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PARTEIEN/352: Brexit - die Kurve kratzen ... (SB)


Brexit - die Kurve kratzen ...


Im Vereinigten Königreich geraten die Brexiteers, hauptsächlich englische Euroskeptiker, die seit den Tagen Margaret Thatchers gegen die Mitgliedschaft Großbritanniens und Nordirlands in der europäischen Union wettern, zusehends ins politische Abseits. Ihr größter Erfolg, das Votum einer Mehrheit der britischen Bürger für den EU-Austritt, liegt mehr als eineinhalb Jahre zurück. Seitdem befindet sich das öffentliche Ansehen führender konservativer EU-Skeptiker wie Außenminister Boris Johnson, Umweltminister Michael Gove, Handelsminister Liam Fox und Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg im freien Fall und zwar weil sich die Vision besagter Herren eines "Global Britain", das befreit von allen EU-Vorschriften zum beneideten hochmodernen Spitzenstaat mit Wohlstand für alle aufsteigt, zunehmend als Luftnummer, als Schwindel, entpuppt. Entsprechend gereizt und hysterisch reagieren die chauvinistischen Little Englander, die, auch wenn sie es selbst niemals zugeben würden, ihr Land in die schwerste politische und wirtschaftliche Krise seit 1945 gestürzt haben.

Am 22. Februar traf das elfköpfige innere Kabinett Theresa Mays am Landsitz der britischen Premierministerin Chequers in der Grafschaft Buckinghamshire, etwa 65 Kilometer nordwestlich von London gelegen, zusammen, um den scheinbar niemals endenden Richtungsstreit in Sachen Brexit zu beenden. Im Verlauf der ganztägigen Diskussion setzten sich die Brexiteers, nicht zuletzt aufgrund der Führungsschwäche Mays, gegen die Befürworter eines sanften Brexits, das heißt größtmögliche Nähe zu Zollunion und EU-Binnenmarkt, wie Finanzminister Philip Hammond und Innenministerin Amber Rudd durch. Nach dem Treffen ließ Gesundheitsminister Jeremy Hunt verkünden, nach dem Brexit am 29. März 2019 würde Großbritannien keiner Zollunion mit der EU mehr angehören.

Die Nachricht vom Sieg der Brexiteers in Chequers wurde von Rees-Mogg begrüßt, der im Vorfeld des Treffens für ein Verlassen der Zollunion als einzigen Weg für Großbritannien plädiert hatte, sich vom "Vasallentum" zu befreien, das es ihm zufolge seit der Ära des Königshauses Plantagenet (1154-1485) in England nicht mehr gegeben habe. In der Wirtschaft reagierte man auf die Kamikaze-Entscheidung der Tories dagegen mit Entsetzen. Mark Carney, der aus Kanada stammende Chef der Bank of England und damit Hüter des britischen Pfund Sterling, prognostizierte eine Reduzierung der Jahresgehälter bei Durchschnittsverdienern um fünf Prozent infolge des Brexit. EU-Ratspräsident Donald Tusk tat die in Chequers formulierte Einigung auf eine "austarierte Divergenz" der künftigen Ordungspolitiken von UK und EU kurzerhand als "reine Illusion" ab. Konsterniert stellte der ehemalige polnische Premierminister fest, bei der konservativen Regierung in London glaube man offenbar immer noch, alle Vorteile einer Mitgliedschaft der EU und keinen ihrer Nachteile haben zu können, und sagte ein baldiges und unangenehmes Erwachen für die Tories voraus.

Das Heiße-Luft-Schiff der Brexiteers verliert zusehends an Höhe, sein Aufdotzen auf dem Boden der Wirklichkeit zeichnet sich bereits ab. Im Unterhaus hat eine Gruppe konservativer Abweichler, angeführt von Ex-Finanzminister Kenneth Clarke und der Hinterbänklerin Anna Soubry, dem Brexit-Gesetzentwurf einen Zusatz beigefügt, der die Teilnahme des Vereinigten Königreichs an einer Zollunion mit der EU auch nach dem formellen Austritt vorschreibt. Der Zusatz stößt im Unterhaus auf breite Zustimmung. Mit der Unterstützung der oppositionellen Labour Party, der Liberaldemokraten, der schottischen Nationalisten von der SNP und der walisischen Plaid Cymru dürfte er bei der Abstimmung innerhalb der nächsten zwei Wochen eine Mehrheit erringen. Die Abstimmungsniederlage könnte zum Sturz von Mays Minderheitsregierung führen, die lediglich durch die Stimmen der zehn Abgeordneten der probritischen protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland über Wasser gehalten wird.

Oppositionsführer Jeremy Corbyn bereitet die Sozialdemokraten auf Neuwahlen vor. In einer Grundsatzrede an der Universität von Coventry am 26. Februar sprach sich der langjährige Friedensaktivist für eine Zollunion zwischen UK und EU sowie für die dauerhafte Aufrechterhaltung bisheriger Standards in Bereichen wie Lebensmittel, Medizin und Umwelt aus, damit britische Unternehmen auch nach dem Brexit weiterhin Zugang zum europäischen Binnenmarkt behielten. Corbyn erteilte der Idee der Brexiteers von neuen fabelhaften britischen Handelsverträgen mit den USA, China und Indien eine Absage. London strebe an, künftig bei den EU-Verhandlungen mit Drittstaaten mitreden zu können, sagte er. Corbyn hob die Wichtigkeit der Vermeidung von Grenzinstallationen zwischen Nordirland und der Republik Irland hervor. Der mühsam erzielte Frieden auf der grünen Insel dürfe nicht auf dem Altar des Brexit geopfert werden, so der Labour-Chef. Damit ging Corbyn auf Distanz zu den Brexiteers, die in den Tagen zuvor das Karfreitagsabkommen von 1998 als mögliches Hindernis auf dem Weg hin zur größtmöglichen Befreiung von den Ketten der EU in Frage gestellt hatten.

Die Unverantwortlichkeit dieser Position war nicht nur in Irland, sondern auch in Großbritannien höchst unangenehm aufgefallen und in den Medien beiderseits der Irischen See negativ kommentiert worden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich die Brexiteers, jene 62 konservativen Abgeordneten in der von Rees-Mogg angeführten European Research Group (ERG), zunehmend isolieren. Während sich Corbyn, dessen Verteufelung als Marxist durch die reaktionäre britische Boulevardpresse nicht mehr fängt, zunehmend als besonnener Staatsmann präsentiert, zerlegt sich die konservative Partei im Flügelkampf zwischen EU-Feinden und -Freunden. In London rechnen erfahrene Politikbeobachter mit einem Kollaps der derzeitigen Tory-Regierung bis spätestens Ende März. Als voraussichtlicher Nachfolger Mays wird Corbyn gehandelt. Den konkurrierenden Tory-Kronprinzen Johnson und Rees-Mogg werden nicht zuletzt aufgrund ihrer miserablen öffentlichen Auftritte keine Chancen auf einen Einzug in Number 10 Downing Street attestiert.

27. Februar 2018


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