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INTERVIEW/021: Irland geht alle an - Tommy McKearney, ein Veteran im Gespräch (SB)


Interview mit Tommy McKearney am 7. Januar 2013 in Monaghan Town



Tommy McKearney nahm als IRA-Freiwilliger 1980 am ersten Hungerstreik im nordirischen Gefängnis Long Kesh gegen die dortigen Haftbedingungen teil. In Irland gilt er als einer der schärfsten Kritiker der Abkehr der Sinn Féin vom Sozialismus und des Eintritts des einstigen politischen Arms der IRA in den parlamentarisch-parteipolitischen Betrieb in Belfast und Dublin. Heute betätigt er sich als Funktionär der Independent Workers Union of Ireland (IWU). Vermutlich weil McKearney von seiner Ablehnung des kapitalistischen Systems keinen Hehl macht, hat bis heute keine der großen irischen Zeitungen, weder die Irish Times noch der Irish Independent, sein 2012 erschienenes Buch "The Provisional IRA - From Insurrection to Parliament", [1] das von Experten gleich als neues Standardwerk über die nordirischen Troubles gefeiert wurde, rezensiert. Tommy McKearney wohnt heute in der Republik Irland in der grenznahen Stadt Monaghan, wo er sich am 7. Januar 2013 für ein Interview mit dem Schattenblick zur Verfügung stellte.

Bild von Bobby Sands von republikanischen Symbolen, darunter der Phönix, der die Ketten der Knechtschaft sprengt, umrahmt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wandmalerei zu Ehren von Bobby Sands an der Westbelfaster Falls Road
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr McKearney, wie und zu welchem Zeitpunkt sind Sie zu dem Standpunkt gekommen, daß der bewaffnete Kampf der IRA in eine Sackgasse führte?

Tommy McKearney: Es ist sehr schwer, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, denn er ist das Ergebnis jahrelanger Überlegungen und eines wachsenden Unbehagens bezüglich bestimmter negativer Aspekte der militärischen Kampagne der IRA. Erste Zweifel hinsichtlich der Effektivität des bewaffneten Kampfes kamen mir während der Zeit des Hungerstreiks Anfang der achtziger Jahre im Gefängnis Long Kesh. Damals konnte ich mich der Einsicht nicht verschließen, daß der britische Staat tatsächlich eine langanhaltende negative Berichterstattung und die riesige Sympathiewelle im Norden und Süden Irlands zur Unterstützung der IRA-Hungerstreikenden hatte einfach wegstecken können. Das hat bei mir Zweifel in Hinblick auf die IRA-Strategie, den Abzug des britischen Staates aus Nordirland mit militärischen Mitteln zu erzwingen, aufkommen lassen.

SB: In der herkömmlichen Geschichtsbetrachtung gelten die Hungerstreiks und der Sieg des sterbenden Bobby Sands bei einer Nachwahl zum britischen Unterhaus 1981 im Wahlkreis Fermanagh-South Tyrone als propagandistischer Höhepunkt der republikanischen Offensive gegen London und als logischer Beginn des Übergangs vom bewaffneten Kampf der IRA hin zur Beteiligung der katholisch-nationalistischen Sinn Féin am politischen Prozeß einschließlich der Mitübernahme der Regierungsverantwortung in Nordirland an der Seite der einst allein regierenden, probritischen Unionisten. Wollen Sie noch während des PR-Höhenflugs der republikanischen Bewegung wirklich die militärische Unbezwingbarkeit der Briten bzw. die Begrenztheit der Vorgehensweise der IRA erkannt haben?

TMcK: Genauso ist es. Halten wir einmal fest, daß die Briten während des Hungerstreiks nicht nachgegeben haben - jedenfalls nach außen hin. Erst nach der Beendigung des Protests der IRA-Gefangenen hat London weitreichende Zugeständnisse gemacht, was man natürlich als Erfolg der Massenmobilisierung und des ungeheuren öffentlichen Drucks bewerten darf. Nichtsdestotrotz fiel mir als Hungerstreikendem vor allem die Begrenztheit des erzielten Ergebnisses auf, das im Grunde genommen nichts anderes als die nur teilweise Rückkehr zum früheren Status quo ante darstellte, als die IRA-Häftlinge den Status von Kriegsgefangenen genossen. Darüber hinaus drängten sich bei mir Fragen bezüglich der Realisierbarkeit der IRA-Strategie des "langen Krieges", der zum vollständigen Abzug der britischen Streitkräfte aus Nordirland führen sollte, auf.

Mit Blick auf die Notwendigkeit einer Versöhnung zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland sowie zwischen Irland und Großbritannien kamen mir einzelne Aspekte des bewaffneten Kampfes immer kontraproduktiver vor. Daß die IRA die Six Counties schwer regierbar bzw. verwaltbar machen konnte, war keine Frage. Doch ich mußte erkennen, daß die IRA die Briten niemals zum vollständigen Abzug aus Nordirland würde zwingen können, solange sie von einer beträchtlichen Mehrheit der protestantischen Bevölkerung unterstützt werden. Der bewaffnete Kampf darf niemals zu einer unumstößlichen ideologischen Größe werden; es wäre sogar ein schwerer Fehler, dies zu tun. Stellt man fest, daß der Krieg, den man führt, das gegenteilige Ergebnis dessen zeitigt, was man ursprünglich gewollt hat, dann muß die Frage nach dem besten Weg zu seiner Beendigung gestellt werden. Das habe ich damals dann konsequenterweise gemacht.

SB: Inwieweit haben die Troubles und das Blutvergießen, das damit einherging, den religiösen Graben zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland weiter vertieft, und wäre es vor 1969 vielleicht noch möglich gewesen, den Ausbruch der Gewalt zu verhindern, oder war er aufgrund der anti-katholischen Verfaßtheit des nordirischen Staates unvermeidlich?

Ein nachdenklicher Tommy McKearney im Porträt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Tommy McKearney
Foto: © 2013 by Schattenblick

TMcK: Ich halte nichts davon, irgendeine historische Entwicklung als unvermeidlich zu bezeichnen. Gleichwohl gab es beim damaligen nordirischen Staat Aspekte, die ihn nur sehr schwer reformierbar machten. Der nordirische Staat war ein entlang der Konfessionslinie zwischen Katholizismus und Protestantismus tief gespaltener Staat. Er ist es heute immer noch. Nach der Teilung Irlands 1920 ist es den Eliten in dem nordirischen Staat fast fünf Jahrzehnte lang weitestgehend gelungen, die gesellschaftlichen Klassenwidersprüche durch die Schaffung eines homogenen unionistischen Blocks zu übertünchen. Um sich der Zustimmung der protestantischen Arbeiterschicht zu versichern, mußten ihr Zugeständnisse gemacht werden. So wurden Protestanten bei der Vergabe von Sozialwohnungen und Arbeitsplätzen in der Privatindustrie sowie im öffentlichen Dienst bevorzugt. Darüber hinaus wurde ihre Kultur - Oraniermärsche, britische Staatssymbole, strenge Einhaltung der Sonntagsruhe etc. - gefördert, die der Katholiken - gälische Sprache, die Trikolore, irischer Fußball und Hurling, deren Spiele traditionell am Sonntag stattfinden - als fremdartig und staatsfeindlich betrachtet.

Die Spaltung der Gesellschaft entlang der Konfessionslinie geht auf die Zeit des Aufstandes der United Irishmen 1798 zurück. Diese riesige Bewegung ist 1791 in Belfast entstanden und propagierte die republikanischen Werte der französischen Revolution - Trennung von Kirche und Staat, Abschaffung der Monarchie sowie Gleichberechtigung der Bürger. Diese Frühform des irischen Republikanismus hatte auch viele Bewunderer in Großbritannien und stellte daher eine Gefahr für die Monarchie dar. Beim Aufstand der United Irishmen kam es im Nordosten Irlands mitunter zu den heftigsten Kämpfen. Auf Seiten der Rebellen kämpften Katholiken und Presbyterianer, die damals beide gegenüber der anglikanischen Staatskirche benachteiligt waren, gemeinsam gegen die königliche britische Armee. Bei der Niederschlagung des Aufstands kamen rund 30.000 Menschen ums Leben. Um einen Keil zwischen die protestantischen und katholischen Arbeiter und Kleinbauern zu treiben, wurde 1796 der Orange Order gegründet, dessen Name an den protestantischen Wilhelm von Oranien und dessen Sieg über den katholischen Jacob II. im Kampf um die britische Krone 1690 erinnert. Jener Krieg war weitestgehend in Irland geführt worden. Dort fand auch die entscheidende Battle of the Boyne an den Ufern des gleichnamigen Flusses statt.

Der von den Briten zu ihren eigenen Zwecken propagierte Oranier-Orden und die protestantische Vormachtstellung, die einer Teile-und-Herrsche-Politik dienten, waren tragende Säulen des nordirischen Staats von Anfang an gewesen. Deswegen stießen in den sechziger Jahren liberale Unionisten um den damaligen Premierminister Captain Terence O'Neill auf heftigsten Widerstand mit der vorsichtigen Initiative, Nordirland im klassisch-bürgerlichen Sinne zu reformieren, der Diskriminierung von Katholiken ein Ende zu bereiten und freundschaftliche Beziehungen zur Republik im Süden aufzunehmen. Das Problem für die unionistischen Reformer bestand darin, daß ihr Vorhaben an den Grundfesten des nordirischen Staats rüttelte und für viele Protestanten deshalb inakzeptabel war. Das machte Nordirland von innen heraus unreformierbar. Die einzige Instanz, die Reformen und grundlegende Bürgerrechte für alle hätte durchsetzen können, war Großbritannien. Doch für London bestand die Gefahr, daß die protestantischen Hardliner, sollte die britische Regierung zu sehr auf Reformen drängen, Nordirland einseitig für unabhängig erklären könnten, wie es bereits 1965 die Weißen um Ian Smith in Rhodesien mit der Unilateral Declaration of Independence (UDI) getan hatten. Aus Sorge um den Erhalt des Vereinigten Königreiches in seiner derzeitigen und noch jetzt bestehenden Form haben Großbritanniens Politiker die Gelegenheit, Nordirland zu reformieren, nicht ergriffen und statt dessen die Dinge ihren Lauf nehmen lassen.

Die Sorge war nicht ganz unbegründet. Im Dezember 1968 sah sich O'Neill dazu gezwungen, seinen damaligen Innenminister William Craig zu entlassen, weil er hinter seinem Rücken eine reaktionäre Gruppe gebildet hatte, die Nordirland einseitig für unabhängig erklären wollte. Zwei Monate zuvor hatte Craig als Innenminister eine von ihm verbotene Demonstration in Derry gegen die soziale Benachteiligung von Katholiken mit brutaler Polizeigewalt auflösen lassen, weil er hinter der gerade gegründeten Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) ein IRA-Komplott vermutete. Nach dem Rauswurf aus der Regierung verließ Craig die Ulster Unionist Party (UUP), um mit Loyalisten und UUP-Dissidenten die neo-faschistische Vanguard-Bewegung ins Leben zu rufen. Diese verwandelte sich bald in die Vanguard Unionist Progressive Party (VUPP) und spielte 1974 eine wichtige Rolle, als ein Generalstreik der protestantischen Arbeiterschaft Nordirlands das Sunningdale-Abkommen, das eine interkonfessionelle Regierung in Belfast und einen Nord-Süd-Rat für ganz Irland vorsah, zu Fall brachte. Zu Craigs wichtigsten Verbündeten innerhalb der Vanguard gehörten David Trimble und Reg Empey. Nach der Auflösung der VUPP traten beide Männer den Ulster Unionists bei. Als UUP-Vorsitzender wurde Trimble durch die Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 Erster Minister Nordirlands und Friedensnobelpreisträger. 2005 übergab er die UUP-Führung an Empey.

Ich verweise auf die Vanguard-Vergangenheit und die späteren Karrieren von Trimble und Empey, um zu demonstrieren, daß die Angst der Briten vor einer Wiederholung dessen in Nordirland, was die weißen Rhodesier wenige Jahre zuvor getan hatten, nämlich sich einseitig für unabhängig zu erklären, begründet war. Craig und die Seinigen waren keine randläufigen Figuren, sondern sie bildeten eine mächtige Strömung innerhalb des unionistischen Blocks. Craig, Trimble und Empey gehörten alle dem Oranier-Orden an. Also haben die Briten damals entschieden, sich in den politischen Streit um Bürgerrechte in Nordirland nicht einzumischen und das Feld den Unionisten zu überlassen - und zwar aus ganz pragmatischen realpolitischen Gründen, nämlich um die Einheit des Vereinigten Königreichs nicht zu gefährden. Wer glaubt, das Verteidigungsministerium in London verfolge keine strategischen Interessen in Nordirland, hat den Blick für die Wirklichkeit verloren. Jeder Staat mit einer Insel 40, 50 Kilometer vor seiner Küste hat ein Interesse daran, das Geschehen dort im eigenen Sinne zu beeinflussen. Das versteht sich doch von selbst.

Vorderseite eines renovierten Denkmals - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die alte Markthalle von Monaghan Town
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Wann - wenn überhaupt - haben die IRA und mit ihr Sinn Féin den Kampf um soziale Gerechtigkeit aufgegeben?

TMcK: Das läßt sich schwer sagen, denn es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, was soziale Gerechtigkeit sein könnte. Sinn Féin tritt heute noch als linke sozialdemokratische Partei auf; einige Führungsmitglieder verstehen sich als Sozialisten wie Eoin … Broin zum Beispiel. Doch von einer marxistischen Klassenanalyse sind sie meilenweit entfernt. Auch wenn die IRA in den siebziger Jahren die Schaffung einer sozialistischen Republik in ganz Irland auf ihre Fahne schrieb, hatte das mit Klassenkampf im wirklichen Sinne wenig zu tun. Dazu fehlte innerhalb der Führung von IRA und Sinn Féin die theoretische Grundlage. Das hätte man jedoch, die Absicht dazu einmal unterstellt, nachholen können. Die Voraussetzungen waren vorhanden. Die meisten IRA-Mitglieder stammten aus armen bzw. bescheidenen Verhältnissen. Man hätte sich für einen wissenschaftlichen Sozialismus stark machen, sich weitergebilden und entsprechende Programme erarbeiten können. Man hat es aber nicht getan - vermutlich aus Rücksicht auf die vielen konservativen Katholiken innerhalb der republikanischen Bewegung.

Die Frage nach der ideologischen Ausrichtung hatte sich unter den IRA-Aktivisten und -Sympathisanten im Verlauf der siebziger Jahre immer mehr zugespitzt. Nach dem Ende des Hungerstreiks 1981 mußte eine Entscheidung über den künftigen Kurs - sowohl militärisch als auch politisch - getroffen werden. Es standen drei Möglichkeiten zur Debatte: erstens, so weiter machen - wobei schon damals klar war, daß das in einer Sackgasse enden würde; zweitens, der Aufbau einer Massenorganisation, um für soziale Veränderungen zugunsten der arbeitenden bzw. arbeitslosen Bevölkerung in ganz Irland und auf beiden Seiten der Konfessionslinie zu kämpfen; und drittens, der Einstieg in die parlamentarische Politik - diese Option wurde schließlich genommen. Den Umschwung hin zum Parlamentarismus bringe ich mit dem Wahlkampf Ende 1981 in Verbindung, als Owen Carron, der ehemalige Wahlkampfleiter von Bobby Sands, nach dessen Tod im Hungerstreik als sein Nachfolger im britischen Unterhaus für den Bezirk Fermanagh-South Tyrone kandidierte und gewann. Ich kann mich noch daran erinnern, wie verwundert ich war, in der regionalen Presse die Sinn-Féin-Wahlwerbung zu lesen, derzufolge Carron der "nationalistische" Kandidat sei bzw. die Stimmen der "nationalistischen", also katholischen Wählerschaft am meisten verdiene.

Heute ist es üblich, von der nationalistischen Gemeinde Nordirlands zu sprechen. Damals war es nicht so. In den ländlich geprägten IRA-Hochburgen Fermanagh, Tyrone und South Armagh hatten die Katholiken mit Nationalismus nichts am Hut. Die Leute, die den nordirischen Staat und die Teilung Irlands ablehnten, verstanden sich in erster Linie als Republikaner. Dies hing mit der langjährigen Feindschaft zwischen der IRA und der konservativ-katholischen Nationalist Party Nordirlands um Joseph Devlin und Eddie McAteer zusammen. Letztere war nach der Teilung der Insel von nordirischen Mitgliedern der früheren Irish Parliamentary Party (IIP) gegründet worden und schien sich aus Sicht der IRA mit der britischen Herrschaft abgefunden zu haben. Im Gegensatz zu den Sinn-Féin-Vertretern, die eine strikte Boykott-Haltung befürworteten, nahmen erfolgreiche Kandidaten der Nationalist Party ihre Sitze im britischen Unterhaus sowie im nordirischen Parlament Stormont ein. Damals hätte sich kein echter Republikaner als Nationalist bezeichnet. Heute sind die beiden Begriffe praktisch synonym.

Ich kann mich heute noch an meine Empfindung erinnern, als Anfang der achtziger Jahre als Ausdruck einer grundlegenden Veränderung im Sinn-Féin-Wahlkampfwerbematerial erstmals die Bezeichnung "nationalist community" für die nordirischen Katholiken verwendet wurde. Als Republikaner und Sozialist lehne ich ab, mich als Nationalist zu bezeichnen. Eher könnte ich mich mit der Bezeichnung Katholik anfreunden, obwohl ich seit mehr als 40 Jahren keine Religion mehr praktiziere. Als ich in Fermanagh aufwuchs, haben wir in meiner Familie die Angehörigen des Ancient Order of Hibernians, die prominentesten Vertreter eines irischen Nationalismus, als katholische Oranier bezeichnet.

Der politische Umschwung hat bei Sinn Féin bewirkt, daß sie sich heute in Nordirland als politische Vertreterin der katholischen Bevölkerung versteht, um deren Stimmen wirbt und sich damit vom Ziel der Schaffung einer säkularen Republik, in der die religiöse Zugehörigkeit keine Bedeutung mehr spielt, verabschiedet hat. Sie hat kein Interesse, für den Sozialismus und die Arbeiterklasse einzutreten, denn das würde die Wähler der Mittelschicht abschrecken und den Versuch der Partei gefährden, südlich der Grenze die einst mächtige, wegen der Bankenkrise in Mißkredit geratene Fianna Fáil als führende republikanische Partei zu beerben. Als Verfechterin einer nationalistischen statt sozialistischen Ideologie macht sich Sinn Féin für Fianna Fáil, die noch konservativere Fine Gael und selbst für Wortführer einer neoliberalen Wirtschaftspolitik wie den derzeit parteilosen Ex-Justizminister Michael McDowell von den untergegangenen Progressive Democrats (PD) zur möglichen Partnerin in einer künftigen Regierungskoalition in Dublin. Mit Sozialismus oder dem Einsatz für die Arbeiterklasse würde man sich gegenüber all diesen Fraktionen im Dubliner Parlament und selbst gegenüber der sozialdemokratischen Labour Party ins Abseits stellen.

Wegen der linken Gesinnung vieler IRA-Freiwilliger mußten die Verantwortlichen innerhalb der Sinn-Féin-Führung deshalb sehr behutsam vorgehen und mehrere Jahre dafür verwenden, um den Abschied vom erklärten Ziel einer sozialistischen Republik Irland über die Bühne zu bringen. Dies erklärt zum Beispiel, warum die Gruppe um Gerry Adams und Martin McGuinness ihre Machtergreifung auf dem Parteitag 1986 in Dublin als Sieg der linksradikalen Erneuerer aus dem Norden gegen eine rechte, katholisch-konservative Altführung um Ruairí Ó Brádaigh und Dáithí Ó Conaill aus Dublin verkaufte. (Nach der historischen Entscheidung einer Mehrheit der Delegierten für den Antrag von Adams und McGuinness, gewählte Sinn-Féin-Vertreter sollten künftig ihren Sitz im irischen Parlament einnehmen dürfen - der Boykott gegen die Volksvertretungen in Belfast und London blieb bestehen -, traten Ó Brádaigh und Ó Conaill nicht nur als Sinn-Féin-Präsident und -Vizepräsident zurück, sondern ganz aus der Partei aus und gründeten mit ihren Anhängern die Republican Sinn Féin, die heute als politischer Arm der Splittergruppe Continuity IRA gilt - Anm. d. SB-Red.)

Viele Delegierte, die damals Adams zum neuen Parteivorsitzenden wählten, glaubten, damit für einen sozialistischen Kandidaten zu stimmen. Rückblickend ist man natürlich schlauer. Ruairí … Brádaigh mag bis heute ein konservativer Katholik geblieben sein, doch in Sachen Wirtschaftspolitik unterscheidet sich Adams von ihm nicht im geringsten. In Nordirland tritt Sinn Féin für eine Senkung der Unternehmenssteuer ein, angeblich um ausländische Investoren anzulocken, macht sich für sogenannte Public Private Partnerships (PPI) stark und setzt ohne großen Widerspruch die von der konservativ-liberalen Regierung in London beschlossenen Sozialkürzungen um. Im Süden befindet sie sich in der Opposition und wettert dort gegen die Abwälzung der irischen Bankenschulden auf die Steuerzahler. Doch damit vertritt sie dieselbe Position wie rechte Ökonomen vom Schlage eines David McWilliams, die einen Schuldenschnitt fordern, weil die irische Wirtschaft sonst niemals mehr auf die Beine kommen wird.

Sinn Féin verhält sich zum Sozialismus wie Fianna Fáil seit Jahrzehnten zum irischen Republikanismus und zum Ziel der Wiedervereinigung. Beides steht im jeweiligen Parteiprogramm und daher übt sich die Führung hin und wieder in Lippenbekenntnissen; die Mehrheit der Mitglieder versteht, daß dies zum politischen Showgeschäft gehört, nur eine kleine Minderheit hält am ursprünglichen Vorhaben fest. Vor kurzem ließ Sinn Féin Mitglieder der eigenen Jugendorganisation sogar Flugzettel mit dem Konterfei von Che Guevara verteilen. In der Parteiführung nimmt niemand so etwas ernst. Damit werden die Jugendlichen lediglich bei der Stange gehalten. Man geht davon aus, daß sie mit zunehmender Reife zur Einsicht in die politische "Realität" gelangen werden.

Tommy McKearney im Büro der IWU in Monaghan - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Ein wesentlicher Aspekt des Karfreitagsabkommens war die Reform des nordirischen Staates, insbesondere der einst protestantisch dominierten Polizei. Inwieweit ist das Reformvorhaben gelungen?

TMcK: In Nordirland ist es zu weitgehenden Reformen im Staatswesen gekommen. Es wäre ein schwerer Fehler, dies zu leugnen. Der frühere Oranier-Staat existiert nicht mehr; die Zeit des "protestantischen Staates für ein protestantisches Volk" ist vorbei. Das ist der große Unterschied zu früher. Heute wird der Staat von Katholiken und Protestanten gemeinsam verwaltet. Von der Gründung des Staats 1920 bis zur Übernahme der Direktverwaltung aus London 1973 hatte praktisch jeder Protestant, der der Linie des Oranier-Ordens und der allmächtigen Ulster Unionist Party treu blieb, für sich und seine Familie ein gutes Auskommen. Er bekam Arbeit in der protestantisch dominierten Privatwirtschaft, vornehmlich in der damaligen Schwerindustrie im Großraum Belfast, oder kam irgendwo im Staatswesen unter, sei es als Busfahrer oder Richter. Protestanten, die aufmuckten, von denen es einige gab, Gewerkschaftler, Kommunisten etc., bekamen dagegen Schwierigkeiten, wurden übergangen oder entlassen. Wollte der staatstreue Durchschnittsprotestant, daß sein Sohn oder seine Tochter nach der Schule eine Einstellung bekam, so brauchte er nur beim Großmeister der örtlichen Loge des Oranier-Ordens, der zugleich ein hohes Tier bei der Ulster Unionist Party war, vorzusprechen, und der kümmerte sich dann darum. Zwar gibt es heute immer noch Günstlingswirtschaft wie überall auf der Welt, doch so stramm durchorganisiert wie damals ist es nicht mehr. Posten müssen ausgeschrieben werden, und es gibt Gesetze, welche die Benachteiligung aufgrund von Geschlecht, Herkunft oder Religion verbieten. Offene Diskriminierung von Katholiken existiert nicht mehr. Schließlich regieren heute die Protestanten der Democratic Unionist Party (DUP) und der Ulster Unionist Party zusammen mit den Katholiken der Sinn Féin und der Social Democratic Labour Party (SDLP). Die Lage hat sich also qualitativ vollkommen verändert.

Die größten Auswirkungen dieser Veränderung bekommt die protestantische Arbeiterklasse zu spüren. Ihre Angehörigen erleben zum erstenmal seit hundert, vielleicht sogar zweihundert Jahren, daß es kein Vorteil ist, ein Protestant zu sein und daß man gegenüber dem katholischen Nachbarn nicht mehr automatisch bevorzugt wird. In den protestantischen Arbeitervierteln, wo Arbeitslosigkeit und Armut vorherrschen, ist man über diese Entwicklung alles andere als glücklich - was nicht schwer nachzuvollziehen ist. In der Folge kann sich die unionistische Führung nicht mehr wie selbstverständlich die Treue der protestantischen Arbeiterschicht erkaufen oder auf sie setzen. Die jüngsten Flaggenproteste sind das deutlichste Zeichen dieses Bruchs zwischen protestantischer Mittel- und Unterschicht.

Aufgrund grundlegender Reformen wird heute der Police Service of Northern Ireland (PSNI) als Institution von der katholischen Bevölkerung weit mehr akzeptiert als früher die protestantisch-dominierte Royal Ulster Constabulary (RUC). Letztere verstand sich als Bollwerk protestantisch-unionistischer Herrschaft und wurde von den Katholiken auch als solche betrachtet. Die Akzeptanz des PSNI bei der katholischen Bevölkerung Nordirlands ist jedoch nicht uneingeschränkt. Obwohl der PSNI viele Katholiken rekrutiert und Sinn Féin zur Zusammenarbeit aufruft, bestehen nach wie vor große Defizite im Polizei- und Justizwesen Nordirlands. Dafür kann die Polizei nichts, denn die Politiker - in diesem Fall der nordirische Justizminister David Ford von der überparteilichen Alliance Party und die britische Nordirland-Ministerin Therese de Villiers samt Vorgänger - tragen die Verantwortung. Bei der nordirischen Polizei und Justiz herrscht nach wie vor Ausnahmezustand. In Nordirland gibt es immer noch Gerichte, bei denen im Gegensatz zur üblichen Praxis in Großbritannien und der Republik Irland nur Richter, aber keine Geschworenen über Schuld oder Unschuld des Angeklagten entscheiden. Verdächtige können bis zu 14 Tagen ohne Anklageerhebung inhaftiert und vernommen werden. Man kann zu einer Freiheitsstrafe auf unbestimmte Zeit verurteilt werden. Inzwischen hat man unter dem Begriff der "administrative detention" sogar die Internierung wieder eingeführt.

SB: In der Berichterstattung darüber wird immer nur von drei Fällen, denen von Martin Corry, Gerry McGeogh und Marion Price, gesprochen. Doch was ist mit Aktivisten wie Dee Fennell, die im vergangenen Sommer in Verbindung mit einer Protestaktion gegen einen Oraniermarsch durch das katholische Viertel Ardoyne in Nordbelfast verhaftet wurden und seitdem im Hochsicherheitstrakt Maghaberry sitzen?

TMcK: Sie wurden angeklagt, aber nicht auf Kaution entlassen und müssen deshalb bis zum Prozeß im Gefängnis bleiben. Internierung besteht, wenn jemand, ohne jemals angeklagt oder einem Haftrichter vorgeführt zu werden, einfach ins Gefängnis gesteckt wird. Während der Troubles wurden nicht wenige IRA-Sympathisanten aufgrund dürftigster Beweislage angeklagt und verhaftet. Nach einem oder zwei Jahren in Untersuchungshaft stellten die Behörden die Mängel bei den Beweisen fest, ließen die Anklage fallen und setzten den Verdächtigen auf freien Fuß. Auf diese Weise haben unbescholtene Katholiken mehrjährige Gefängnisstrafen verbüßen müssen, ohne jemals wegen des geringsten Vergehens schuldig gesprochen worden zu sein. Dieser Mißbrauch der Gesetze war damals gang und gäbe.

Im Fall von Martin Corrie, Gerry McGeough und Marion Price sehen die Dinge anders aus. Sie sind vor mehr als eineinhalb Jahren aufgrund irgendwelcher "Erkenntnisse", die unter Verweis auf die angeblichen Erfordernisse der "nationalen Sicherheit" des Vereinigten Königreichs nicht öffentlich gemacht werden, verhaftet worden. Wie wir aus der Geschichte wissen, kann das, was dem einzelnen geschieht, jedem passieren. Derzeit liegt dem britischen Parlament der Entwurf eines neuen Polizei- und Sicherheitsgesetzes vor, der die Einführung von geheimen Beweisen seitens des Staates zuläßt, die lediglich vom Richter, nicht aber vom Angeklagten oder der Verteidigung eingesehen werden dürfen. In der Vergangenheit hat London solche drakonischen Maßnahmen unter Verweis auf die IRA-Bedrohung eingeführt, heute muß die "islamistische Gefahr" dafür herhalten.

Straßenbild einer typischen irischen Kleinstadt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Monaghan Town
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Es steht der Vorwurf im Raum, daß der PSNI auch weiterhin Katholiken diskriminiert. Man vergleicht dabei den rigorosen Einsatz der Polizei im vergangenen Sommer gegen Leute, die gegen Oraniermärsche durch katholische Wohnviertel protestierten, mit der Zurückhaltung gegenüber den loyalistischen Flaggenprotestlern, die ohne Gefahr zu laufen, verhaftet zu werden, ganze Stadtteile lahmlegen, für öffentliche Unordnung sorgen, Autos abfackeln und Polizisten mit Steinen und Molotowcocktails bewerfen. Stimmt der Eindruck der ungleichen Behandlung?

TMcK: Ich denke schon. Doch die Probleme liegen tiefer. Die mangelnde Akzeptanz des PSNI hat weniger mit den Umtrieben irgendwelcher Loyalisten oder republikanischer Dissidenten zu tun, sondern damit, daß die Polizei eine ungerechte kapitalistische Ordnung verteidigen muß. Je länger die Politik an ihrem Austeritätskurs festhält und drastische Kürzungen der staatlichen Ausgaben forciert, um so heftiger werden die Menschen in den armen Arbeitervierteln und die Polizei aneinandergeraten. Ich halte die von den republikanischen Dissidenten ausgehende Bedrohung für verschwindend gering. Sie haben kaum Anhänger. Ihr Rückhalt in der katholischen Bevölkerung liegt bei Null, denn niemand will eine Wiederkehr des Bürgerkrieges. Sie liefern keinen echten Zündstoff für einen Konflikt zwischen der katholischen Bevölkerung und der PSNI. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, daß im Falle einer größeren sozialen Widerstandsbewegung gegen die Kürzungspolitik Londons und Belfasts die drakonischen Polizeigesetze Nordirlands voll zur Anwendung kommen würden. Ich will damit sagen, daß es zwar weitgehende Reformen der nordirischen Polizei gegeben hat, es jedoch jederzeit aufgrund der prekären Sozial- und Wirtschaftslage wieder zu einer Rückkehr staatlicher Willkür und Repression im größeren Ausmaß kommen kann.

SB: Die Flaggenproteste gehen nicht zufällig vom verelendeten Protestantenviertel um die Ostbelfaster Lower Newtownards Road aus.

TMcK: So ist es. Die republikanischen Dissidenten finden ihren stärksten Rückhalt in den ärmsten katholischen Wohngegenden Nordirlands.

SB: Das Erstarken der republikanischen Dissidenten wird Sinn Féin angelastet, da sie angeblich die eigene Basis in den katholischen Arbeitervierteln vernachlässige. Trifft dieser Vorwurf zu?

TMcK: Ich denke schon. Sinn Féin betreibt in Nordirland, was man in den USA "Triangulation" nennt. Sinn Féin hatte ihre Basis ursprünglich unter den armen Katholiken in Nordirland, die auf dem Land oder in den Städten entweder arbeitslos waren oder Niedriglohnjobs hatten. Innerhalb der Sinn-Féin-Führung scheint man der Ansicht zu sein, daß man sich nicht allzusehr um jene Stammwähler kümmern müsse, denn diese hätten aufgrund des konfessionellen Grabens in Nordirland keine politische Alternative. Und um so mehr könne man sich daransetzen, die Wähler der katholischen Mittelschicht für sich zu gewinnen, um die SDLP endgültig als größte nationalistische Partei der Provinz abzulösen. Dasselbe Phänomen kann man auf protestantischer Seite bei der DUP beobachten. Auch sie hat den Kontakt zu ihren früheren Stammwählern verloren.

Das Problem ist, daß die Abwendung der Politik von den Wählern in den Armenvierteln dort zu Apathie führen bzw. in Gewalt umschlagen kann. Nicht zufällig ist die Wahlbeteiligung in protestantisch-loyalistischen Gegenden wie der Lower Newtownards Road und der Shankill Road extrem niedrig. Die Menschen dort haben ihre Hoffnung in die Politik aufgegeben. In den katholischen Arbeitervierteln hält sich Sinn Féin dagegen besser. Die verstärkten Aktivitäten der republikanischen Dissidenten deuten dennoch auf eine gewisse Entfremdung. Um der zu begegnen, macht sich Sinn Féin für die Freilassung von Marion Price stark. Sie hat sich auch in den langanhaltenden Streit um Leibesvisitationen bei gefangenen republikanischen Dissidenten in Maghaberry eingemischt und eine Kompromißlösung zu vermitteln versucht.

Für Sinn Féin besteht jedoch das Problem darin, daß sie in Nordirland inzwischen zum Politestablishment gehört und dadurch jetzt in manchen Fragen weniger Einfluß hat als zu der Zeit, als sie der politische Arm der noch aktiven IRA war. Ihr wichtigstes Druckmittel, die Waffen der IRA, sind "außer Dienst gestellt" worden, wie es damals hieß. Dadurch dürfte es für sie schwieriger geworden sein, Zugeständnisse vom britischen Nordirland-Ministerium zu erzielen. Sinn-Féin-Politiker mögen mit drastischen Worten die Internierung von Marion Price kritisieren. Doch mehr können sie auch nicht machen. Sie haben sich dem Parlamentarismus ausgeliefert. Mit einer Rückkehr zum bewaffneten Kampf können sie nicht drohen, denn der Weg zurück ist für immer versperrt.

SB: Dennoch scheinen Teile des britischen Sicherheitsapparats Sinn Féin nach wie vor als militärischen Feind und weniger als politischen Gegner zu betrachten. Dafür spricht der aktuelle Versuch des PSNI und des britischen Außenministeriums, auf gerichtlichem Weg in den USA die Protokolle der Aussagen früherer Paramilitärs, der sogenannten Boston College Tapes, ausgehändigt zu bekommen, weil sich darin etwas befinden könnte, was Gerry Adams mit der Ermordung der mehrfachen Mutter Jean McConville im Jahre 1972 in Verbindung bringen ließe.

TMcK: Stimmt. Doch nur weil sich Sinn Féin aktiv an der Verwaltung Nordirlands als Teil des Vereinigten Königreichs beteiligt, heißt das noch lange nicht, daß sich ihre Gegner in der Provinz selbst sowie in Großbritannien damit abgefunden haben. Natürlich sind die Regierungen in Dublin und London mit der Einbindung Sinn Féins in den nordirischen Friedensprozeß zufrieden. Das schließt aber nicht aus, daß bestimmte Interessen weiterhin der Partei das Leben schwer machen wollen, erstens, damit sie in Nordirland gefügig bleibt, und zweitens, damit sie im Süden nicht zu einer ernsthaften Bedrohung der dort etablierten Parteien wird. Dreck aufzuwühlen und den Gegner damit zu bewerfen, um ihn öffentlich zu schädigen, gehört zum parlamentarischen Politbetrieb - wenn auch zur häßlichen Seite. Gerry Adams' mögliche Verwicklung in die Ermordung von Jean McConville ist genauso eine Manifestation dieses Phänomens wie die des britischen Premierministers David Cameron in die Abhör-Affäre um das Presseimperium Rupert Murdochs in Großbritannien. Von daher ist der Streit um die sogenannten Boston College Tapes für mich weder überraschend noch ungewöhnlich.

SB: Apropos häßliche Seite des Politbetriebs: Ist es nicht mehr als nur ein Zufall, daß unmittelbar nach dem Sieg der Konservativen bei den letzten Parlamentswahlen in Großbritannien 2011 die beiden ehemaligen IRA-Kämpfer Martin Corry und Gerry McGeogh ohne Anklage, dafür aufgrund irgendwelcher, nicht näher bekannter "Geheimdiensterkenntnisse" verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurden? Da wollten die Tories nach 14 Jahren Labour-Regierung offenbar ein Zeichen setzen, daß in der Nordirlandpolitik ein anderer, für irische Republikaner rauherer Wind weht, oder?

TMcK: Das steht für mich außer Frage. Der nordirische Friedensprozeß gehört zu den größten Erfolgen der Ära von "New" Labour. Tony Blair ist als Taufpate des Karfreitagsabkommens in die Geschichtsbücher gegangen. Die Tories dagegen bezeichnen sich bis heute offiziell als die Conservative and Unionist Party. Sie sind traditionell ganz eng mit den nordirischen Unionisten verbunden. Schließlich war es eine Initiative der britischen Konservativen, Ende des 19. Jahrhunderts die sogenannte Oranier-Karte zu spielen, um die damals geplante Autonomie für ganz Irland im Rahmen des Vereinigten Königreichs zu torpedieren und die regierenden Liberalen zu schädigen. Das brachte Protestanten gegen Katholiken auf und sollte letztlich zur Teilung der Insel führen. Von daher habe ich nicht die geringsten Zweifel, daß die Internierung von Corry und McGeough politisch motiviert war und wenig bis gar nichts mit strafrechtlichen Erfordernissen zu tun hatte. Man darf nicht vergessen, daß auf den Hinterbänken im Unterhaus zahlreiche Ex-Militärs und EU-Gegner für die Tories sitzen. Indem Cameron deren Anti-IRA-Reflexe bedient, kann er sie ruhighalten und vielleicht daran hindern, auf irgendwelche dummen Gedanken zu kommen, einen Aufstand in der EU-Politik anzuzetteln oder sogar zur eurofeindlichen United Kingdom Independence Party (UKIP) überzulaufen.

SB: Seit Wochen wird Nordirland, insbesondere Belfast, von den schwersten Ausschreitungen seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 erschüttert. Gewaltbereite, protestantische Jugendliche protestieren gegen die Entscheidung des Belfaster Stadtrates, die britische Staatsflagge nicht mehr wie bisher jeden Tag, sondern nur noch bei offiziellen Anlässen - also nur 18-mal im Jahr - über der City Hall wehen zu lassen. Die Veränderung der bisherigen Flaggenpraxis geht auf die Sinn Féin und SDLP zurück, die im Stadtrat inzwischen eine relative Mehrheit innehaben und im letzten Dezember einen entsprechenden Antrag durchsetzten. Sinn Féin wird nun vorgeworfen, den konfessionellen Frieden in der Provinz aufs Spiel gesetzt zu haben, um den Unionisten eine Niederlage zu bereiten. Steckt in diesem Vorwurf, Sinn Féin betreibe gezielt Kulturkampf, ein Stück Wahrheit oder ist es einfach so, daß jeder Versuch, Nordirland weniger britisch oder mehr irisch zu machen, zwangsläufig auf den erbitterten Widerstand der Unionisten und Loyalisten stößt?

TMcK: Ich denke, beides trifft zu. Den alten Oranier-Staat gibt es nicht mehr. Ein neues Nordirland ist an seine Stelle getreten. Die Unionisten regieren nicht mehr allein in Stormont, sondern zusammen mit Vertretern der katholischen Sinn Féin und der SDLP. Gleichwohl zeichnet sich die nordirische Gesellschaft nach wie vor durch eine tiefe konfessionelle Kluft aus. Sie spiegelt sich auch im Regionalparlament wider, wo es keine übliche Aufteilung nach bürgerlichen und sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Fraktionen gibt. Vielmehr stehen sich zwei Blöcke, die eine probritisch-protestantisch, die andere katholisch-nationalistisch, feindlich gegenüber. Jedes Jahr müssen diese beiden Blöcke über die Verteilung der Gelder entscheiden, die Belfast vom Londoner Finanzministerium überwiesen bekommt. Die Aufteilung richtet sich nach der Sitzstärke der jeweiligen Parteien. Folglich sind diese stets bemüht, die eigenen Wähler zu mobilisieren. Und da dies leichter bei den Wählern der Mittelschicht gelingt, wird auf beiden Seiten wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen in den jeweiligen Arbeitervierteln genommen.

Vorderansicht des nordirischen Parlamentsgebäudes - Foto: © 2013 by Schattenblick

Stormont Parliament Buildings
Foto: © 2013 by Schattenblick

Folglich kam es letztes Jahr in Stormont zu keiner großen Debatte, als die konservativ-liberale Regierung in London eine Reform der Sozialhilfe beschloß. Zwar wurde das neue Gesetz in Nordirland ein wenig kritisiert, aber schließlich doch in die Tat umgesetzt. Deswegen spielt sich so vieles in der politischen Auseinandersetzung in Nordirland auf der kulturellen Ebene ab. So versucht Sinn Féin zum Beispiel, die Präsenz der gälischen Sprache zu erhöhen und hat sich in Belfast in der Frage des Union Jack durchgesetzt, während die Unionisten eisern auf die Beibehaltung traditioneller Marschrouten der Oranier-Logen durch katholische Wohnvierteln pochen, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Weil die Klassenfrage in Nordirland vermieden wird, streitet man dort über Themen, die in anderen europäischen Ländern als wenig substantiell bis bedeutungslos angesehen werden. Sinn Féin hat es aufgegeben, für ein verbessertes Bildungs- oder Gesundheitssystem zu kämpfen, und ist deshalb um symbolische Erfolge im kulturellen Bereich bemüht, um die eigene Wählerbasis an sich zu binden. Um so heftiger sich die Loyalisten an der Flaggenfrage abreagieren, um so mehr kann sich Sinn Féin rühmen, ihnen eins ausgewischt zu haben. Leider sehe ich für die nordirische Gesellschaft derzeit keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis.

SB: Eine Ursache der ausbleibenden Versöhnung scheint die mangelnde Aufarbeitung der Geschichte Nordirlands im allgemeinen und der Troubles im besonderen zu sein. Seit längerem steht der Vorschlag zur Einrichtung einer Wahrheitskommission wie einst in Südafrika, wo ehemalige Paramilitärs, Polizisten und Soldaten durch öffentliches Beichten zur Aufklärung von Gewaltverbrechen beitragen und im Gegenzug Straffreiheit gewährt bekommen, im Raum. Wenngleich viele Hinterbliebene und überlebende Opfer der Troubles diese Option befürworten und viele Experten sie für sinnvoll halten, scheinen Politiker und Ex-Paramilitärs nicht darauf eingehen zu wollen. Können Sie sich ihre Zurückhaltung erklären?

TMcK: Da sind viele Interessen im Spiel, nicht zuletzt die der Regierung Großbritanniens. Meiner Meinung nach wäre es das Beste, wenn man die Troubles offiziell zu einem Bürgerkrieg erklärt. In dieser Hinsicht ist die Republik Irland ein gutes Vorbild. Dort kam es 1922-1923 zu einem Bürgerkrieg zwischen Befürwortern und Gegnern des Friedenvertrages mit Großbritannien, einschließlich der Teilung Irlands. Die IRA spaltete sich in zwei Fraktionen. Die Befürworter des Friedensabkommens, angeführt von Michael Collins, gründeten die neuen irischen Streitkräfte und besiegten mit britischen Waffenlieferungen ihre ehemaligen IRA-Kameraden, deren Oberbefehlshaber Ernie O'Malley war. Um 1925-1926 herum herrschte die Einsicht vor, daß man dieses erschütternde Kapitel irgendwie beilegen muß, um den gesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen. Dazu gründete die Regierung in Dublin eine Kommission, welche die Aussagen der Teilnehmer auf beiden Seiten des Bürgerkrieges protokollierte und am Ende eine Zusammenfassung veröffentlichte. Mit wenigen Ausnahmen wurde niemand für irgendwelche Taten in Verbindung mit dem Bürgerkrieg angeklagt. Zwar hegten beide Seiten für Jahrzehnte Groll aufeinander, doch man arbeitete auf der parlamentarischen und kommunalen Ebene wieder zum Wohle des Landes zusammen.

SB: In Nordirland hat man den gegenteiligen Weg eingeschlagen. Das sogenannte Historical Enquiries Team (HET) arbeitet die Gewaltverbrechen der Troubles auf und versucht nach wie vor, die jeweiligen Verantwortlichen zu ermitteln und juristisch gegen sie vorzugehen. Da darf man sich nicht wundern, wenn niemand dazu beitragen will, seine eigene Rolle im ganzen Geschehen aufzuklären. Das erklärt auch, warum Gerry Adams stets bestreitet, jemals Mitglied der IRA gewesen zu sein.

TMcK: So ist es. Jedes Ex-Mitglied der IRA, UDA, UVF und selbst der nordirischen Polizei muß befürchten, sofern er sich während dieser Zeit etwas zuschulden kommen ließ, angeklagt, vor Gericht geschleppt und eventuell zu einer Freiheitsstrafe verurteilt zu werden. Deswegen bin ich dafür, den damaligen Konflikt nachträglich als Bürgerkrieg zu deklarieren - um darunter ein für allemal einen Schlußstrich ziehen zu können. Die britische Regierung beharrt jedoch darauf, den aus meiner Sicht legitimen republikanischen Aufstand gegen das Oranier-Unrechtsregime als kriminelle Verschwörung zu bewerten. Und weil Mord nach dem Strafrecht niemals verjährt, stellen die ungeklärten Todesfälle für die Beteiligten eine potentielle Bedrohung dar. Persönlich bin ich für eine generelle Amnestie, wie man sie ohne eine solche offizielle Bezeichnung nach dem Bürgerkrieg in der Republik erlassen hat. Möglicherweise gibt es entsprechende Überlegungen innerhalb des britischen Staatsapparats. Immerhin hat der damalige Nordirland-Minister Owen Patterson im letzten Jahr angeregt, den Ermittlungsbehörden die Aufarbeitung der Troubles abzunehmen und sie den Akademikern zu überlassen.

SB: Der noch laufende Versuch des PSNI und des britischen Außenministeriums, das Boston College in den USA zur Aushändigung der Protokolle jener Interviews zu zwingen, die Ed Moloney und Anthony McIntyre vor einigen Jahren im Rahmen ihres Historikerprojektes mit mehreren namhaften Ex-Paramilitärs geführt haben, dürfte das Gedankenspiel Pattersons überflüssig gemacht haben. Könnte die Weigerung der Briten, strafrechtlich einen Schlußstrich unter den Nordirland-Konflikt zu ziehen und eine Generalamnestie gegen Aussagen vor einer Wahrheitskommission anzubieten, vielleicht darin begründet sein, daß sie heute ganz im Clausewitzschen Sinne den Krieg gegen den irischen Republikanismus weiterhin führen will, nur jetzt mit anderen Mitteln?

TMcK: Ich denke, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Deswegen ist es absolut sinnlos, von Frieden und Versöhnung zu reden, solange man den Konflikt nicht wirklich beendet hat. Hierzu ist meines Erachtens die republikanische Seite bereit. Doch die Anhänger des Vereinigten Königreiches, von den Ministern in London über die unionistischen Politiker in Nordirland bis hin zum rangniedrigsten loyalistischen Paramilitär, wollen auf ihre Definition des Konfliktes, wonach es sich um eine kriminelle Verschwörung gegen den Rechtsstaat handelte, partout nicht verzichten. Sie beharren bis heute auf der Version, derzufolge sie aufrechte Bürger waren, die nichts anderes taten, als Anstand und menschliche Werte gegen eine Bande blutrünstiger Terroristen zu verteidigen. Angesichts dieser Tatsache bleibt der republikanischen Seite nichts anderes übrig, als andauernd auf die Verwicklung von Agenten des britischen Staates - Polizisten, MI5-Agenten und Soldaten - in bestimmte Überfälle und Anschläge zu verweisen und auf deren Bestrafung zu pochen. Auf dieser Weise bleibt eine Aussöhnung, die den Namen verdiente, auf der Strecke. Mißtrauen und Mißgunst bleiben bestehen.

SB: Wie sieht heute Ihr eigener Beitrag am politischen Geschehen aus?

TMcK: Ich arbeite heute als Vertreter der Independent Worker's Union (IWU), die sich den Idealen von James Connolly und James Larkin verpflichtet fühlt. Sie wurde 2003 gegründet und hat inzwischen 1000 zahlende Mitglieder und sieben Ortsverbände. Die IWU entstand aufgrund einer Intrige zur Jahrtausendwende innerhalb der britischen Transport & Generals Worker's Union (TGWU) und deren irischer Schwesterorganisation, die Amalgamated Transport and General Worker's Union (ATGWU) heißt. Der damalige TGWU-Chef Bill Morris versuchte mit allen Mitteln, Mick O'Reilly aus der ATGWU herauszudrängen, und zwar als Gefälligkeit gegenüber Tony Blair bzw. dessen damaligen irischen Amtskollegen Bertie Ahern.

Der populäre Dubliner O'Reilly war Ahern und der Privatindustrie ein Dorn im Auge, weil er als charismatischer Redner seine Position im Vorstand der zweitgrößten Gewerkschaft Irlands, in der zahlreiche Mitarbeiter im strategisch wichtigen Transport- und Energiewesen organisiert sind, nutzte, um Kritik an der sogenannten Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu üben. Deswegen wollte man ihn loswerden. Aufgrund haltloser Vorwürfe hat man bei der ATGWU ein Ausschlußverfahren gegen ihn eingeleitet. In Cork gab es jedoch eine kleine Fleischergewerkschaft, die über eine staatliche Verhandlungslizenz verfügte und zu O'Reilly hielt. Wir, eine Gruppe seiner ideologischen Kameraden, die mit dem ganzen Vorgehen unzufrieden war, traten deshalb aus der ATGWU aus und in die kleine Fleischergewerkschaft ein. Kurz danach haben wir sie in die IWU umgewandelt.

Eine solche staatliche Verhandlungslizenz ist enorm wichtig, weil laut irischem Gesetz Arbeiter, die ohne eine solche in den Ausstand treten, nachher für den entstandenen finanziellen Schaden aufkommen müssen. Das kann sich kein Gewerkschaftler leisten. Ohne Verhandlungslizenz kann man also praktisch keinen Streik ausrufen, geschweige denn damit drohen. Also waren wir eine ernstzunehmende Gewerkschaft. Die ATGWU hat die Gefahr, daß O'Reilly uns beitreten und damit erst recht populär machen könnte, erkannt und das Ausschlußverfahren gegen ihn wieder eingestellt.

SB: Gehört die IWU dem irischen Gewerkschaftsbund, dem Irish Congress of Trade Unions (ICTU), an?

TMcK: Um Gottes Willen, nein. Sie wollen uns nicht haben. Für sie sind wir viel zu radikal.

SB: Steht die IWU organisatorisch mit einer politischen Gruppierung in der Republik Irland, etwa der sozialistischen Partei um Joe Higgins oder der United Left Alliance (ULA) bzw. der republikanisch-sozialistischen Éirígí, in Verbindung?

TMcK: Nein, wir sind parteiunabhängig. Unser Nationalsekretär Noel Murphy ist zwar Mitglied der Communist Party of Ireland (CPI), doch wird er deshalb von ihr alle zwei Monaten dafür gerügt, eine unabhängige Gewerkschaft mitgegründet zu haben. (Lacht)

SB: Soso! (Lacht ebenfalls)

TMcK: Ja, er muß alle acht Wochen nach Dublin, um sich auf die Finger klopfen zu lassen. (Lacht) Ich kenne die Leute von der Socialist Party of Ireland (SPI) und der Socialist Worker's Party (SWP). Die IWU arbeitet mit ihnen gemeinsam an der Protestkampagne gegen die Einführung der neuen Wohnungssteuer. Wir lehnen die Irland von der EU, EZB und IWF aufoktroyierte Austeritätspolitik ab und mobilisieren, wo wir können, dagegen.

SB: Vielen Dank Tommy McKearney für dieses Interview.

Die IWU marschiert - mit Jim Larkin auf einem großen, tiefroten Transparent - Foto: © 2013 by Independent Workers Union of Ireland

Maiparade der IWU 2012 in Belfast
Foto: © 2012 by Independent Workers Union of Ireland

Fußnote:
1. Siehe Schattenblick-Rezension unter:
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar603.html

29. Januar 2013