch mit potentiellen Wählern gesucht et cetera. Irgendwann jedoch hatte ich die zunehmend sektiererische, offen anti-nationalistische, anti-katholische Ausrichtung der Partei satt. Ich bin zum damaligen Parteivorsitzenden John Kyle gegangen, den ich sehr respektiere und der heute noch für die PUP im Belfaster Stadtrat sitzt, habe meinen Austritt erklärt und ihm die Gründe dafür erläutert.

SB: Wie sehr befürchtet man in der East Belfast Mission den Verlust von EU-Subventionen nach dem Brexit? Schließlich haben EU-Gelder den Bau des Skainos ermöglicht.

LE: Ich weiß nicht so genau, wie es finanziell um die East Belfast Mission bestellt ist. Für Turas stellt der Brexit jedenfalls keine Bedrohung dar, da unsere Initiative fast ausschließlich von Foras na Gaeilge, der allirischen Behörde zur Förderung der gälischen Sprache, finanziert wird. Die East Belfast Mission steht gut da, weil sie gemäß der methodistischen Lehre vom sozialen Engagement hier in der Gegend an der Gründung vieler Kleinbetriebe wie zum Beispiel dem Skainos-Café beteiligt gewesen ist, die alle einen finanziellen Beitrag zum Fortbestehen des Mutterinstituts leisten. Dennoch sind die Aussichten nicht gerade rosig. Die negativen Folgen des Brexit für die britische Volkswirtschaft werden sich sicherlich auch hier in Ostbelfast bemerkbar machen.

SB: Führende unionistische Politiker beteuern stets, daß sie für den Brexit, aber gegen die Wiedereinführung von Kontrollen an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik sind. Kann es sein, daß sie das nicht wirklich ernst meinen und sich insgeheim Grenzkontrollen wünschen, um den Trend in Richtung Wiedervereinigung zu stoppen?

LE: Das ist eine gute Frage. Obwohl die DUP-Führung so etwas niemals zugeben würde, geht aus vielen Äußerungen, die ich in den sozialen Medien lese, hervor, daß es sehr wohl in der protestantischen Bevölkerung eine nicht zu unterschätzende, extremistische Strömung gibt, die sich nach der Abschottung Nordirlands von der Republik sehnt. Ganz verstehen kann ich das nicht, denn Nordirlands protestantische Bauern, die zur DUP-Klientel gehören, hätten erheblich und mehr als alle anderen unter strengen Grenzkontrollen zu leiden, sollte es jemals dazu kommen.

Das große Problem ist, daß niemand, weder von der DUP noch von der Regierung Theresa Mays, zu wissen scheint, wie der Brexit konkret aussehen soll. Allein die Unfähigkeit Londons, seine Brexit-Pläne zu konkretisieren, hat viele Menschen in Nordirland, der Republik Irland und in Großbritannien erschreckt. Man hat das Gefühl, das Land steuere auf eine Katastrophe zu und niemand unternimmt etwas, um sie abzuwenden. In der Zukunft werden sich Historiker an den Kopf fassen und fragen, wie die politische Elite Großbritanniens so kopflos und verantwortungslos handeln konnte.

SB: Wie beurteilen Sie die Chancen einer Neubildung der nordirischen Koalitionsregierung und einer Wiederaufnahme der Arbeit des Regionalparlaments? Was wäre erforderlich, um dies zu bewerkstelligen?

LE: In den vergangenen Monaten habe ich inständig gehofft, daß die DUP und Sinn Féin ihren Streit irgendwann beilegen und sich wieder der Zusammenarbeit zuwenden würden. Doch dazu ist es bis heute nicht gekommen. Deswegen stellt sich mir inzwischen die Frage, wie es die beiden Parteien es in den Jahren zuvor geschafft haben, zusammenzuarbeiten.

SB: Ob sie wirklich zusammengearbeitet oder vielleicht nur nach außen hin so getan haben?

LE: Ganz genau. Im Grunde genommen war es eine politische Zwangsehe, von London und Dublin verordnet, der sich Unionisten und Nationalisten zähneknirschend beugten, ohne wirklich die Herausforderung anzunehmen und das Beste daraus zu machen.

SB: Wegen des Zwists zwischen der DUP und Sinn Féin ruhen in Nordirland die politischen Institutionen. Faktisch wird die Provinz wieder von London aus direkt verwaltet. Wie ließe sich Ihres Erachtens der politische Betrieb in Nordirland wieder in Gang setzen?

LE: Wenn es nach mir ginge, würde ich die Vertreter von DUP und Sinn Féin allesamt wegen Arbeitsverweigerung auf die Oppositionsbank verbannen und die kleineren Fraktionen, die Ulster Unionist Party, die Social Democratic Labour Party und die Alliance Party mit der Regierungsverantwortung betrauen. Die DUP und Sinn Féin mißachten die Bevölkerung mit ihren politischen Spielchen. Es sollten andere Parteien eine Chance bekommen, Nordirland zu administrieren. Selbst wenn DUP und Sinn Féin das Kriegsbeil begraben und die Fragen der gälischen Sprache und der Ehe für alle gesetzlich geregelt hätten, stünden wir immer noch vor dem Problem, daß Nordirland politisch von zwei Parteien dominiert wird, deren Vertreter sich gegenseitig nicht leiden und deshalb nur äußerst schwer bis überhaupt nicht zusammenarbeiten können.


Linda Ervine im Porträt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Als der todkranke Martin McGuinness von Sinn Féin Anfang Januar 2017 seinen Rücktritt erklärte, begründete er dies mit der Ignoranz der DUP-Führung und deren Weigerung, die immer wieder gemachten Gesten der Versöhnung seitens seiner Partei zu erwidern. Stimmt der Vorwurf von der Verweigerungshaltung der DUP oder trifft er auch auf Sinn Féin zu?

LE: Von außen betrachtet ist es sehr schwer zu beurteilen, wie sich im Stormont in den letzten Jahren der Umgang zwischen den Abgeordneten von Sinn Féin und der DUP gestaltet hat, wer auf die andere Seite zugegangen ist und wer auf Abstand geblieben ist. DUP und Sinn Féin sind keine Parteien, denen ich meine Stimme geben würde. Dennoch muß ich feststellen, daß die Unionisten in der Tat häufig arrogant auftreten. Ich glaube, sie hängen der Zeit nach, in der sie allein in Nordirland das Sagen hatten, und haben es bis heute nicht begriffen, daß sich die Welt in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert hat.

SB: Ein Dauerthema, das das Verhältnis zwischen Nationalisten und Unionisten in Nordirland bis heute schwer belastet, sind die vielen unaufgeklärten Gewalttaten während der Troubles. Seit 20 Jahren ringen die politischen Parteien und die britische Regierung um den richtigen Ansatz zur Aufarbeitung der Ereignisse, bei denen viel Blut auf beiden Seiten vergossen wurde und unter denen bis heute Abertausende von Opfern und Hinterbliebenen zu leiden haben. Haben Sie vielleicht eine Idee, wie die nordirische Gesellschaft am besten mit dem schweren Erbe des Bürgerkriegs umgehen sollte?

LE: Das ist wirklich eine sehr schwierige Frage. In meinem Leben bildeten die Troubles lediglich den zeitgeschichtlichen Hintergrund. Aus meiner Verwandtschaft ist niemand getötet worden oder etwa durch einen Bombenanschlag zum Krüppel geworden. Das Opfer, das mir verwandtschaftlich am nächsten stand, war die Cousine meiner Mutter - eine Protestantin, die von Protestanten getötet wurde. Die Menschen, die direkte Familienmitglieder verloren, Anschläge miterlebt haben oder selbst schwer verletzt wurden, brauchen Hilfe und Unterstützung, werden dabei jedoch von unseren Volksvertretern, die ihre eigenen Agenden verfolgen, vollkommen in Stich gelassen.

Ich halte nichts von der Idee, daß alle, welche die Troubles durchlebt haben, Opfer sind. Ich bin kein Opfer. Im Gegensatz zu anderen Menschen habe ich persönlich nichts Schlimmes erlebt. Gleichwohl bin ich überzeugt, daß es nicht wenige Männer gibt, die einst als junge Burschen irgendwelchen paramilitärischen Organisationen beigetreten sind und vielleicht Gewalttaten bis hin zum Mord verübt haben und es dennoch verdienen, auch als Opfer und nicht allein als Täter behandelt zu werden. Solche Personen wurden von ihren politischen und militärischen Anführern mißbraucht. Sie brauchen genauso Hilfe wie die klassischen Opfer.

In diesem Land ist rund dreißig Jahre lang Gräßliches geschehen. Republikanische und loyalistische Paramilitärs haben schreckliche Dinge getan. Und dennoch glaube ich nicht, daß man feinsäuberlich die Opfer von den Tätern trennen kann, die einen bemitleiden und die anderen verdammen soll. Es sind alle Opfer, und man muß einen Weg finden, sie von ihren Dämonen zu befreien.

SB: Es gibt zwei Modelle, wie man mit den sogenannten "legacy issues" umgehen sollte. Nach dem einen sollte man versuchen, alle Gewaltverbrechen aus der Zeit der Troubles aufzuklären und die Täter der Justiz zu überantworten. Nach dem anderen sollte man eine Wahrheitskommission einrichten, bei der die Täter Straffreiheit genießen oder nur kleine Strafen erhalten sollen, sofern sie zur Aufklärung beitragen und ihre Beteiligung am Bürgerkrieg freilegen. Welches der beiden Modelle favorisieren Sie?

LE: Ich bin ganz klar für die zweite Option. Ich denke, den Hinterbliebenen der Verschwundenen, um nur eine Gruppe zu nennen, wäre sehr geholfen zu erfahren, was mit ihren Familienangehörigen geschehen ist und wo vielleicht die Leichen liegen. Leider gibt es mächtige Kräfte sowohl bei den früheren Paramilitärs als auch auf seiten des britischen Staats, welche ihr finsteres Treiben von damals für immer geheimhalten wollen. Die Regierung in London will auf jeden Fall verhindern, daß Soldaten, die damals Morde begangen haben, belangt werden. Darüber hinaus will London partout nicht, daß die brisanten Details der umfangreichen Unterwanderung der paramilitärischen Gruppierungen Nordirlands durch den britischen Geheimdienst ans Tageslicht kommen. Das halte ich für falsch. Man sollte alle, ob Polizisten, Soldaten oder Paramilitärs von der IRA, UVF oder UDA, gleich behandeln.

Die meisten britischen Soldaten, die damals nach Nordirland geschickt wurden, waren arme Kerle, die meist aus Perspektivlosigkeit zur Armee gegangen sind. Sie wurden mit einer Situation konfrontiert, in der sie vollkommen überfordert waren. Viele, wenn nicht die meisten loyalistischen und republikanischen Paramilitärs dachten, sie taten das Richtige, indem sie für ihre Glaubensgenossen kämpften. Andere, wie zum Beispiel mein Bruder, waren bei der Polizei, obwohl diese nur von den Protestanten und nicht von den Katholiken akzeptiert wurde. Die Lage war damals wahnsinnig kompliziert. Sie aufzuarbeiten fällt deshalb so schwer. Ein konstruktiver Ansatz wäre vielleicht, nicht die moralische Keule zu schwingen, die eigene Seite zu Helden und die andere zu den alleinigen Übeltätern zu erklären und statt dessen den Gegnern von einst mit Respekt zu begegnen.

SB: Ein gutes Schlußwort. Wir bedanken uns, Linda Ervine, für dieses Gespräch.


Statt wie üblich die UVF zu verherrlichen, machen sich Ostbelfasts Wandmaler für eine Gesellschaft ohne militärische Gewalt stark - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ostbelfaster Wandmalerei setzt auf eine friedliche Zukunft für Nordirland
Foto: © 2018 by Schattenblick


27. Januar 2018


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