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PARTEIEN/293: Nordirland droht wieder ein blutiger 12. Juli (SB)


Nordirland droht wieder ein blutiger 12. Juli

Unionistische Parteien tanzen nach der Pfeife des Oranierordens



Seit Anfang Dezember 2012 der Kommunalrat von Belfast mehrheitlich entschieden hat, über dem Rathaus der nordirischen Hauptstadt die britische Fahne nicht durchgehend, sondern entsprechend der Praxis in Großbritannien nur an gesetzlichen Feiertagen wehen zu lassen, befindet sich die Provinz in einer politischen Krise. Die Flaggenproteste probritischer Loyalisten haben zwar nachgelassen, reißen bis heute jedoch nicht ganz ab. Im letzten Sommer kam es wegen der Entscheidung der unabhängigen Parades Commission, drei Logen des Oranier-Ordens den feierlichen Umzug durch das katholische Viertel Ardoyne in Westbelfast am 12. Juli zu verbieten, zu tagelangen Krawallen. Seitdem halten loyalistische Schläger an der Kreuzung Twaddell Avenue/Crumlin Road ein Protestlager besetzt, um für ihre "Menschenrechte" zu demonstrieren.

Im Dezember 2013 sind Gespräche unter dem Vorsitz des US-Sondervermittlers Richard Haass zwischen Vertretern der im nordirischen Regionalparlament vertretenen Parteien - auf katholisch-nationalistischer Seite Sinn Féin und die Social Democratic Labour Party (SDLP) und auf protestantisch-probritischer Seite die Democratic Unionist Party (DUP) und die Ulster Unionist Party (UUP) - zur Beilegung der lähmenden Dispute über Flaggen, Märsche und die geschichtliche Aufarbeitung des dreißigjährigen Bürgerkrieges gescheitert. Während sich Sinn Féin und SDLP mit den Kompromißvorschlägen von Haass einverstanden erklärten, fühlten sich die unionistischen Vertreter hierzu nicht imstande.

Wenige Tage nach dem Scheitern der Haass-Initiative hat Martin McGuinness, Sinn-Féin-Vizepräsident und Stellvertretender Premierminister Nordirlands, in einem Fernsehinterview mit der BBC die unionistischen Kollegen heftig kritisiert. Er warf ihnen vor, es an politischer Verantwortung vermissen zu lassen. DUP und UUP würden sich ihre Position in den drei genannten Problemfeldern vom Oranierorden und den loyalistischen Paramilitärs diktieren lassen, statt dem Wunsch der großen Mehrheit der Protestanten Nordirlands nach einem friedlichen Zusammenleben mit den katholischen Nachbarn Rechnung zu tragen. In Belfast sei die Mitgliedschaft des Oranierordens und der loyalistischen Paramilitärgruppierungen praktisch identisch, so McGuinness.

Daß McGuiness sich erlaubte, das offen auszusprechen, was - um eine nordirische Redewendung zu benutzen - selbst der Hund auf der Straße weiß, nahmen ihm führende Unionisten übel. Bei einem Auftritt im britischen Unterhaus behauptete DUP-Vizechef Nigel Dodds, mit dem BBC-Interview hätte McGuinness davon ablenken wollen, daß Sinn Féin nach wie vor die "früheren terroristischen Verbrechen" [der IRA - Anm. d. SB-Red.] "glorifizieren" würde. Dodds selbst strebt die Posten des DUP-Vorsitzenden und des Ministerpräsidenten Nordirlands an, da der aktuelle Inhaber Peter Robinson aufgrund eines Korruptionsskandals um seine Frau Iris als angeschlagen gilt. Aus diesem Grund mischte sich Dodds im vergangenen Juli demonstrativ unter die loyalistischen Krawallbrüder, die sich nahe den Ardoyne Shops eine Straßenschlacht mit der Polizei lieferten - dabei traf ihn ironischerweise ein von den eigenen Leuten geworfener Pflasterstein am Kopf, worauf er mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte.

Der 12. Juli in diesem Jahr droht noch blutiger zu werden als 2013, nachdem am 4. Juli die UUP, DUP sowie die kleineren unionistischen Parteien Traditional Ulster Voice (TUV) und NI21 aus Protest gegen die Entscheidung, den Oranierumzug durch Ardoyne nach der zentralen Kundgebung zum Jahrestag der Schlacht am Boyne von 1690 zu verbieten, die Zusammenarbeit mit der Parades Commission aufkündigten, sich von geplanten, erneuten Vermittlungsgesprächen mit Richard Haass zurückzogen und ein Treffen des Nord-Süd-Rates platzen ließen.

Bezeichnenderweise gab die unionistische Führungsriege ihre Stellungnahme unmittelbar nach einem Besuch bei Edward Stevenson, dem Großmeister des Oranierordens, in dessen Großer Loge im Belfaster Nobelviertel Holywood sowie im Beisein von Vertretern der paramilitärischen Gruppierungen Ulster Volunteer Force (UVF) und Ulster Defence Association (UDA) ab. Die politische Verweigerungshaltung von Robinson, Dodds und Konsorten kommt einer Aufforderung zur Randale gleich. Den öffentlichen Aufruf der Unionisten zu "friedlichen" Protesten kann man nur als doppelzüngig bezeichnen.

Bei einer Rede im ländlichen Drumcree bei Portadown, wo wegen früherer schwerer Ausschreitungen die Oranier ihren traditionellen Umzug entlang der Garvaghy Road seit einigen Jahren nicht mehr durchführen dürfen, hat Drew Nelson, Generalsekretär des Oranierordens, am 6. Juli seine Gesinnungsgenossen angestachelt. In Bezug auf die Verordnungen der Parades Commission, die sich angeblich den Muskelspielen von Sinn Féin und der IRA beugen würde, gab Nelson folgende Drohung von sich: "Ich gehe davon aus, daß die Reaktion der unionistischen und loyalistischen Familie auch weit nach der Marschsaison andauern und sich auf die Sphäre der Politik und der Regierungsarbeit ausweiten wird".

Indirekt kündigt der Oranierorden damit an, die im Rahmen des Karfreitagsabkommens von 1998 geschaffenen Institutionen zu Fall zu bringen, indem er die unionistischen Parteien zum Rückzug aus denselben veranlaßt. In der Ausgabe des Belfast Telegraph, der führenden Zeitung Nordirlands, vom 7. Juli lautet die Schlagzeile zur aktuellen Krise: "Die Agenda des Oranierordens steht im Zentrum der unionistischen Politik". Angesichts dieser gefährlichen Entwicklung müßte das Außenministerium in Berlin für das kommende Wochenende von Reisen nach Nordirland, speziell Belfast, abraten. Nicht umsonst fahren viele Menschen aus Nordirland in diesen Tagen zum Urlaub in den Süden der Republik.

7. Juli 2014