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BERICHT/005: "Aggressiver Euro-Imperialismus" ... im Labor neokolonialer Verfügungsgewalt (SB)


Innovative Formen kolonialistischer Ermächtigung

Symposium in Berlin-Mitte am 10. März 2012

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hannes Hofbauer
Foto: © 2012 by Schattenblick

"Aggressiver Euro-Imperialismus" - der Titel des Symposiums in der Ladengalerie der Tageszeitung junge Welt hätte in Anbetracht der sozialen und politischen Verwerfungen, die die EU auf immer bedrohlichere Weise heimsuchen, auch ein Vielfaches der rund 70 Zuhörer anlocken können, die an diesem Sonnabend ihren Weg in die Berliner Torstraße gefunden hatten. Wer sich entschlossen hatte, es nicht den berühmten drei Affen gleichzutun und eine Entwicklung vermeintlich aussitzen zu können, die vor der eigenen Haustür nicht haltmachen wird, konnte dafür höchst aufschlußreichen Vorträgen lauschen und in den großzügig bemessenen Diskussionsphasen selbst an der Debatte teilnehmen.

In seinem komprimierten Referat, das unter der Frage "Ist das der alte Kolonialismus?" stand, präsentierte der Wiener Verleger und Publizist Hannes Hofbauer eine Analyse der politischen und ökonomischen Bedingungen des aktuellen Krisengeschehens, die den Blick insbesondere auf ihre militärischen und geostrategischen Faktoren richtete. In Anbetracht der Debatte um die Rettung des Euro gerät mitunter aus dem Blick, daß der sozialen Krise in den südlichen und östlichen Peripheriestaaten der Europäischen Union ein politischer Integrationsprozeß vorausging, der fernab vom symbolpolitischen Einigungspathos deutscher und französischer Europapolitiker der Nachkriegszeit klaren hegemonialen Zielen verschrieben war. Es ging um die Einbindung der Bundesrepublik in den antikommunistischen Pakt der NATO-Staaten, um sich ihr industrielles und militärstrategisches Potential zu diesem Zweck nutzbar zu machen und gleichzeitig das Wiederaufleben deutscher Großmachtambitionen zu verhindern.

So wird bei der Diffamierung der sogenannten PIIGS-Staaten gerne vergessen, daß die Einbindung Italiens, Griechenlands und Portugals in die EU aus dem nüchternen Kalkül erfolgte, auf diese Weise die dort starken kommunistischen Bewegungen am sichersten bekämpfen und diese Länder aus dem Einflußbereich der Sowjetunion fernhalten zu können. Die sogenannte Eurokrise, bei der es sich um eine systemische Krise der kapitalistischen Wertbildung und nicht nur die Folge neoliberaler Einseitigkeit handelt, ist politisch determiniert aus dem Interesse an der Aufrechterhaltung kapitalistischer Vergesellschaftung und resultiert nicht allein, wie häufig postuliert, aus einer anarchischen Verwertungsdynamik. Die Staatsgewalt sichert die Eigentumsordnung, ohne die Kapitalakkumulation unmöglich wäre, und setzt ihre Reproduktion auf repressive und expansive Weise durch.

Hannes Hofbauer stellt die europäische Entwicklung in den Kontext eines Kolonialismus, der seine klassische nach außen gerichtete Form dahingehend qualifiziert, daß er unterschiedslos nach innen wirkt. Was in einer Weltordnung, die die überseeischen Territorien zum Beutegut aller daran interessierten europäischen Staaten deklarierte, während innerhalb Europas bereits ordnungspolitische Formen des Interessenausgleichs auf bürger- und völkerrechtlicher Basis Gestalt annahmen, den Opfern dieses Kolonialismus zugedacht war, soll heute unterschiedslos der ökonomischen, politischen, rechtlichen und kulturellen Verfügungsgewalt kapitalistischer Interessen unterworfen werden.

Hofbauer faßt diesen Prozeß der Totalisierung des Kolonialismus als Ausbeutung natürlicher und humaner Ressourcen auf dem Entwicklungsstand der technologisch, betriebswirtschaftlich und sozialtechnokratisch effizientesten Verwertungspraktiken, als politisch verfügte Fremdbestimmung ganzer Regionen in Form von Protektoraten der NATO oder EU sowie als kulturelle Missionierung durch den Export von Rechtssystemen und Verwaltungspraktiken, die Rechtssicherheit und Investitionsschutz zugunsten der dort agierenden Kapitalinteressen etablieren. Der Referent erwähnt in diesem Zusammenhang auch die zivilgesellschaftlichen Akteure aus dem Bereich global aufgestellter Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, die den zweckdienlichen Austausch nationaler Funktionseliten mit unverdächtig erscheinenden Mitteln demokratiefördernder, humanitärer oder künstlerischer Aufbauarbeit vorantreiben.

Ausgehend von der betriebswirtschaftlichen wie technologischen Bewältigung struktureller Überproduktionskrisen des westeuropäischen Kapitalismus der Nachkriegszeit schildert Hofbauer, wie bereits vor dem Ende der Sowjetunion in den 1970er Jahren expansive Praktiken des Outsourcing von Produktionskapazitäten aus den hochindustrialisierten Metropolengesellschaften nach Südostasien, Nordafrika und auch in die RGW-Staaten Osteuropas vollzogen wurden. Die Durchsetzung der internationalen Arbeitsteilung mit Hilfe des marktwirtschaftlichen Strukturwandels in den Ländern des Südens ging der militärischen Expansion, die erst durch das Ende der Bipolarität auf ungezügelte Weise möglich wurde, voraus und bildet sich in ihr wiederum ab, wie die Zerstörung staatlich administrierter Wirtschaftsstrukturen in Ländern wie Jugoslawien oder dem Irak belegen. Für Hofbauer verkörpern die Kriege seit 1991 eine Militarisierung der Politik, die im wesentlichen von den USA ausgeht und einer spezifischen Logik kapitalistischer Krisenbewältigung folgt.

Dem österreichischen Historiker liegt Osteuropa, wie auch seine zahlreichen Publikationen zu dieser Region erkennen lassen, wohl schon aus der Geschichte wie Geographie seines Landes besonders am Herzen. Er setzt die Osterweiterung der Europäischen Union als "kleine Expansion Europas" ins Verhältnis zur globalen Hegemonialpolitik der USA und erinnert an den destruktiven Charakter der Wirtschaftsreformen, die die Zurichtung der neuen Mitgliedsstaaten auf die Investitionsziele und Handelsinteressen der EU auf schockartige Weise vollzogen. Diesem Prozeß der Währungsangleichung sei stets eine Hyperinflation vorausgegangen, mit der die ohnehin kaum vorhandenen Vermögen der Bevölkerungen der realsozialistischen Staatenwelt völlig entwertet wurden. Die Zerschlagung der für Weltmarktverhältnisse als untauglich disqualifizierten Industrien Osteuropas mündete in die Privatisierung der noch für Investitionszwecke lohnenden Bestände, was schlußendlich mit dem Acquis communautaire, dem alle Bereiche staatlicher und gesellschaftlicher Administration umfassenden rechtlichen Besitzstand der Europäischen Union, abgesichert wurde.

Die 2002 beim Kopenhagener EU-Gipfel besiegelte Neuordnung der osteuropäischen Staatenwelt fand in den jugoslawischen Sezessionskriegen ihre blutige Entsprechung. Das ganze Jahrzehnt des ausgehenden 20. Jahrhunderts war von einem durch Interventionen der NATO-Staaten im Sinne der EU und USA formierten Bürgerkrieg auf dem westlichen Balkan innerhalb Europas bestimmt, der in der Lesart deutscher Politiker bezeichnenderweise als Voraussetzung zur Zugehörigkeit der jugoslawischen Republiken zu Europa ausgewiesen wurde. Schon damals zeigte sich, daß die Deutungshoheit über diesen üblicherweise geographisch und kulturgeschichtlich verstandenen Begriff dem imperialen Selbstverständnis des westeuropäischen Zentrums kapitalistischer Produktivität unterlag. Hofbauer analysiert denn auch die wirtschaftliche Ausrichtung der östlichen EU-Peripherie auf die Kapitale Westeuropas als verhängnisvolle Abhängigkeit von den dort herrschenden konjunkturellen Verhältnissen.

Jugoslawien dient Hofbauer als exemplarisches Beispiel für einen willkürlich herbeigeführten Prozeß der Desintegration von fataler Wirkung. Die aus sechs Republiken bestehende Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien wurde in politisch und wirtschaftlich bestimmte Räume zerteilt, deren Grenzen nicht nur die Bruchlinien in ihre Ethnizität zurückgefallener Bevölkerungen abbilden, sondern auch die von außen auf sie einwirkenden Interessen. Acht territorialstaatliche Einheiten - Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina mit der Föderation und der Republika Srpska, Montenegro, Makedonien und Kosovo; fünf Währungsräume - Euro in Slowenien, Montenegro und Kosovo; die Kuna in Kroatien, die Konvertible Mark in Bosnien-Herzegowina; den Dinar in Serbien und den Denar in Makedonien - und die zwei unter hoheitlicher Aufsicht von Repräsentanten der EU stehenden Verwaltungseinheiten Bosnien-Herzegowina und Kosovo bilden einen Flickenteppich weitgehend von äußerer Unterstützung abhängiger und zu souveränem Staatshandeln nur bedingt fähiger Gebiete, die als Kolonialsubjekte zu bezeichnen keine Übertreibung darstellt.

Das sozialistische Jugoslawien der Nachkriegszeit, aus Sicht des deutschen Imperialismus ein "Völkergefängnis", wurde zum dritten Mal im vergangenen Jahrhundert zum Opfer deutscher Südosteuropapolitik, und das unter maßgeblicher Beteiligung einer angeblich emanzipatorischen Werten verpflichteten Bundesregierung. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß der Niedergang der revolutionären Linken in der Bundesrepublik durch dieses Angebot zum Wechsel auf die Seite der Gewinner beschleunigt wurde. Der eklatante Mangel an kritischem Bewußtsein für die Restauration großdeutscher Ambitionen ist unter anderem der nicht erfolgten Aufarbeitung der Zerschlagung Jugoslawiens als Störfaktor EU-europäischer Expansion und vielleicht sogar als einer multiethnischen Alternative zu einer europäischen Integration geschuldet, in der die Konkurrenz der Nationalstaaten nicht nur Urständ feiert, sondern auf die Füße neuer Zwangsverhältnisse von hoher sozialer Spaltwirkung gestellt wurde.

Hofbauer weist der von ihm geschilderten Parzellierung Jugoslawiens, die kolonialadministrative Innovationen wie die "überwachte Unabhängigkeit" des Kosovo hervorgebracht hat, die Qualität eines Präzedenzfalls für die Neuordnungspläne der EU in Nordafrika zu. Die in dem gewaltsam von Serbien abgetrennten Gebiet konstitutionell erfolgte Verschmelzung von Exekutive und Legislative versteht er als "postbürgerliches politisches Projekt". Ist im Normalfall in der parlamentarischen Demokratie Gewaltenteilung zumindest nominell festgeschrieben, um auf Nebenwegen dennoch ausgehebelt zu werden, so wurde mit der verfassungsmäßigen Einsetzung eines internationalen Repräsentanten, der sich über Exekutive und Legislative per Dekret hinwegsetzen kann, eine direktere, dem kapitalistischen Krisenmanagement adäquatere Form der Durchsetzung herrschaftlicher Imperative geschaffen.

Der Überfall der NATO auf Jugoslawien qualifizierte den kolonialistischen Charakter der europäischen Integration auch in Hinsicht auf die militärstrategische Unverzichtbarkeit der USA für das Hegemoniestreben der EU. So weist Hofbauer darauf hin, daß der Beitritt Schwedens, Finnlands und Österreichs 1995 ohne die Zugehörigkeit dieser Staaten zum Nordatlantikpakt vollzogen wurde. Der Beitritt der acht mittelosteuropäischen Staaten 2004 erfolgte erst nach ihrer Aufnahme in die NATO, wofür der Jugoslawienkrieg von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Mit ihm wurde deutlich gemacht, daß die europäische Ordnung nach Maßgabe der EU auch auf gewaltsame Weise hergestellt werden kann, sollten sich prospektive Expansionsziele der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Transformation nach EU-Vorgaben verweigern.

Den Bevölkerungen dieser Staaten hat diese Entwicklung bis heute nichts als anhaltende Armut eingebracht. Umworben mit der Aussicht auf den baldigen ökonomischen Anschluß an das Niveau Westeuropas haben die Modernisierungskonzepte der neoliberalen Marktwirtschaft in der 2008 vollends manifest gewordenen Krise des kapitalistischen Verwertungsmodells lediglich die soziale Polarisierung der peripheren EU-Staaten vertieft. Während diese in mehreren Fällen territorial rekonfiguriert wurden und ihr Gewicht in den Entscheidungsprozessen der EU-Institutionen dementsprechend abnahm, hat Deutschland mit der sogenannten Wiedervereinigung den gegenteiligen Weg beschritten und ist damit zur Führungsmacht der EU aufgestiegen. Während in Berlin, zuletzt mit dem Fiskalpakt, maßgeblicher Einfluß auf die politökonomische Struktur der EU genommen wird, befinden sich die meisten Staatssubjekte der europäischen Neuordnung in der politischen wie ökonomischen Defensive.

Hannes Hofbauer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Komplexe Zusammenhänge griffig aufbereitet
Foto: © 2012 by Schattenblick

Lediglich Frankreich und Britannien können noch eigenen hegemonialen Einfluß geltend machen, wie sich zuletzt in der aggressiven Rolle, die sie im Libyenkrieg eingenommen haben, gezeigt hat. Für Hofbauer liegt es aus mehreren Gründen nahe, eine Parallele zwischen den von außen herbeigeführten Regimewechseln in Jugoslawien und Libyen zu ziehen. So verweist er auf die Randlage beider Länder im Verhältnis zum europäischen Zentrum, die Unbotmäßigkeit ihrer Führungen gegenüber den Forderungen der USA und EU, die fast zeitgleich erfolgte Verhängung von Wirtschaftsembargos gegen beide Länder Ende Mai 1992 kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und das ähnlich geartete Ende der maßgeblichen politischen Akteure Slobodan Milosevic und Muammar al Gaddhafi. Jugoslawien wie Libyen zeichneten sich durch eigenständige Initiativen zugunsten der wirtschaftlichen und politischen Emanzipation der Länder des Südens aus, Jugoslawien vor allem im Rahmen der Blockfreienbewegung und Libyen als Sachwalter afrikanischer Unabhängigkeit. In beiden Fällen dienten exemplarische soziale Entwicklungsmodelle zur Herstellung gesellschaftlicher Kohäsion und zur Festigung der Bündnisfreiheit. In beiden Fällen verweigerte man sich der Stationierung ausländischer Truppen auf dem eigenen Territorium wie der Teilnahme an imperialistischen Kriegen. Die relative Distanz zur Sowjetunion nahm sie zudem von dem Schicksal der RGW-Staaten aus, zur leichten Beute der Expansionsbestrebungen der EU zu werden.

All das spricht dafür, daß die humanitären Gründe der kriegerischen Interventionen zweckdienliche Vorwände waren, die die Negation völkerrechtlicher Garantien betrieben, indem sie menschenrechtliche Sachzwänge unterstellten und in militärische Ermächtigung ummünzten. Hofbauers These, daß eine Lösung der kapitalistischen Strukturkrise in der Expansion nach Nordafrika besteht, wo die Ausbeutung noch vorhandener Ressourcen natürlicher wie humaner Art mit der Öffnung und Liberalisierung dieser Volkswirtschaften und der Fremdverfügung ihrer staatlichen Strukturen einen neuen Boom kapitalistischer Reproduktion initiieren könnte, ist auch angesichts dessen, was die EU in der südeuropäischen Krisenverwaltung betreibt, plausibel. Wenn schon innerhalb der EU Regierungen per Beschluß neu eingesetzt werden können und das Entschuldungsregime nicht nur zu massiver sozialer Verelendung, sondern die betroffenen Volkswirtschaften auch in tiefe Rezession stürzt, dann sollte dies in den Ländern des von der NATO gekaperten demokratischen Aufbruchs der Arabellion erst recht möglich sein.

Schon das, was an dieser Stelle von dem Vortrag des Wiener Publizisten auszugsweise, verkürzt und mit eigenen Anmerkungen versehen wiedergegeben wurde, böte Anlaß und Stoff für fruchtbare Diskussionen. In Anbetracht der immer offener vollzogenen Entdemokratisierung auch der Gesellschaften Westeuropas, des geringen politischen Widerstands gegen das Entfachen neuer Kriege, des fortschreitenden Ausbaus staatlicher Repression und einer ideologischen Zurichtung wie strafrechtlichen Gesinnungsnormierung, die dem Menschen die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Denken abspricht, ist es nicht nur eine Frage individuellen Interesses, dem innovativen Charakter kolonialistischer Überwältigung auf den Grund zu gehen und aufklärerisch wirksam zu werden.

Mauerfragmente auf dem Potsdamer Platz - Foto: © 2012 by Schattenblick

In der Kälte neuer Unwirtlichkeit
Foto: © 2012 by Schattenblick

30.‍ ‍April 2012