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INTERVIEW/033: Die Spur der Troika - zum Beispiel Geld ...    Harald Schumann im Gespräch (SB)


Der Troika auf der Spur - unbequeme Fragen, konsequente Recherchen

Interview am 7. Mai 2015 in Hamburg-Eidelstedt


"Wenn es kompliziert aussieht, dann soll es kompliziert aussehen, damit wir es nicht verstehen". Wo Harald Schumann absichtsvoll initiierte Verneblungsstrategien vermutet, schenkt er seinem Publikum reinen Wein ein. Das professionelle Selbstverständnis des Journalisten und Autors besteht zu einem Gutteil darin, die Komplexität politischer und wirtschaftlicher Vorgänge zu dechiffrieren, ohne sie zu verfälschen. Im Falle der Eurokrise hat er dies in zahlreichen Artikeln und zwei Dokumentarfilmen auf so wirksame und frappante Weise getan, daß einige der im Zentrum seiner aufklärerischen Arbeit stehenden Politiker und Funktionäre es vorziehen, dem unbequemen Journalisten nicht mehr Rede und Antwort zu stehen.

In dem 2013 produzierten und mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichneten Film "Staatsgeheimnis Bankenrettung" stellen sich Wolfgang Schäuble und Regierungsmitglieder anderer EU-Staaten noch den Fragen Schumanns, ist dieser doch im Auftrag des ARD-Senders rbb und des deutsch-französischen Kulturkanals ARTE unterwegs. Diese Referenzen schützten Schumann und sein Team nicht davor, bei der Produktion der aktuellen Dokumentation "Macht ohne Kontrolle - Die Troika" von IWF, EZB und EU-Kommission, also den drei Pfeilern der Troika, keine Auskunft mehr zu erhalten. Überzeugender hätte die politische Relevanz des vorherigen Films kaum unter Beweis gestellt werden können.

Die soziale Situation in den südeuropäischen Krisenstaaten und dabei insbesondere in Griechenland habe ihn persönlich betroffen gemacht, was einige Kollegen auch als Problem einer zu geringen Distanz zum Gegenstand seiner journalistischen Arbeit angesprochen hätten. Als sich dann noch für das Thema des jüngsten Filmes zentrale Personen jeder Stellungnahme verweigerten, erlebte Schumann dies auch als Versuch, das Filmprojekt scheitern zu lassen, sei eine journalistisch angemessene Gegenüberstellung kontroverser Positionen dadurch doch nicht mehr möglich gewesen. Sein Partner Arpad Bondy habe jedoch aus der Not eine Tugend gemacht, indem er diesen Mangel in ein gestalterisches Element des Films verwandelte.

Wie Schumann im Rahmen einer Veranstaltung der Partei Die Linke, die zur Vorführung des jüngsten Films mit anschließender Diskussion ins Bürgerhaus in Hamburg-Eidelstedt geladen hatte, erklärte, bildet die Reduktion komplexer politischer und ökonomischer Sachverhalte auf die zwei einfachen Fragen, von wo nach wo das Geld fließt und wer die Begünstigten sind, den roten Faden seiner investigativen Recherchen. Den ideologischen Schleier zu lüften und zu schauen, was tatsächlich im Räderwerk von Staat und Wirtschaft geschieht, ist für Schumann auch deshalb unabdinglich, weil er, wenn er die Welt schon nicht zum Besseren verändern kann, zumindest wissen will, was die sie beherrschenden Verhältnisse antreibt. Dazu scheut er, wie er berichtet, auch nicht die Mühe, sich durch knochentrockene Dokumente der Troika-Bürokratie von mehreren tausend Seiten Umfang hindurchzuarbeiten. Wie die Ergebnisse seiner Recherchen belegen, die allem Anschein nach in manipulativer Absicht vollzogene Geldverschiebungen in Milliardenhöhe dokumentieren, hat sich der Aufwand zumindest zum Zwecke der allgemeinen Aufklärung und möglicher parlamentarischer Nachspiele gelohnt.

Der Dokumentarfilm "Macht ohne Kontrolle - Die Troika" gibt allen Anlaß dazu, Schumanns Sorge um die moralische Verfaßtheit der Politiker und den Bestand der Demokratie zu teilen. Wo der Schutz der Gläubiger über allem steht, während Menschen in Geldnot körperlich Schaden nehmen, wo das Leben ganzer Bevölkerungen dem Schuldendienst unterworfen wird, ohne daß sich die defizitäre Finanzlage ihres staatlichen und kommunalen Gemeinwesens verbesserte, wo Regierungsbeamte und Bürokraten supranationaler Institutionen, die ein gutversorgtes Dasein ohne Kontakt zur sozialen Realität außerhalb ihrer Glaspaläste fristen, folgenschwere Entscheidungen für Millionen Menschen treffen, sollten Möglichkeiten der demokratischen Einflußnahme auf diese Herrschaftsverhältnisse nicht nur theoretisch erörtert werden. Dem Publikum, dem die Frage auf den Nägeln brannte, welche praktischen politischen Konsequenzen die dargestellten Mißstände zeitigen könnten, schlug Schumann vor, sich seiner demokratischen Rechte zu besinnen und mit den jeweiligen Abgeordneten persönlich in Kontakt zu treten, um auf diese Weise etwas in Gang zu bringen.

Am Rande der gutbesuchten Veranstaltung, die Schumann zusammen mit Fabio De Masi, EU-Parlamentarier der Linkspartei, bestritt, hatte der Schattenblick Gelegenheit, dem Autor des Films einige weiterführende Fragen zu stellen.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Harald Schumann
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Schumann, es gibt zwei Versionen Ihres Films "Die Spur der Troika - Macht ohne Kontrolle". Im Internet wird kolportiert, daß die längere Version "unzensiert" sei. Stimmt das?

Harald Schumann (HS): Nein, das ist Unsinn. Die Zensur haben wir sozusagen selber betrieben. Wenn man einen 90-Minuten-Film auf 45 Minuten herunterschneidet, muß man Sachen weglassen. So einfach ist das. Der Schnitt war von vornherein vereinbart, da die ARD kein Format für 90-minütige Dokumentarfilme hat. Insofern hat es keine Zensur gegeben.

SB: War der Film eine Auftragsarbeit?

HS: Er wurde im Auftrag des rbb produziert. Die ARTE-Redaktion hat mit der Dokumentationsredaktion zusammengelegt, um den Film zu finanzieren, was sie im Endeffekt aber nicht getan haben.

SB: Sie haben mit Herrn Bondy jetzt zum zweiten Mal zusammengearbeitet. Offenbar hat sich die Kooperation mit ihm als Produzenten bewährt.

HS: Ja, zumal er auch Regisseur und Mitautor war. Er und seine Frau haben zudem den Film geschnitten, weil ich von dem Handwerk keine Ahnung habe. Ich bin von Haus aus Schreiber und gehöre zur Notizblockfraktion. Bondy hat fünf Jahre lang auf mich eingeredet, um mein Talent, Sachen gut erklären zu können, auch einmal fürs Fernsehen einzusetzen. Ich habe mich lange widersetzt, weil Aufwand und Information beim Fernsehen in keinem Verhältnis stehen. Als mir 2013 ein anderes Projekt wegbrach, habe ich dann doch zugestimmt. Der erste Film "Staatsgeheimnis Bankenrettung" war erstaunlich erfolgreich und wurde sogar ausgezeichnet. Daraufhin gab es das dringende Angebot für einen zweiten Film. Zunächst wollte ich nicht, aber dann sagte Arpad, ich habe schon einen unterschriebenen Vertrag. Du mußt mitmachen. So ist es gekommen.

SB: In "Staatsgeheimnis Bankenrettung" haben sie einige prominente Politiker vors Mikrofon bekommen wie zum Beispiel Herrn Schäuble. Haben Sie für Ihren zweiten Film auch bei Personen aus der ersten Reihe angeklopft?

HS: Selbstverständlich wie zum Beispiel bei Herrn Jean Claude Juncker, weil er der relevante Vorsitzende der Eurogruppe war. Wir haben auch versucht, die Verantwortlichen in den drei Institutionen - Frau Lagarde, Herrn Rehn und Herrn Curé - für eine Stellungnahme zu gewinnen. Auch bei den drei Chefverhandlern Herrn Mors für die EU-Kommission, Herrn Thomsen für den IWF und Herrn Masuch für die EZB haben wir angefragt, weil sie, wenn man so will, die Delegationsleiter waren und die Verhandlungen geführt haben. Aber alle drei Institutionen haben sich verweigert, und zwar abgesprochenermaßen. Der Pressesprecher des damals noch amtierenden EU-Kommissars Rehn hat uns am Telefon ganz offen gesagt, daß sich die drei Institutionen abgesprochen hätten und gemeinsam zu dem Schluß gekommen seien, dass sie nicht mit diesem Projekt kooperieren werden, wie er sich ausdrückte. Das war für mich, wie ich zugeben muß, ziemlich schockierend, weil es etwas von öffentlicher Exkommunikation hatte, als wollte man mir damit sagen, du gehörst nicht mehr dazu, mit dir reden wir gar nicht.

Wenn man bedenkt, daß wir nicht für den Hintertupfinger Anzeiger, sondern immerhin für den großen deutsch-französischen Kanal ARTE und die deutsche ARD unterwegs waren, dann war es auch eine Anmaßung der Verantwortlichen in diesen Institutionen, darüber zu entscheiden, wer über sie berichten darf und wer nicht. So gesehen war es ein indirekter Zensurversuch. Das ist nun gründlich schiefgegangen. Daß sie sogar die schriftlichen Fragen zu den im Film genannten Bankenskandalen verweigert haben, halte ich für ein Unding, weil es sich um öffentliche Institutionen handelt, die informationspflichtig sind. Sie sind nicht verpflichtet, Interviews zu geben, aber sie sind verpflichtet, schriftliche Fragen zu beantworten. Daß sie meinen, sich leisten zu können, das einfach zu verweigern. ist im Grunde eine Bestätigung der Filmthese, nämlich daß wir es mit einer Struktur zu tun haben, die weder den Parlamenten noch der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig ist. Der Grünen-Abgeordneter Sven Giegold hat die nicht beantworteten Fragen jetzt als parlamentarische Anfrage eingereicht, und man darf gespannt sein, wie sie sich da herausreden. Insbesondere die Europäische Zentralbank hat sich im Fall Zypern nachweislich in Widersprüche verstrickt, die sie nur schwer aufklären kann.

SB: Führen Sie diese Blockadehaltung auf ihren ersten Film zurück?

HS: Ich kann nur spekulieren, weil es keine Begründung gegeben hat, aber es steht zu vermuten, daß irgend jemand den ersten Film in Erinnerung hatte und man sich daher kniffligen Fragen nicht aussetzen wollte.

SB: In Ihrem jetzigen Film haben Sie einige Vertreter der Troika in Schwierigkeiten gebracht. Besteht die rechtliche Möglichkeit, daß eine Interviewzusage wieder zurückgezogen wird, was Ihnen verbieten würde, die besagte Filmpassage zu senden, oder sind Sie generell berechtigt, einmal aufgenommene Interviews zu bringen?

HS: Theoretisch ist das möglich, allerdings bin ich dann frei zu berichten, "wir haben ein Interview geführt, aber das Ergebnis war nicht so, wie der Interviewte sich das vorgestellt hatte, und darum hat er das Interview zurückgezogen". Die Frage ist, was weniger schmeichelhaft ist. Daher ist das nicht passiert.

SB: Sie hatten 2008 Telepolis ein langes Interview gegeben, in dem Sie sich relativ optimistisch über eine Bewältigung der gerade begonnenen Krise geäußert haben. Unter anderem hielten Sie eine Regulation des Finanzsektors und andere staatliche Eingriffe für möglich und gingen davon aus, daß die neoliberale Grundhaltung in der Politik zur Disposition gestellt werden könnte. Wie beurteilen Sie Ihre Einschätzung von damals aus heutiger Sicht?

HS: Ich habe mich geirrt. Ich war damals übermäßig optimistisch und habe gedacht, wenn die Vorstellung darüber, wie unsere Marktwirtschaft funktioniert, sich offensichtlich als falsch erwiesen und gigantische Schäden verursacht hat - allein Deutschland hat die Krise mindestens 100 Milliarden Euro gekostet, Geld, mit dem man alle deutschen Universitäten fünf Jahre lang hätte finanzieren können -, daß die wirtschaftlichen und politischen Eliten entschlossen wären, sich so etwas auf jeden Fall nicht wiederholen zu lassen. Ich habe das Beharrungsvermögen der Finanzindustrie unter- und den Willen der Bürger, auf Veränderungen zu bestehen, überschätzt.

Der wichtigste Grund dafür war wohl, daß es keinerlei zivilgesellschaftliche Strukturen gab, die in der Lage waren, den notwendigen politischen Druck von unten zu entfalten, um durchgreifende Reformen tatsächlich zu erzwingen. Wenn ich meine eigene politische Sozialisation bei dem Interview 2008 genauer beachtet hätte, hätte ich es besser gewußt. Als wir Anfang der 70er Jahre dahinterkamen, daß die zivile Nutzung der Kernkraft sowohl ökonomisch als auch ökologisch und politisch ein Abenteuer ist, das diese Gesellschaft sich gar nicht leisten kann, hat es danach noch 40 Jahre gebraucht, um mehrheitsfähig durchzusetzen, daß wir aus diesem Wahnsinn aussteigen. Ich fürchte, mit der Reform des Finanzsystems wird es nicht viel besser sein.

SB: Könnte es vielleicht damit zu tun haben, daß die Bundesrepublik relativ glimpflich aus der Eurokrise hervorgegangen ist und daher der politische Wille in der Bevölkerung für größere Reformvorhaben fehlt?

HS: Ganz unbeschadet sind wir aus der Finanzkrise nicht hervorgegangen, wir haben dafür teuer bezahlt, zum Beispiel mit dem Verfall unserer Infrastruktur, für die wir das Geld sonst hätten einsetzen können. Aus der Schuldenkrise einiger Mitgliedsländer der Eurozone, die gemeinhin als Eurokrise definiert wird und wiederum eine Folge der Finanzkrise war, ist die Bundesrepublik in der Tat als Gewinner hervorgegangen. Denn durch das Fluchtkapital sind die Zinsen bei uns früher als in den anderen Ländern gesunken, wodurch der Staat hohe Zinszahlungen gespart hat, die er andernfalls für seine Schulden hätte zahlen müssen. Aus diesem Grund findet in Europa derzeit eine Spaltung und Renationalisierung der Politik statt, was ich sehr bedauere, weil dies unseren größten politischen Fortschritt der letzten vier Jahrzehnte bedroht, nämlich die europäische Integration.

SB: Sie haben sich in Ihrem Buch für die Stärkung supra- oder internationaler Institutionen und Organisationen zur Bewältigung globaler Krisen, unter anderem der Ressourcenverknappung, ausgesprochen. Nimmt man die Troika als ein im Grunde aus supranationalen Organisationen zusammengesetztes Konstrukt, dann scheint es gerade so zu sein, daß sich aufgrund der schwachen Rückbindung an demokratische Institutionen Prozesse verselbständigen, die nicht im Interesse der Menschen in Europa sein können.

HS: Das stimmt. Die fehlende Rückkopplung an die nationalen und vor allem an das Europäische Parlament war ein strategischer Fehler. Daß man überhaupt zugelassen hat, daß eine solche Struktur länger als eine kurze Notfallphase von drei Monaten hinaus agieren kann, ohne daß die Verantwortlichen rechenschaftspflichtig gemacht werden, war ein krasses Versagen unserer europäischen Parlamentarier.

SB: In Ihrem Filmtitel "Macht ohne Kontrolle" heben Sie im Grunde darauf ab, demokratische Kontrolle wiederherzustellen. Halten Sie dies wirklich für machbar?

HS: Es kommt darauf an, wie man Machbarkeit definiert. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) muß in einen europäischen Währungsfonds und damit in ein Organ der Europäischen Union übergeführt werden. Als Organ der Europäischen Union würde er dem Europäischen Rechnungshof und der Europäischen Rechtsprechung durch den EuGH und damit natürlich auch der Kontrolle durch das Europäische Parlament unterliegen. Das wäre durchaus machbar. Genau das hat das Parlament dann verspätet und zaghaft mit vagen Formulierungen auch in seinem Bericht zur Troika-Politik gefordert. Herr Juncker hat bei seinem Antritt als Kommissionspräsident versprochen, daß er darauf hinwirkt. Leider kann ich keinerlei Initiativen erkennen, daß das irgendwie in die Wege geleitet wird. Die nationalen Regierungen der Eurostaaten haben von sich aus natürlich kein Interesse daran, das in eine europäische Institution zu überführen, denn so, wie es jetzt ist, können sie frei und unkontrolliert agieren.

SB: Das Europäische Parlament setzt sich wesentlich aus den Parteien zusammen, die auch in den jeweiligen Ländern die Regierungsmehrheit bilden. Können Sie sich vorstellen, daß das Europäische Parlament überhaupt den Biß entwickelt, um das Interesse der Mehrheit der Menschen, nicht von der Sparpolitik betroffen zu werden, durchzusetzen?

HS: Wenn die europäischen Bürger schlau genug wären, die Politiker bzw. die Parteien zu wählen, die dafür einstehen, wäre das ohne weiteres machbar. Das ist aber nicht geschehen. Mit der Mehrheit im Europäischen Parlament haben wir genau die Konstruktion, die wir verdienen, weil sie von den Bürgern Europas gewählt worden ist. Die Menschen haben ihre Wahl nach ganz oberflächlichen Gesichtspunkten getroffen. Selbst die Betroffenen in Spanien oder Portugal haben mehrheitlich konservativ gewählt.


Harald Schumann bei der Diskussion - Foto: © 2015 by Schattenblick

Demokratische Teilhaberschaft in Anspruch zu nehmen hat Folgen ...
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Manche Kritiker halten die EU für ein Projekt der globalen Konkurrenz, das sich insbesondere gegen China und die USA richtet. Teilen Sie diese Ansicht?

HS: Nein, die globale Konkurrenz ist nur ein Zerrbild dessen, was wir an globalisierter Ökonomie haben. 60 Prozent des gesamten Welthandels werden innerhalb von Konzernnetzwerken abgewickelt. Wo ist da die Konkurrenz, wo ist da überhaupt der Markt? Das eigentliche Problem liegt in den supranationalen ökonomischen Strukturen, die alle Grenzen sprengen. Dem gegenüber stehen nationale Politiker, Regierungen und Institutionen, die sich gegenüber ihren eigenen Wählerschaften legitimieren müssen. Dadurch wird das Zerrbild der Konkurrenz zwischen den Blöcken und Nationen immer wieder aufs neue belebt, was im wirklichen Leben dazu führt, daß alle Staaten um die besten Angebotsbedingungen für internationale Investitionen konkurrieren. Das ist eine merkwürdige Situation, denn sie verwandelt die Staaten zunehmend in Marktstaaten.

SB: Was bedeutet, daß Staaten durchaus um Investitionen konkurrieren, indem jeder Staat versucht, seine Wirtschaftsstrukturen zugunsten des Standortes bestmöglich zu gestalten.

HS: Richtig. Mit verheerenden Folgen und einem Wettlauf nach unten, der permanent notwendige globale Maßnahmen etwa zur Eindämmung des Klimawandels geradezu verhindert.

SB: Auch hinsichtlich der geplanten Einführung des TTIP wird von den Kritikern die These vertreten, daß sich die Stärkung des transatlantischen Handels insbesondere gegen China richten würde. Wie sehen Sie das vor dem Hintergrund des intransparenten Charakters der Verhandlungen und des Anspruchs auf eine Demokratisierung solcher Prozesse?

HS: Die Vorstellung, daß Amerikaner und Europäer gemeinsam irgendwelche Normen festlegen, denen sich dann anschließend die Chinesen unterwerfen müßten, haben mit dem wirklichen Geschehen in der Wirtschaft überhaupt nichts zu tun. Im Moment ist es so, daß die Chinesen überwiegend europäische Lebensmittelprodukte kaufen, weil sie relativ sicher sein können, daß bestimmte Normen eingehalten werden. Umgekehrt werden bestimmte chinesische Produkte vor allem im Lebensmittelbereich nicht nach Europa importiert, weil dort solche Normen nicht gelten.

Beim transatlantischen Handelsvertrag geht es insbesondere darum, wie neue Regeln in Zukunft gemacht werden müssen und sollen. Das heißt, daß sich die zuständigen Institutionen, bevor neue Gesetze in Europa oder Amerika gemacht werden, erst einmal untereinander abstimmen. Das ist ein intransparenter, supranationaler Prozeß, der sich der parlamentarischen Kontrolle entzieht, weil er quasi im vorgesetzgeberischen Raum stattfindet, wo gut organisierte Lobbyisten um so größeren Einfluß haben. Interessanterweise gibt es große Mehrheiten in vielen europäischen Ländern gegen das TTIP, und das, obwohl die allermeisten Menschen gar keine Ahnung haben, worum es dabei konkret geht.

Warum gibt es negative Einstellungen dagegen? Weil die Menschen spüren, daß es zu einer wachsenden Machtverlagerung in diesem transnationalen Raum kommt, in dem Konzerne und deren Lobbynetzwerke sehr einflußreich sind, und sie selbst immer weniger Einfluß darauf nehmen können, egal, welche Politiker sie wählen, abwählen oder austauschen. Dagegen wehren sich die Menschen und wollen in einen Raum zurück, wo Demokratie noch möglich ist. Insofern ist die Protest- bzw. Abwehrbewegung gegen TTIP auch ein positives Zeichen dafür, daß in breite Bevölkerungskreise allmählich das Bewußtsein eindringt, daß über ihre Köpfe hinweg Prozesse in Gang kommen, die sich nicht mehr nachvollziehen lassen und man sich Wirtschaftsmächten ausliefert, gegen die man keine Handhabe mehr hat, selbst wenn man andere Parteien wählt. Deswegen sind Anti-TTIP-Proteste gut.

SB: Daß sich die sozialen Unterschiede zwischen den EU-Staaten vergrößern, scheint vor allem der politischen Rechten zu nützen. Ihre Parteien fordern eine Renationalisierung der Politik, um den Zugriff auf die eigenen sozioökonomischen Entwicklungen wieder zu stärken. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

HS: Dahinter steht ein zutiefst demokratischer Impuls, das muß man ehrlicherweise sagen, auch wenn die Rechtsparteien das für sich instrumentalisieren. Das große Problem dabei ist, daß die Nationalisten oder Rechtspopulisten die Rückkehr zu Verhältnissen versprechen, die es so nie wieder geben wird. Angenommen, Marine Le Pen würde die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gewinnen und ihr Programm tatsächlich einlösen, daß Frankreich die Europäische Union verläßt. Damit wäre das Projekt am Ende, aber das würde gleichzeitig einen dramatischen Wohlstandsverlust bedeuten. Der Schaden für die Wirtschaft wäre enorm. Die europäische Ökonomie ist hochintegriert. Jedes mittelständische Unternehmen mit tausend Mitarbeitern hat Filialen in fünf, sechs oder sieben europäischen Ländern. Abermillionen von Verträgen sind in Euro denominiert. Im Falle, daß sie rückabgewickelt und umgeschrieben werden und wir womöglich wieder europäische Visa-Regelungen kriegen, müßte jeder Staat wieder seine eigene Währung einführen. Die Verluste wären gigantisch. Die gesamte europäische Arbeitsteilung könnte nicht mehr in der gleichen Form wie bisher ablaufen. Insofern ist eine wachsende Renationalisierung extrem riskant. Am Ende stünden Arbeitslosigkeit, Verelendung und Not. Darum streite ich so vehement dafür, daß wir ein starkes Europäisches Parlament kriegen und daß die Leute sich darüber bewußt werden, wie wichtig es ist, wen wir dort hineinwählen. Das ist zum Teil sogar wichtiger als die Frage, wen wir in den Bundestag wählen.

SB: Die Krise dauert seit 2008 an. Inzwischen pumpt die EZB mit Quantitative Easing noch mehr Geld in den Markt, was dazu führt, daß das Finanzkapital im Verhältnis zur materiellen Wertschöpfung ungeheuer aufgebläht ist. Worauf läuft das Ihrer Ansicht nach hinaus - auf eine weiche Landung oder einen großen Crash?

HS: Wenn mir das klar wäre, wüßte ich, welche Optionen ich jetzt kaufen müßte und wäre bald ein reicher Mann. Die Wahrscheinlichkeit für eine drastische Korrektur der Börsenwerte, die schon wieder maßlos überhöht sind, ist jedenfalls hoch. Ich denke, 20 Prozent nach unten könnte passieren. Wir werden sicherlich noch die eine oder andere Bankenschieflage in Europa erleben, aber darüber hinaus erwarte ich keinen vergleichbaren Crash wie 2008. Denn die Erfahrung lehrt, daß es ungefähr eine Generation dauert, bis die Akteure an den Finanzmärkten vergessen, wie groß die Risiken sind.

SB: In der heutigen Veranstaltung stand die Krise in Griechenland im Mittelpunkt. Wie wird sich die von Syriza dominierte griechische Regierung nach Ihrer Einschätzung aus dem Konflikt mit den sogenannten Institutionen herausmanövrieren?

HS: Ich bin kein Experte für die Syriza-Partei. Mein Thema war: Was wollen die Troikaner? Von meiner Beobachtung her erwarte ich, daß von beiden Seiten im letzten Moment ein Kompromißangebot geschmiedet wird, was bedeuten könnte, daß Syriza Maßnahmen ergreifen muß, die gegen ihr Wahlprogramm verstoßen, und deswegen ein Referendum ausrufen muß. Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Das große Problem für Syriza ist, daß der eine Teil für ein Nein und der andere für ein Ja mobilisieren wird mit der Gefahr, daß sich die Regierungspartei dabei spalten könnte. Deswegen wird sie um jeden Preis versuchen, das Referendum zu vermeiden. Aber ich glaube nicht, daß sie um den Volksentscheid herumkommen wird. Das liegt auch an der widersprüchlichen Haltung der Griechen selber. Die große Mehrheit will unbedingt im Euro-Raum bleiben, aber gleichzeitig keine Unterwerfung unter die Forderung der Kreditgeber leisten. Wenn die Kreditgeber aber sagen, das eine ist ohne das andere nicht zu haben, müssen sich die Griechen zwischen den beiden Seiten entscheiden.

SB: Herr Schumann, vielen Dank für das Gespräch.


Veranstaltungsplakat im Eidelstedter Bürgerhaus - Foto: 2015 by Schattenblick

Foto: 2015 by Schattenblick

19. Mai 2015


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