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PARTEIEN/397: Dublin - Sinn Féin zwischen Innen- und Außenpolitik ... (SB)


Brexit - Sinn Féin zwischen Innen- und Außenpolitik ...


Als Gerry Adams und Martin McGuinness auf dem historischen 1986er Parteitag von Sinn Féin das seit Jahrzehnten gültige Statut kippten, das die Übernahme von Sitzen im angeblich "illegitimen" irischen Parlament in Dublin untersagte, verfolgten die beiden Anführer des irischen Republikanismus ein Langzeitziel. Sie wollten die massive Unterstützung der nordirischen Katholiken und Nationalisten, die 1981 dem inhaftierten, im Hungerstreik befindlichen IRA-Kommandeur Bobby Sands kurz vor seinem Tod den Sieg bei einer Nachwahl zum britischen Unterhaus beschert hatte, nutzen, um den blutigen Bürgerkrieg in Nordirland zu beenden und Sinn Féin auf beiden Seiten der irischen Grenze zu einer politischen Kraft zu machen, an der keiner vorbeikommen und welche die Überwindung der Teilung Irlands bewerkstelligen würde. Der Weg bis dahin sollte sich als lang und steinig erweisen.

Anfang der neunziger Jahre kam es zwischen Adams und John Hume, Chef der Social Democratic Labour Party (SDLP) und Lichtgestalt des gemäßigten nordirischen Nationalismus, zu Diskussionen, die 1994 zum IRA-Waffenstillstand führen und Sinn Féin den Ausbruch aus der politischen Isolation ermöglichen sollten. 1998 folgte das Karfreitagsabkommen, an dem die Regierungen Bertie Aherns in Dublin und Tony Blairs in London mitwirkten, das die Beilegung des Bürgerkriegs herbeiführte und die Wiedereinführung eines Parlaments in Belfast und die Bildung einer interkonfessionellen Regierung in Nordirland sowie eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen beiden Teilen der grünen Insel vorsah. Bereits 1997 war mit Caoimhghín O'Caoláin Sinn Féins erster Abgeordneter in das Dáil, das Unterhaus in Dublin, eingezogen. Seitdem gibt sich Sinn Féin größte Mühe, den Vorwurf, die Partei ominöser "IRA-Terrorpaten" zu sein, abzuschütteln, und präsentiert sich als linksnationale Gruppierung, die zwar den Kapitalismus nicht abschaffen, jedoch ein großes Ausmaß an sozialer Gerechtigkeit herbeiführen will.

In Nordirland hat Sinn Féin seit Beendigung der "Troubles" die SDLP als stärkste nationalistische Kraft längst abgelöst. Setzen sich dort die politischen und demographischen Trends fort, denn dürfte Sinn Féin in wenigen Jahren sogar die Democratic Unionist Party (DUP) als größte Einzelgruppierung überflügelt haben. Bei den britischen Unterhauswahlen, die im vergangenen Dezember stattfanden und bei denen Boris Johnsons Konservative eine satte Mehrheit errangen, konnten die Unionisten in Nordirland erstmals seit dessen Schaffung 1922 weniger Parlamentssitze als die Nationalisten für sich verbuchen. Die Abschwächung des Unionismus in Nordirland vollzieht sich schon länger, hat sich jedoch seit dem Votum des Vereinigten Königreichs für den Austritt aus der Europäischen Union im Jahr 2016 beschleunigt. Im Gegensatz zu England und Wales und ähnlich wie in Schottland hat eine Mehrheit der Menschen in Nordirland für den Verbleib in der EU votiert. Seitdem ist die Zahl der Nordiren, meist katholische Nationalisten, aber auch immer mehr protestantische Unionisten, die in der Wiedervereinigung mit der Republik im Süden den Ausweg Irlands aus der Brexit-Problematik sehen, kontinuierlich gestiegen.

Im Süden ließ der Aufstieg Sinn Féins lange auf sich warten. Bei der letzten Wahl von 2016 bekamen die irischen Republikaner dort lediglich 13,8 Prozent der abgegebenen Stimmen und nur 23 der 160 Sitze im Dáil. Sinn Féins begrenzte politische Reichweite bzw. Wählbarkeit hing nicht zuletzt mit ihrer Unfähigkeit zusammen, aus dem Schatten des Terrorismus herauszutreten, solange Adams die Ämter des Partei- und Fraktionschefs innehatte. Niemand auf der Insel kaufte ihm ernsthaft die Beteuerungen ab, es sei niemals ein Mitglied der IRA gewesen. Vielmehr ging man weithin davon aus, daß er seit Anfang der siebziger Jahre der politische Vordenker und militärische Oberkommandeur der IRA in Personalunion gewesen sei. Dies zeigte sich insbesondere nach jeder Wahl bei der Stimmenauszählung und -verteilung.

In Irland nutzt man das komplizierte, für Politikinteressierte aber wirklich sehr spannende System namens Single Transferable Vote (STV), demzufolge die Wählerinnen und Wähler auf dem Wahlzettel den Kandidaten ihres Wahlbezirks nach eigener Präferenz eine Nummer geben können. Hat nach der Auszählung aller Erstpräferenzen ein Kandidat genügend davon erhalten, um die Quote (Zahl der abgegebenen Stimmen geteilt durch die Zahl der zu besetzenden Sitze plus eine Stimme) zu erfüllen, gilt er als gewählt, seine überschüssigen Zweitpräferenzen werden unter den restlichen Kandidaten verteilt. Erreicht bei der ersten Auszählung keiner der Kandidaten die Quote, fängt man an, die Zweitpräferenzen der Bewerber mit den wenigsten Erstpräferenzen zu verteilen. Während andere Parteien und Bewerber untereinander Zweitpräferenzen verteilten, je nachdem, ob es sich um einen Parteikollegen oder einen Konkurrenten aus demselben politischen Lager handelt, galten die Kandidaten Sinn Féins wegen Adams' IRA-"Vergangenheit" als "transfer toxic". Die einstigen IRA-Anhänger bekamen von den anderen Parteien wenig bis keine Zweitstimmen, was sie lange Zeit einschränkte.

Mit der Übergabe des Parteivorsitzes von Adams an Mary Lou McDonald 2018 stand dem Aufbruch Sinn Féins zu neuen Ufern nichts mehr im Weg. Die 1969 geborene McDonald stammt aus Dublin und kann mit paramilitärischen Gewaltverbrechen oder dem Bürgerkrieg in Nordirland nicht in Verbindung gebracht werden. Die große Hoffnungsträgerin der Partei war von 2004 bis 2009 Abgeordnete im EU-Parlament. 2009 wurde sie Stellvertretende Parteichefin. 2011 errang sie im Bezirk Dublin North Central für Sinn Féin einen Sitz im Dáil, wo sie seitdem als rhetorisch schlagkräftige Oppositionsführerin den meisten männlichen Kollegen der beiden großen Parteien Fine Gael und Fianna Fáil das Leben schwer machte. Fine Gael und Fianna Fáil haben die Republik Irland seit 1922 abwechselnd regiert - entweder im Alleingang oder mit Hilfe kleinerer Parteien, häufig der linken Labour Party, aber seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch der Grünen und der liberalen Progressive Democrats (PDs).

Es war eine Koalition aus Fianna Fáil, traditionell die Partei der Kleinbauern und gut vernetzten Bauunternehmer, und den Grünen, die Irland 2008 in den Staatsbankrott führte, wofür beide Parteien bei den Wahlen 2011 schwer abgestraft wurden. Fianna Fáils Mandate schrumpften damals von 71 auf 20, während die Umweltpartei ganz aus dem Parlament katapultiert wurde. In dem Jahr kam Fine Gael, traditionell die Partei der Grundbesitzer, Großbauern und Finanzindustrie, zusammen mit Labour an die Macht und setzte eine rigorose Austeritätspolitik durch, die zwar die Arbeitslosigkeit senkte, jedoch große Löcher ins soziale Netz riß, eine nie dagewesene Obdachlosigkeit herbeiführte wie auch die Krise im Gesundheitswesen verschärfte. Bei den Wahlen 2016 kam deswegen die einst sozialistische Labour Party unter die Räder. Die Zahl ihrer Dáil-Sitze ging von 33 auf 7, die Fine Gaels dagegen "nur" von 76 auf 50 zurück. Fianna Fáil hatte sich unter der Führung von Ex-Außenminister Mícheál Martin zum Teil erholt, die Zahl ihrer Mandate stieg wieder auf 44.

Bei der Wahl 2016 schafften so viele parteiunabhängige Kandidaten bzw. Vertreter kleinerer Gruppierungen wie People Before Profit (PBP) wie nie zuvor den Sprung ins Parlament, was die Regierungsbildung erschwerte. Als Anführer der größten Fraktion wollte Premierminister und Fine-Gael-Chef Enda Kenny eine Koalition mit Fianna Fáil als Juniorpartnerin bilden. Doch die "Soldaten des Schicksals" - so die deutsche Übersetzung für Fianna Fáil - lehnten ab, um sich den Wiederaufstieg zur größten Partei nicht zu verbauen. Statt dessen einigten sich Kenny und Martin auf Fianna Fáils Duldung einer Minderheitsregierung aus Fine Gael und mehr als einem Dutzend Independents, von denen einige sogar Ministerposten erhielten.

Zwar diente das Confidence-and-Supply-Agreement allen Beteiligten im Sinne einer kurzfristigen Machtbeteiligung und -sicherung, doch langfristig sollte es in die politische Katastrophe führen. Fine Gael verschlimmerte die Probleme auf dem Wohnungsmarkt, indem sie gemäß ihrer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin zuließ, daß die irischen Großbanken Zehntausende Hypotheken von Familien in Zahlungsschwierigkeiten an internationale Hedgefonds, vornehmlich aus den USA, verscherbelten. Die rabiaten Methoden der neuen Besitzer, ihre irischen Liegenschaften von den alten "Eigentümern" zu befreien, setzten viele Familien auf die Straße, ließen die Zahl der Obdachlosen ansteigen und lösten eine Welle der Empörung aus. Fine Gaels Bauminister Eoghan Murphy, der von sozialem Wohnungsbau nichts wissen wollte, erwies sich als absolut unfähig, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen. In Dublin und Umgebung kann sich kaum jemand ein Eigenheim leisten, geschweige denn die horrenden Mieten bezahlen. Viele junge Berufsanfänger wohnen deshalb heute noch bei ihren Eltern.

Auch Fine Gaels Gesundheitsminister James Reilly und Simon Harris haben in neun Jahren nichts zur Verbesserung des maroden Gesundheitssystems in Irland beigetragen. Im Gegenteil steht Harris' Name in Verbindung mit der umstritten Vergabe des mißratenen Großauftrags zur Errichtung eines neuen nationalen Kinderkrankenhauses mitten in Dublin, der wegen einer Explosion der Baukosten und der Bauzeit bereits jetzt jedem Vergleich mit dem Milliardengrab des Berliner Großflughafens standhält. Einzig im Umgang mit dem schwierigen Thema Brexit konnten Kennys Nachfolger als Premierminister, Leo Varadkar, und Außenminister Simon Coveney brillieren. Den beiden Jungpolitikern ist es seit 2016 gelungen, die anderen EU-Staaten für die Position Dublins gegenüber London zu gewinnen, derzufolge nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union die innerirische Grenze weiterhin "unsichtbar" bleibt und eventuelle Personen- und Warenkontrollen an den Flug- und Seehäfen erfolgen sollten.

Gegen diese sinnvolle Forderung zum Schutze des Friedens in Nordirland sträubte sich drei Jahre lang die britische Premierministerin Theresa May nicht zuletzt, weil ihre konservative Minderheitsregierung zum Überleben auf die Unterstützung der nordirischen DUP angewiesen war. Nachdem jedoch im vergangenen Sommer Johnson die glücklose May als Tory-Chef abgelöst hatte, willigte er bei einem Vier-Augen-Gespräch mit Varadkar nahe Liverpool im November in die Bedingung Dublins ein, gewann wenige Wochen später die von ihm extra ausgerufene Unterhauswahl haushoch und brachte sein Austrittsabkommen mit Brüssel durchs Parlament - allen zu erwartenden "Verrat"-Rufen der DUP zum Trotz. Die veränderte Lage hat DUP und Sinn Féin, die 2017 durch Rückzug aus der interkonfessionellen Regierung die nordirischen Institutionen zum Kollaps gebracht hatte, dazu veranlaßt, am 13. Januar die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit in der interkonfessionellen Koalition zu beschließen. Einen Tag nach der Wiederbelebung von Autonomieregierung und Regionalparlament in Belfast rief Varadkar vorzeitige Neuwahlen in der Republik Irland aus.

Irlands erster offen homosexueller Premierminister hoffte, wegen der Leistung im Ringen um den Brexit, der am 31. Januar offiziell in Kraft trat, von den Wählern belohnt zu werden. Mícheál Martin, der zuletzt Fine Gael mit dem Entzug der Unterstützung gedroht hatte, hoffte seinerseits, Fianna Fáil würde von Fine Gaels Vernachlässigung der Bereiche Gesundheit, Soziales und Wohnungsmarkt profitieren. Beide Politiker haben sich verkalkuliert. Im Wahlkampf führten die Bürger die soziale Misere auf die beiden großen Parteien zurück - Fianna Fáil, weil sie sie herbeigeführt, und Fine Gael, weil sie sie verschlimmert hatte, statt sie zu lindern. Dazu kam, daß die Vertreter Sinn Féins in den Bereichen Finanzen (Pierce O'Doherty), Wohnungsbau (Eoin O'Broin) und Gesundheit (Louise O'Reilly) bei Radio- und Fernsehauftritten der Konkurrenz aus den beiden etablierten Parteien rhetorisch und vom Kenntnisstand her haushoch überlegen waren.

Der verzweifelte Versuch Varadkars und Martins, Sinn Féin doch noch als dubiosen Verein mit eigener Schattenarmee im Hintergrund abzustempeln, ging nach hinten los. Die Wähler konnten diesen Vorwurf nicht mehr hören. Als gegen Ende des Wahlkampfs Sinn Féin mit Fine Gael und Fianna Fáil in den Umfragen praktisch gleichauf lag, mußte der staatliche Rundfunksender Raidío Teilifís Éireann (RTÉ) McDonald die Teilnahme an der zweiten der beiden Fernsehduelle potentieller Premierminister gestatten. Im Dreiergespräch setzte sich nach Meinung der meisten Zuschauer und Medienkommentatoren die streitbare Mary Lou gegen Leo und Mícheál durch. Am Vorabend der Wahl veröffentlichte die Irish Times eine Umfrage, die erstmals Sinn Féin in Führung sah. Trotzdem blieben Varadkar und Martin bei der Linie, auf keinen Fall eine Koalition mit Sinn Féin wegen deren Vergangenheit bilden zu wollen.

Und so kam es, wie es kommen mußte. Nach Schließung der Wahllokale veröffentlichte RTÉ am Abend des 8. Februar die erste Hochrechnung, die so aussah: FF 22,4%, Sinn Féin 22,3% und FG 22,2%. Die Auszählung am nächsten Tag brachte für Sinn Féin einen Erfolg nach dem anderen, für Fine Gael und Fianna Fáil eine Reihe nicht endender Schreckensnachrichten. Varadkar wurde der erste Premierminister Irlands, der nicht bei der ersten Stimmenauszählung seinen Parlamentssitz erhielt. Erst bei der fünften Zählrunde bekam Varadkar sein Mandat wieder. Bei Martin dauerte es bis zur dritten Runde - ein Unding für einen Vorsitzenden von Fianna Fáil. In 30 von 49 Wahlbezirken bekamen die Vertreter Sinn Féins die meisten Stimmen. Auch landesweit bekam Sinn Féin mit 24,53% erstmals die meisten Stimmen und verwies Fianna Fáil mit 22,18% und Fine Gael mit 20,86% auf den zweiten und dritten Platz.

Der große Erfolg hatte aber einen kleinen Schönheitsfehler. Mit Blick auf übertriebenen Optimismus in der Vergangenheit stellte Sinn Féin diesmal nur 38 Kandidaten auf. Wäre sie in allen Wahlbezirken vertreten gewesen, hätte sie bis zu zehn Sitze mehr erhalten. Dafür hat die Weitervergabe der Zweitpräferenzen der erfolgreichen Sinn-Féin-Kandidaten nicht wenigen Vertretern kleinerer linker Parteien wie Solidarity-People Before Profit, Social Democrats (SD), Labour, Grüne sowie dem einen oder anderen linken Parteilosen wie Thomas Pringle in Donegal über die Ziellinie geholfen. Dieses Phänomen dürfte eine künftige Zusammenarbeit im linken Lager unter Führung von Sinn Féin begünstigen. Bei der Sitzverteilung waren die großen Gewinner der Wahl Sinn Féin (von 22 auf 37), die Grünen (von 3 auf 12) und die Soc-Dems (von 2 auf 6). Einigermaßen auf dem bisherigen Niveau halten konnten sich S-PBP (von 6 auf 5) und Labour (von 7 auf 6 Sitze). Die ebenfalls linken Independents 4 Change sind bei einem Sitz geblieben.

Fianna Fáil (statt des geplanten Anstiegs auf mindestens 50 plus von 45 auf 37 Sitze zurückgefallen) und Fine Gael (von 47 auf 35) mußten herbe Verluste hinnehmen. Martin und Varadkar sind inzwischen nur noch Parteichefs auf Abruf. In beiden Fraktionen werden die Messer bereits gewetzt. Ex-Gesundheitsminister Reilly hat nach der gescheiterten Kandidatur im Bezirk Dublin-Fingal Varadkar für die herbe Niederlage Fine Gaels auf nationaler Ebene, bei der viel Parteiprominenz wie Sozialministerin Regina Doherty abgewählt wurde, verantwortlich gemacht. Gegenüber der Irish Times bezeichnete Francis O'Brien, Kommunalpolitiker aus der grenznahen Grafschaft Cavan und enger Vertrauter des Dáil-Fraktionsvorsitzenden Brendan Smith, das Wahlergebnis von Fianna Fáil als "Kernschmelze", beklagte den ausgebliebenen "Wiederaufbau" und gab sich "verdutzt" darüber, daß Mícheál Martin nicht längst den Parteivorsitz abgegeben habe.

Im ersten RTÉ-Interview am Tag nach der Wahl, als die Auszählung der Stimmen noch voll im Gange war, wurde McDonald gefragt, ob sie angesichts der neuen Position Sinn Féins bereits mit Varadkar oder Martin über eine Regierungsbildung telefoniert habe. Selbstbewußt erklärte die Sinn-Féin-Vorsitzende, sie habe es nicht nötig, Leute anzubetteln, die bisher mit ihr erklärtermaßen nichts zu tun haben wollten. Das Volk habe für den Wandel votiert, deshalb habe sie bereits Kontakt zu allen linken Gruppierungen und parteilosen Abgeordneten aufgenommen, um eine Koalition auf die Beine zu stellen, die sich rasch an die Behebung der verschiedenen sozialen Mißstände insbesondere im Gesundheitssystem sowie im Wohnungsbereich machen könne. Der Standpunkt McDonalds ist klug, doch nach dem Endergebnis sieht es nicht danach aus, als könnte eine solche Linksallianz im Dáil die magische Zahl von 80 Sitzen erreichen. Selbst Richard Boyd-Barrett, der für S-PBB im wohlhabenden Dubliner Bezirk Dún Laoghaire den ersten Platz errang und einer solchen Vereinigung aller linken Kräfte wohlwollend gegenüberstünde, hat dies am 11. Februar im Radio-Interview mit RTÉ eingeräumt.

Bei ihrem ersten Interview im BBC-Fernsehen nach der Wahl hat McDonald am Abend des 10. Februar demonstrativ die Bedeutung der Frage einer Wiedervereinigung Irlands, Sinn Féins Kernziel, hervorgehoben. Als Irlands erste Premierministerin beabsichtige sie, die Vorbereitungen für eine Volksbefragung zu diesem Thema einzuleiten. Der Zug der Wiedervereinigung habe den Bahnhof längst verlassen, daher empfehle es sich für London und Nordirlands Unionisten, die verändernde Lage in Irland anzuerkennen und sich danach zu richten, so McDonald. Auch in Fianna Fáil gibt es namhafte Vertreter wie Éamon O'Cuív, die schon länger die Zeichen der Zeit erkannt haben, deshalb eine Zusammenarbeit mit Sinn Féin befürworten und eine stärkere Zuwendung Dublins in Richtung Norden fordern.

Vor zwei Jahren flog Ex-Verteidigungsminister O'Cuív im Streit um einen verschobenen Einstieg Fianna Fáils in die nordirische Politik an der Seite der SDLP aus Martins Schattenkabinett. O'Cuívs Stimme hat Gewicht in Fianna Fáil, denn erstens ist er der Enkel von Parteigründer Éamon de Valera und damit Bewahrer dessen Erbes und zweitens einer der wenigen in der Partei, die im eigenen Wahlbezirk, in seinem Fall Galway West, trotz der Sinn-Féin-Welle immer noch die meisten Erststimmen erzielen konnte. Auch Fianna Fáil versteht sich traditionell als republikanische Partei, welche die Teilung Irlands für unnatürlich hält und ihre Beendigung anstrebt. Zudem hat Fianna Fáil als eine Art irische CSU auch im sozialem Bereich die Belange der kleinen Leute stets im Blick gehabt. Vor diesem Hintergrund ist am Ende der komplizierten Regierungsbildung in der Republik Irland mit einer Koalition aus Sinn Féin und Fianna Fáil nach einem Wechsel an deren Spitze zu rechnen. Sinn Féin muß beweisen, daß sie regieren kann. Die anstehenden Verhandlungen in der Hoffnung scheitern zu lassen, bei einer erneuten Wahl besser als gegenwärtig dazustehen, wäre taktisch-strategisch alles andere als klug.

11. Februar 2020


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