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PARTEIEN/384: Brexit - Johnsons Blick in die Zukunft ... (SB)


Brexit - Johnsons Blick in die Zukunft ...


Nach fünf Abstimmungsrunden bei den Unterhausabgeordneten der konservativen Partei Großbritanniens über mehrere Tage in der vergangenen Woche standen am Abend des 20. Juni die Namen der beiden Kandidaten für die Stichwahl um die Nachfolgeschaft Theresa Mays als Parteichef und zugleich Premierminister fest. Nun müssen sich die 160.000 Mitglieder der Tories in einer Briefwahl, die vom 6. bis zum 8. Juli durchgeführt wird, zwischen dem ehemaligen und dem amtierenden Außenminister, Boris Johnson und Jeremy Hunt, entscheiden. Johnson, der ehemalige Journalist und Bürgermeister von London, gilt trotz oder gerade wegen seiner fremdenfeindlichen Rhetorik und seines notorischen Hangs zu Übertreibungen und Falschaussagen als Liebling der konservativen Basis und haushoher Favorit. Das einzige, was den Absolventen der Eliteschule Eton und der Universität Oxford von seinem Traum, als Premierminister ihrer Majestät in Number 10 Downing Street die Geschicke des Vereinigten Königreichs lenken zu können, trennt, ist Johnsons loses Mundwerk. Deshalb hält ihn sein Wahlkampfteam, das von dem Australier Lynton Crosbie geleitet wird, der seit Jahren in London als Verbindungsmann des australo-amerikanischen Medienmoguls Rupert Murdoch zu den britischen Tories fungiert, der Öffentlichkeit und den Medien so fern wie möglich.

Nur wenige Stunden nach dem erfolgreichen Einzug in die Endrunde gegen Hunt - taktisches Stimmverhalten der Johnson-Anhänger hatte dafür gesorgt, daß sich der gefährlichere Gegner, Umweltminister Michael Gove, mit dem undankbaren dritten Platz begnügen mußte - trat für Johnsons Aufpasser der befürchtete mediale Super-GAU doch noch ein. In den frühen Morgenstunden des 21. Juni wurde die Polizei von Nachbarn zu der Wohnung von Johnsons 31jähriger Freundin, Carrie Symonds, in Londoner Stadtteil Camberwell, wo der 55jährige Ex-Außenminister seit der Trennung von seiner Frau, Marina Wheeler, im vergangenen Herbst lebt, gerufen. Hinter verschlossenen Türen war es zu einem heftigen Streit mit wildem Geschrei und zerbrochenem Porzellan gekommen. Nach einer kurzen Unterhaltung mit den beiden Kontrahenten zogen die Polizeibeamten wieder von dannen, ohne eine formale Warnung ausgesprochen zu haben, gleichwohl überzeugt davon, daß keine körperliche Gewalt im Spiel gewesen sei. Am 22. Juni schmückten die Einzelheiten des peinlichen Vorfalls die Titelseiten aller britischen Tageszeitungen.

Sofort schalteten führende Tories und die konservativen Medien auf Schadensbegrenzung und deklarierten die traurige Episode zu einer privaten Angelegenheit, die Außenstehende nicht zu interessieren hätte. Die Nachbarn von Symonds, die aus Sorge um die Sicherheit der jungen Frau dreimal an deren Haustür geklopft hatten, ohne eine Antwort zu erhalten, und erst dann per Telefon die Polizei einschalteten, wurden ohne jeglichen Beweis unter anderem von Jacob Rees-Mogg, Kopf der einflußreichen, brüssel-feindliche European Research Group (ERG), als niederträchtige Linksradikalinskis diffamiert, die Johnson schaden und damit Großbritanniens Weg in eine glorreiche Zukunft ohne EU versperren wollten. Bei einer Wahlkampfdebatte mit Hunt vor konservativen Parteimitgliedern am 23. Juni in Birmingham weigerte sich Johnson wiederholt, auf Fragen des Moderators Iain Dale über die zurückliegende Nacht einzugehen. Wenngleich die Debatte um Johnsons charakterliche Eignung bei weitem nicht abgeklungen ist, scheint sich die Aufregung um mögliche häusliche Gewalt wieder zu legen. Bereits am 24. Juni wartete das Boulevardblatt Daily Mail mit rührenden Fotos des scheinbar glücklichen Liebespaars beim gemeinsamen Spaziergang am Nachmittag davor in der Naturlandschaft der Grafschaft Sussex auf.

Der Hauptgrund, warum Johnson am 22. Juli aller Voraussicht nach zum nächsten Vorsitzenden der konservativen Partei gekürt wird, besteht in seinem Eintreten für den Brexit. Seit dem Votum für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU vor drei Jahren hat sich die Stimmung unter den einfachen Konservativen weiter radikalisiert. Wollten diese am Anfang lediglich ein Ende der offenen Grenzen und des Zuzugs osteuropäischer Arbeitsmigranten, so verlangen die meisten konservativen Wähler inzwischen sogar den Austritt aus der Zollunion und dem Binnenmarkt. Die langwierigen und extrem zähen Verhandlungen Theresa Mays mit Brüssel haben bei vielen Tories den Wunsch nach einem EU-Austritt selbst ohne gütliche Einigung mit den anderen 27 Mitgliedsstaaten geweckt. Johnson hat versprochen, für den No-Deal-Brexit zum 31. Oktober zu sorgen, koste es, was es wolle.

Seit den Wahlen zum EU-Parlament Ende Mai, als die Brexit Party um den chauvinistischen Populisten Nigel Farage stärkste Kraft in England wurde und die Tories auf den fünften Platz hinter den oppositionellen Liberaldemokraten, Sozialdemokraten und Grünen verbannte, geht bei den Tories, die im Unterhaus eine Minderheitsregierung nur mit Unterstützung der zehn Abgeordneten der protestantischen Fundamentalisten von der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) führen, die Angst vor dem Verlust nicht nur der Macht, sondern der meisten Sitze bei den nächsten Parlamentswahlen um. Johnson, dessen Eintritt für den Brexit entscheidend für den hauchdünnen Sieg der EU-Gegner bei der Volksabstimmung im Juni 2016 war, gilt als Retter in der Not, als einziger Tory-Grande, der die Farage-Truppe in die Schranken weisen und die vielen verlorenen Wähler zurück zu den Konservativen treiben könnte.

Johnson steht jedoch unter enormen Zeit- und Handlungsdruck. Weil eine deutliche, überparteiliche Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus den ungeordneten Austritt aus der EU wegen der zu erwartenden negativen Folgen für die britische Volkswirtschaft ablehnt, gehen alle aktiven Politiker und Medienbeobachter davon aus, daß es im Herbst zu Neuwahlen kommen wird. Wegen des britischen Mehrheitswahlsystems, demzufolge der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen gewinnt, besteht für Konservative und die Brexit-Partei gleichermaßen die Gefahr, daß sie sich in vielen Wahlkreisen die Stimmen gegenseitig abjagen und dadurch viele Sitze an die Labour Party verlieren werden.

Um den Eintritt der Horrorvision von einer "marxistischen" Regierung unter dem Vorsitz von Labour-Chef Jeremy Corbyn auszuschließen, haben sich vor einigen Wochen mehrere Verbündete Johnsons, darunter die ehemalige Entwicklungshilfeministerin Priti Patel, die 2017 wegen zwielichtiger "Informationsreisen" nach Israel und in die besetzten palästinensischen Gebiete zurücktreten mußte, und der DUP-Abgeordnete Ian Paisley jun. mit Farage und dessen schwerreichen Mäzen, dem windigen Geschäftsmann Aaron Banks, in einem exklusiven Privatclub in London getroffen. Thema des "geheimen Treffens" - O-Ton Daily Mail - soll ein informeller Pakt gewesen sein, demzufolge sich die beiden Parteien im vorhinein darüber verständigen wollten, in welchen Wahlkreisen jeweils nur einer von ihnen einen Kandidaten oder eine Kandidatin aufstellen würde, damit die spätere Anzahl rechtsgerichteter und damit brexit-zugewandter Abgeordneten im Unterhaus maximiert werde.

Das Festhalten der englischen Tories an einem "harten" Brexit - ob ungeordnet oder geordnet ist zweitrangig - verstärkt jedoch die Spannungen innerhalb des Vereinigten Königreichs. Die Schotten haben vor drei Jahren mit Zweidrittelmehrheit für den Verbleib in der EU votiert und fühlen sich seitdem durch die Verhandlungen Londons mit Brüssel vollkommen übergangen. Vor einigen Wochen hat Nicola Sturgeon, Vorsitzende der Scottish National Party (SNP) und Ministerpräsidentin der Regionaladministration in Edinburgh, eine erneute Abstimmung über die Unabhängigkeit Schottlands im Jahr 2021 in Aussicht gestellt für den Fall, daß das Vereinigte Königreich tatsächlich die EU verläßt. Interessanterweise hat eine vor wenigen Tagen durchgeführte Umfrage des demoskopischen Instituts YouGove bei konservativen Parteimitgliedern ergeben, daß die große Mehrheit von ihnen den Austritt aus der EU für wichtiger als den Verbleib Schottlands oder Nordirlands im Vereinigten Königreich hält.

Die Schotten werden Boris Johnson niemals verzeihen, daß er sie in einem vermeintlich satirischen Gedicht als "Rasse voller Ungeziefer" bezeichnet hatte. Darum gilt das zu erwartende Szenario von Johnson als Premierminister in London als Wasser auf die Mühlen der schottischen Nationalisten und als möglicher Todesstoß für die seit 1707 existierende Union zwischen Schottland und England. Die Aussage von Sturgeon, wonach Johnson bei den jüngsten Feierlichkeiten anläßlich des 75. Jahrestags der Landung alliierter Streitkräfte in der Normandie das Streben der Schotten nach Eigenständigkeit mit dem flapsigen Spruch "Nun, Nicola, volle fiskalische Autonomie - gebt ihr euch damit zufrieden?" einzufangen versuchte, dürfte dem Premierminister in spe keine Freunde nördlich von Hadrians Mauer beschert haben.

Nach zwei Jahren als Leiter des Foreign and Commonwealth Office (FCO) galt der unbelehrbare Johnson als schlechtester Außenminister Großbritanniens aller Zeiten (Das hielt ihn im Sommer 2018 nicht davon ab, einen spektakulären Rücktritt hinzulegen, Theresa May in den Rücken zu fallen und deren Kompromißvorschlag bei den Brexit-Verhandlungen mit der EU in einer Rede, an deren Formulierung US-Präsident Donald Trumps früherer Wahlkampfstratege Steven Bannon beteiligt war, als Ausverkauf und Kapitulation zu verdammen. Daher ist davon auszugehen, daß Johnson auch als Regierungschef komplett überfordert sein und eine katastrophale Figur abgeben wird). In einem Gastbeitrag, der am 25. Juni beim London Guardian erschienen ist, hat Max Hastings, der ehemalige Chefredakteur des konservativen Daily Telegraph, seinen früheren Brüsseler Korrespondenten Johnson wegen Unzuverlässigkeit und Ruhmsucht als für das Amt des Premierministers "vollkommen ungeeignet" bezeichnet.

26. Juni 2019


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