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PARTEIEN/363: Brexit - globales Ringen ... (SB)


Brexit - globales Ringen ...


Es sind nur noch 200 Tage bis zum formellen Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (EU) am 29. März 2019 und doch weiß immer noch niemand, wie künftig die bilateralen Beziehungen aussehen werden. Während die EU für die Norwegen-Option plädiert - keine EU-Mitgliedschaft, dafür aber Teilnahme an Binnenmarkt und Zollunion - drängen die chauvinistischen englischen Brexiteers auf den härtesten aller Austritte, den sogenannten "No Deal", demzufolge der bilaterale Handel künftig nur nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) zu organisieren wäre. Dazwischen steckt Theresa May mit ihrem unbeliebten, unbefriedigenden Chequers-Plan - genannt nach einem Krisentreffen der britischen Regierung auf dem gleichnamigen Landsitz der Premierministerin in Buckinghamshire Mitte Juli. Der Chequers-Plan schließt den Verbleib des Vereinigten Königreichs in Binnenmarkt und Zollunion aus, schlägt stattdessen ein hochkompliziertes "maßgeschneidertes Zollarrangement" vor, von dem niemand so richtig weiß, wie es funktionieren soll.

Noch Anfang September gab sich der EU-Chefunterhändler in Sachen Brexit, Michel Barnier, gegenüber dem Chequers-Plan stark ablehnend, vor allem weil London damit nach dem Brexit den freien Handel mit dem europäischen Festland und der Republik Irland für Waren, nicht aber für Dienstleistungen aufrechtzuerhalten beabsichtigt. Nach Meinung Barniers verstößt ein solches Vorhaben gegen die Grundprinzipien des Binnenmarktes und könne deshalb nicht akzeptiert werden. Der französische Diplomat monierte zudem, die Briten hätten keinen Entwurf vorgelegt, wie sie im Fall des Chequers-Plans verhindern wollten, daß Großbritannien für die EU zum Einfallstor für Billigwaren aus aller Welt werde. Darüber hinaus bemängelte Barnier das Fehlen eines Vorschlags zur Verwirklichung des von Brüssel und London Ende 2017 beschlossenen Prinzips der Vermeidung von Grenzkontrollen zwischen Nord- und Südirland.

Inzwischen sieht sich Brüssel gezwungen, der May-Regierung etwas entgegengekommen - um die Premierministerin vor den Feinden in der eigenen Partei, allen voran Boris Johnson, zu retten. Seit dem Rücktritt als Außenminister einen Tag nach der Krisensitzung in Chequers wettert Johnson in seiner wöchentlichen Kolumne beim reaktionären Daily Telegraph heftig gegen Mays Kompromißvorschlag, während er sich gleichzeitig auf den Putsch vorbereitet, um den von ihm langersehnten Einzug in Number 10 Downing Street samt Wahl zum Vorsitzenden der konservativen Partei zu bewerkstelligen. Vor zwei Wochen hat der ehemalige Bürgermeister von London im sogenannten "Torygraph" May bezichtigt, gegenüber Brüssel bereits "die weiße Fahne" gehißt zu haben, am 8. September tat er die prinzipielle Einigung, keine "feste Grenze" in Irland zu installieren, um die Lage dort nicht zu destabilisieren, als unnötigen Fehler ab und erklärte, damit habe London "um die britische Verfassung einen Sprenggürtel gewickelt und Michel Barnier den Zünder gegeben".

In der EU hat man die Gefahr, daß Johnson bei dem diesjährigen Parteitag der britischen Konservativen Ende September, Anfang Oktober in Birmingham May stürzen könnte, erkannt und gehandelt. Angeblich wollen Brüssel und Dublin der May-Administration beim bevorstehenden informellen EU-Gipfeltreffen am 20. September in Salzburg einen Vorschlag in Richtung gemeinsamer Grenzkontrollen auf beiden Seiten der Irischen See und des Ärmelkanals, um den Warenstrom, Personenverkehr sowie die Einhaltung von hygienischen Standards bei landwirtschaftlichen Produkten, allen voran Tiertransporten, zu gewährleisten, mit dem Ziel unterbreiten, diese Regelung bei der eigentlichen Brexit-Runde der europäischen Regierungschefs im Oktober in Brüssel festzuzurren.

Um nicht schlafende Hunde bei der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) zu wecken, soll der Vorschlag nicht als Grenzziehung zwischen Nordirland und Großbritannien, sondern als technokratisch-logistische Notlösung ohne negative Implikationen für die britische Souveränität, ähnlich wie aktuell im Londoner Bahnhof St. Pancras französische Polizisten Passagiere vor dem Besteigen des Eurostar-Zugs oder britische Zollbeamte am anderen Ende des Channel Tunnels in Calais Lastwagen kontrollieren, verstanden werden. Ob May den Rettungsring ergreift, den Barnier und der irische Außenminister Simon Coveney ihr nun zuwerfen, muß sich noch zeigen.

Die Position der Premierministerin ist nicht zu beneiden. Für ihren Chequers-Plan gibt es keine Mehrheit in der eigenen Partei. Im Unterhaus verfügen die Konservativen mit Hilfe der DUP über eine hauchdünne Mehrheit. Nach Angaben des ehemaligen Staatssekretärs im Brexit-Ministerium, Steve Baker, der wie sein Chef David Davis und Johnson im Juli einen Platz am Kabinettstisch gegen einen Sitz auf den Hinterbänken im Parlament eingetauscht hat, werden bei einer Abstimmung 80 Tory-Abgeordnete gegen den Chequers-Plan votieren. Bringt May in einem solchen Szenario den Kompromißvorschlag mit Hilfe der Opposition aus Sozialdemokraten und schottischen Nationalisten durch, dann ist die Spaltung der Conservative and Unionist Party of Great Britain and Northern Ireland vorprogrammiert. Möglicherweise weigern sich die Labour Party um Jeremy Corbyn und Nicola Sturgeons Scottish National Party, May aus der Zwickmühle zu retten, dann stünden Neuwahlen und eventuell sogar ein zweites Referendum über den EU-Austritt an. Um letzteres zu ermöglichen, müßten die anderen 27 EU-Staaten einem Anhalten der Brexit-Uhr über den 29. März hinaus zustimmen.

Währenddessen tönen die Brexiteers herum, was sie nicht alles unternehmen werden, um nach dem baldigen Abschütteln der Brüsseler Ketten Großbritannien zur neuen, alten Größe zu führen. Die Pläne der European Research Group (ERG) um den einflußreichen Tory-Hinterbänkler und Hedge-Fonds-Manager Jacob Rees-Mogg sehen für die Post-Brexit-Ära unter anderem die Verlegung der britischen Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem, die Verhängung drakonischer diplomatischer und wirtschaftlicher Sanktionen gegen das "Regime" Wladimir Putins in Moskau wegen der Skripal-Scharade, den Aufbau eines eigenen Raketenabwehrsystems, ungeachtet der Tatsache, daß eine solche Installation gegen die neuen Hyperschallraketen Rußlands und Chinas vollkommen nutzlos wäre, sowie die Schaffung einer globalen Eingreiftruppe vor, um in entlegenen Regionen dieser Welt wie auf den Falkland Inseln blitzschnell militärisch eingreifen zu können. Bei soviel Humbug seitens der No-Deal-Befürworter dürfte es keine Überraschung sein, daß laut Umfragen inzwischen eine deutliche Mehrheit der britischen Wähler den Verbleib in der EU und die Durchführung eines zweiten Referendums befürwortet.

11. September 2018


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