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PARTEIEN/272: Michael D. gewinnt irische Präsidentenwahl haushoch (SB)


Michael D. gewinnt irische Präsidentenwahl haushoch

Verdienter Sieg des Gelehrten und Verfechters der gälischen Sprache


Die diesjährige Präsidentenwahl in Irland hatte eine besondere Bedeutung. In Irland waren sich alle bewußt: Wer die Wahl gewinnen sollte, würde als Staatsoberhaupt der Hundertjahrfeier des blutigen Osteraufstands von 1916 vorstehen und damit großen Einfluß auf die geschichtliche Deutung des nicht unumstrittenen Ereignisses haben. Wenngleich die mitten im Ersten Weltkrieg erfolgte, wochenlange Besetzung des General Post Office (GPO) und anderer wichtiger Gebäude in Dublin durch schwerbewaffnete Mitglieder der Irish Volunteers um Pádraig Pearse und der sozialistischen Citizens' Army um James Connolly das Ende der britischen Herrschaft auf dem größten Teil der grünen Insel einläutete, machen revisionistische Historiker sie seit Ende der sechziger Jahre für die Abspaltung der sechs nordöstlichen Grafschaften und deren Verbleib im Vereinigten Königreich verantwortlich. Und da die Wiederherstellung der Einheit Irlands nach wie vor zur Staatsräson gehört, wird der Präsident der Irischen Republik zu Ostern 2016 zu einer Rhetorik greifen müssen, die die Versöhnung zwischen den katholischen Nationalisten beiderseits der Grenze und der protestantisch-probritischen Mehrheit im Norden vorantreibt und das Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört - um einmal Willy Brandt zu paraphrasieren -, fördert.

Mit der Wahl des langjährigen sozialdemokratischen Politikers Michael D. Higgins haben die Bürger Irlands am 27. Oktober die mit Abstand geeigneteste Person mit der geschichtsträchtigen Herkulesaufgabe in fünf Jahren betraut. Den Beweis dafür trat der Dichter, frühere Dozent für politische Wissenschaft an der Universität von Galway und ehemalige Minister für Kunst, Kultur und Telekommunikation am 29. Oktober nach der Verkündung des offiziellen Endergebnisses in Dublin Castle in seiner stilvollen, aber zugleich witzig und emotionalen Dankesrede und der anschließenden Pressekonferenz eindrucksvoll an.

Entgegen früheren Erwartungen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem 49jährigen parteilosen Geschäftsmann Seán Gallagher fiel der Sieg des 70jährigen Michael D., der bereits im Herst 2010 seine Absicht zur Kandidatur erklärt und seitdem das ganze Land bereist hatte, eindeutig aus. Higgins bekam mehr als 701,101 Erststimmen (39.6%), Gallagher dagegen nur 504,964 (28.5%). Nach dem Ausscheiden der anderen fünf Kandidaten - des Sinn-Féin-Vizeparteivorsitzenden Martin McGuinness (13.7%), des Europaabgeordneten Gay Mitchell von der regierenden Fine-Gael-Partei (6.4%), des parteilosen Menschenrechtlers und Senators David Norris (6.2%), der ehemalige Schlagersängerin und erzkonservativen Katholikin Rosemary "Dana" Scallon (2.9%) und der parteilosen Geschäftsfrau Mary Davis (2.7%) - und der Verteilung von deren Zweitstimmen hatte Michael D. als erster Sieger einer Präsidentenwahl in Irland die magische Grenze von einer Million Stimmen überschritten. Für ihn hatten 1.007.104, für Gallagher lediglich 628.114 Menschen votiert.

Die Eindeutigkeit von Higgins Sieg und die Tatsache, daß er sich aus der wochenlangen Schlammschlacht unter den anderen Kandidaten - Mitchell hatte McGuinness wiederholt mit seiner Vergangenheit als IRA-Kämpfer im nordirischen Bürgerkrieg konfrontiert, während der Sinn-Féin-Vizepräsident seinerseits Gallagher fünf Tage vor dem Urnengang bei der letzten Fernsehdebatte als Aktivposten der zuletzt regierenden, wegen ihrer Verantwortung für die Banken- und Baukrise Irlands in Mißkredit geratenen Partei Fianna Fáil demaskiert hatte - herausgehalten hatte, ließ die offizielle Bekanntgabe des Ausgangs der Wahl zu einer regelrechten Feier der historischen Leistungen und persönlichen Integrität der Galionsfigur des linken Flügels der irischen Labour Party werden. In den großzügigen Lobesworten der unterlegenen Kandidaten für Michael D. schwang unüberhörbar die Einsicht auch bei ihnen mit, daß hier tatsächlich der beste Kandidat für den Posten des Präsidenten Irlands gewonnen hatte.

Die Bestätigung für die Richtigkeit dieser Einsicht lieferte das Staatsoberhaupt in spe gleich selbst, als er an das Rednerpult trat. Nach Danksagungen an die Wahlkampfleitung, die eigenen Unterstützer und die Menschen, die ihn gewählt hatten, erklärte Higgins, er wolle der Präsident auch derjenigen sein, die ihre Stimme anderweitig vergeben hatten oder gar nicht erst zur Wahl gegangen waren, und gab zu diesem Zweck seinen sofortigen Austritt aus der Labour Party bei gleichzeitigem Rücktritt von der Position des Parteivorsitzenden bekannt. Mühelos wechselte Michael D. vom Englischen in die gälische Sprache, deren großer Verfechter er ist, und wieder zurück. Unter Verweis auf die vielen Menschen, die in Irland unter der Wirtschaftskrise durch Arbeitslosigkeit, Zahlungsschwierigkeiten bei ihren Hypotheken, Kürzungen der sozialen Bezüge u. v. m. leiden, stellte er fest, die Zeit des "engen Individualismus", wo die Wertschätzung eines Menschen aufgrund seines Besitzes und nicht seines Einsatzes für die Gemeinde, die Gesellschaft oder die Nation erfolgte, sei vorbei. Im Mittelpunkt des Strebens nach einer "echten Republik" müsse die "Macht des Kollektivs" stehen. Mit dieser Wortwahl erinnerte Higgins gezielt an das in der Unabhängigkeitserklärung von 1916 niedergeschriebene, bis heute nicht erfüllte Versprechen, wonach "alle Kinder der Nation" gleich behandelt, behütet und wertgeschätzt werden müßten.

In der Pressekonferenz ging der langjährige Friedensaktivist noch weiter. Er machte darauf aufmerksam, daß die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht über Nacht über Europa und Nordamerika hereingebrochen, sondern das Ergebnis einer menschenfeindlichen Wirtschaftslehre sei, die seit Jahrzehnten beiderseits des Atlantiks herrsche. In diesem Zusammenhang kritisierte er unumwunden den dominierenden Einfluß der ökonomischen Fakultät der Universität von Chicago und deren neoliberalen Vordenker Friedrich Hayek. Die heutige Misere sei auf ein falsches Menschen- und Gesellschaftsbild zurückzuführen, weshalb Higgins Experten und einfache Bürger zu einer Reihe von Seminaren in den Präsidentenpalast im Dubliner Phoenix Park einladen werde, um über Wege zur Erneuerung Irlands zu diskutieren. "Eine Präsidentschaft der Ideen" versprach er seinen Landsleuten. In einem anschließenden Interview mit Moderator Brian Dobson für die Frühabendnachrichten des staatlichen Fernsehsenders Radío Teilifís Éireann (RTÉ) 1 hob Michael D. hervor, daß demnächst nicht nur die Hundertjahrfeier des Osteraufstands, sondern bereits 2012 auch der Gründung der Labour Party durch Connolly und James Larkin anstünde, womit er sich als geistiger Erbe der beiden größten Anführer der irischen Arbeiterschaft im 20. Jahrhundert zu erkennen gab.

In der Politsendung "This Week" des Radiosenders RTÉ 1 wurde Michael D. am nächsten Tag, dem 30. Oktober, gefragt, was sein Vater über seine Wahl zum Präsidenten gedacht hätte, würde er noch leben. Higgins sen. hatte am Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten 1920/21 und anschließend am Bürgerkrieg 1921/22 teilgenommen, wobei er bei letzterem auf der Seite der Verlierer, der Gegner des Anglo-Irish Treaty und der Teilung Irlands, stand. Von seinen schlimmen Erfahrungen in dieser bewegten Phase der irischen Geschichte soll er dermaßen gezeichnet gewesen sein, daß er kaum arbeitsfähig und dem Alkohol stark zugeneigt war. Higgins' Eltern, die damals in der Stadt Limerick wohnten, waren so arm, daß sie ihn mit fünf Jahren und seinen vier Jahre alten Bruder zu einem nicht verheirateten Onkel und einer ledigen Tante, die zusammen auf einem kleinen Bauernhof in der benachbarten Grafschaft Clare lebten, gaben, damit sie dort halbwegs vernünftig aufwachsen sollten. Zu einem Studienplatz ist Michael D. später nur gekommen, weil ein Vorgesetzter beim staatlichen Stromkonzern ESB sein Talent erkannte und ihm ein Stipendium gab. Jedenfalls konnte Higgins offenbar wegen der noch heute schmerzenden Erinnerung am Schicksal seines Vaters die Frage nach dessen Reaktion auf den Aufstieg des Sohnes zum Präsidenten nicht beantworten, sondern blieb an dieser Stelle einfach stumm. Am selben Abend beim berauschenden Empfang auf dem Eyre Square mitten in der Westküstenmetropole Galway, wo Higgins zweimal als Bürgermeister gedient hatte, konnte man den guten alten Michael D. wieder freudig erleben. Während die berühmtesten Folk-Musiker der Stadt die rund 5000 Menschen zum Tanzen brachten, nahm der Präsident des Galway Football Club ein verdientes Bad in der Menge und ließ sich demonstrativ auch von den jungen Kapitalismusgegnern der "Occupy"-Bewegung feiern.

31. Oktober 2011