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PARTEIEN/362: Brexit - Kräftezerren in London ... (SB)


Brexit - Kräftezerren in London ...


Auf beiden Seiten des Ärmelkanals wächst die Angst vor dem ganz "harten" Brexit, dem Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union ohne eine vorher von London und Brüssel erzielte Einigung über die künftigen Beziehungen. Grund für den mangelnden Fortschritt bei den bisherigen Verhandlungen ist das politische Chaos in Großbritannien. Aus Angst vor einer Revolte der Brexiteers innerhalb der konservativen Unterhausfraktion und dem Kollaps ihrer Minderheitsregierung zeigt sich Premierministerin Theresa May handlungsunfähig. Mit ihrer Rücksichtnahme auf die Tory-Chauvinisten, die davon träumen, den Festlandseuropäern, allen voran den traditionellen Feinden Deutschland, Frankreich und Spanien, den Rücken zu kehren, um "Global Britain" zur alten und neuen Größe zu führen, erweist May ihrem Land einen Bärendienst. Wenn nicht schleunigst jemand einen Ausweg findet, ist die Katastrophe vorprogrammiert - und zwar beginnend ab 24 Uhr am 29. März 2019, jenen Datum, den May letztes Jahr mit ihrer voreiligen Aktivierung der Ausstiegklausel - Artikel 50 - des Lissaboner Vertrags selbst bestimmt hat.

Mit einem Krisentreffen auf dem Landsitz der britischen Premierministerin Chequers in der Grafschaft Buckinghamshire Mitte Juli hoffte May, den regierungsinternen Dauerstreit zwischen Befürwortern eines "harten" und eines "weichen" Brexits beilegen und Brüssel einen vernünftigen Verhandlungsvorschlag machen zu können. Die "Einigung" von Chequers hat am Ende niemanden wirklich zufriedengestellt. Den harten Brexiteers ging der Vorschlag, das UK sollte weiterhin größtmögliche Nähe zum EU-Regelwerk pflegen, zu weit. Ein Tag nach dem Treffen traten deshalb der bisherige Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson von ihrem Ämtern zurück. Das Duo bezeichnete den Plan als Verrat an der Vision eines Großbritanniens, das über das eigene Schicksal "die Kontrolle zurückerlangt" habe.

Seitdem bereitet Johnson einen Putschversuch gegen May vor, um ihr den Vorsitz der konservativen Partei und aus seiner Sicht hoffentlich auch das Amt als Regierungschef zu entreißen. Medienberichten zufolge haben Johnson und seine Verbündeten, zu denen der Chefideologe unter den englischen Europhoben, Jacob Rees-Mogg, der Leiter der Tory-Sondergruppierung European Research Group (ERG), zählt, bereits genügend Stimmen unter den konservativen Abgeordneten im Unterhaus zusammen, um die Durchführung einer parteiinternen Vertrauensabstimmung gegen May zu erwirken. Einige politische Beobachter auf der Insel rechnen bereits mit einer Nacht der Langen Messer auf dem konservativen Parteitag Ende September, Anfang Oktober in Birmingham.

Fest steht, daß sich Johnson bereits die Unterstützung EU-feindlicher Kräfte in den USA gesichert hat. In den letzten Wochen hat er sich in London mit Steve Bannon, dem einstigen Politberater und Ideengeber von US-Präsident Donald Trump, getroffen. Wenige Tage nach dem Rücktritt Johnsons als Außenminister erklärte Trump anläßlich seines Staatsbesuchs in Großbritannien, der einstige Eton-Schüler, der über eine Kolumne beim reaktionären Daily Telegraph seine politischen Ambitionen am Leben hält, würde einen "fabelhaften Premierminister" geben. Für den schweren Affront gegenüber May revanchierte sich Johnson wenige Wochen später bei den Anti-Islam-Hetzern Trump und Bannon mit einer Breitseite beim Torygraph gegen das Tragen der Burka durch britische Musliminnen. Die Provokation hat die erwünschte Wirkung gezeigt. Während sich die Parteiführung der Konservativen mit der Frage eines Disziplinarverfahrens wegen hetzerischer Rede herumschlug, nahm die Tory-Basis in den sozialen Medien Johnson wegen seines angeblichen Muts, eine Position gegen die "politische Korrektheit" zu beziehen, in Schutz.

Ende August kam es im May-Kabinett zu einem weiteren heftigen Schlagabtausch, diesmal zwischen Finanzminister Philip Hammond und Dominic Raab, Davis' Nachfolger als Brexit-Minister. Am 23. August veröffentliche Raab 24 Einzelstudien über die möglichen Folgen des härtesten aller EU-Austritte, des "No-Deal-Brexit", in verschiedenen Bereichen wie Gesundheit, Landwirtschaft, Bankwesen, Visakontrollen et cetera und wie man sich als Arbeitgeber oder einfacher Bürger am besten darauf vorbereitet. Während Raab die Risiken kleinredete und seine Empfehlungen nur als Vorsorgemaßnahmen für das schlimmstmögliche Szenario verstanden haben wollte, sprach Hammond am selben Nachmittag von einer potentiellen Zusatzbelastung des öffentlichen Haushalts um 80 Milliarden Pfund.

Führende Vertreter verschiedener Wirtschaftsverbände zeigen sich inzwischen erschrocken, daß der "No-Deal-Brexit" überhaupt in Erwägung gezogen wird. Der britische Bauernverband warnt, daß Großbritannien im Fall eines "No-Deal-Brexits" die Nahrungsmittel noch vor Ende 2019 ausgehen könnten. Die Polizeigewerkschaft und der Chef von Amazon UK, Doug Gurr, prognostizieren bereits soziale Unruhen. Schottlands Premierministerin Nicola Sturgeon hat Londons Verwendung des "No-Deal-Brexit" als Verhandlungsstrategie, um Brüssel zum Kleinbeigeben zu zwingen, als "vollkommen inakzeptabel" und "extrem schädigend" bezeichnet. Bekanntlich haben bei der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 die Schotten mit Zweidrittelmehrheit für den Verbleib in der EU votiert. Von daher liegt der ehemalige belgische Premierminister und EU-Ratsvorsitzende Herman Van Rompuy mit der Einschätzung, der "No-Deal-Brexit" könnte ein Auseinanderfliegen des Vereinigten Königreichs bewirken, nicht falsch.

Doch für die zumeist gutgemeinten Kassandrarufe zeigen sich die Tories mit ihrer Little-Englander-Mentalität vollkommen taub. Auf ihrer aktuellen Afrikareise mit Besuchen in Südafrika, Kenia und Nigeria erklärte Premierministerin May am 27. August, der "No-Deal-Brexit" wäre "sicherlich kein Spaziergang, aber auch nicht das Ende der Welt". Rees-Mogg hat am 26. August in Dublin mit der Behauptung für Verstimmung gesorgt, eine Wiedereinführung von Personenkontrollen an der inneririschen Grenze wie einst während der "Troubles" in Nordirland wäre kein großer Akt. Der irische Außenminister Simon Coveney tat die Äußerung des eingebildeten, sich stets aristokratisch aufspielenden Rees-Mogg als "wenig sachkundig" und "verantwortungslos" ab. Glücklicherweise hat sich bisher kein Politiker in Dublin oder Brüssel zur Erwiderung der ungeheuerlichen Erklärung von Nigel Farage, des einstigen Anführers der fremdenfeindlichen United Kingdom Independence Party (UKIP), die EU würde in der Streitfrage der irischen Grenze Großbritannien mit der Reaktivierung der "terroristischen" IRA drohen, aufgerufen gefühlt.

28. August 2018


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