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JUSTIZ/185: Derry - das ist kein Spiel ... (SB)


Derry - das ist kein Spiel ...


Am heutigen 24. April fand in der protestantischen Saint Anne's Cathedral zu Belfast der Trauergottesdienst für die 29jährige Journalistin Lyra McKee statt, die fünf Tage zuvor, am Gründonnerstag, am Rande eines gewalttätigen Krawalls in Derry von einer Kugel tödlich getroffen worden war. Der Tod der jungen, für ihr Sozialengagement gerühmten Autorin hat den Menschen in Irland und Großbritannien die Fragilität des nordirischen Friedensprozesses 21 Jahre nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens vor Augen geführt. Das Entsetzen über McKees plötzliches wie tragisches Ableben und die Angst vor einem erneuten Ausbruch der "Troubles" erklären, weshalb für die Republik Irland Präsident Michael D. Higgins, Premierministerin Leo Varadkar und Außenminister Simon Coveney sowie für das Vereinigte Königreich Premierministerin Theresa May und Oppositionsführer Jeremy Corbyn der Trauerzeremonie in Belfast beiwohnten.

Der Krawall, bei dem McKee starb, fand in Creggan, einer katholischen Armensiedlung im Westteil von Derry, deren Bewohner in den letzten Jahren durch Kürzungen der staatlichen Leistungen in den Bereichen Soziales, Bildung und Gesundheit besonders stark betroffen sind, statt. Das mehrheitlich katholische Derry, mit 235.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Provinz Ulster, leidet ohnehin seit Jahrzehnten an fehlenden Investitionen und staatlicher Unterstützung seitens der Regionalverwaltung in Belfast bzw. der Zentralregierung in London. Die hochumstrittene Entscheidung, die zweite Universität Nordirlands nicht in Derry, sondern in der nahegelegenen, mehrheitlich protestantischen Stadt Craigavon anzusiedeln, hat in den 60er Jahren nicht unwesentlich zum Aufkommen der katholischen Bürgerrechtsbewegung beigetragen, deren brutale Unterdrückung durch protestantische Polizei und loyalistische Schlägertrupps wiederum einen Bürgerkrieg auslöste, der bis 1998 3500 Menschen das Leben kostete und Zehntausende verkrüppelt bzw. traumatisiert zurückließ.

Auch heute gehören die Problemviertel in Derry und Belfast zu den ärmsten Regionen des Vereinigten Königreichs. In ihren Schriften hatte McKee immer wieder auf die Trost- und Perspektivlosigkeit in den sozialen Brennpunkten Nordirlands hingewiesen, die junge Katholiken und Protestanten in die Arme jeweils republikanischer respektive loyalistischer paramilitärischer Gruppierungen treibt, die wiederum in diverse kriminelle Geschäfte wie den Handel mit illegalen Drogen, Schutzgelderpressung, Prostitution et cetera verwickelt sind. Brexit hat die Spannungen in Nordirland drastisch erhöht. Die protestantische Democratic Unionist Party (DUP) hat sich beim Referendum 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) stark gemacht. Seit die größte protestantische Partei Nordirlands 2017 im Londoner Unterhaus als Mehrheitsbeschafferin für die konservative Regierung Mays fungiert, tritt sie an der Seite englischer Europhoben für einen harten Brexit ein - selbst auf die Gefahr hin, daß dies eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik und damit ein Wiederaufflammen der Gewalt mit sich bringen könnte. Mit dieser Haltung hat die DUP alle Katholiken Nordirlands sowie zahlreiche gemäßigte Protestanten, darunter viele Bauern und Unternehmer, die sich um Handelshemmnisse Sorgen machten, gegen sich aufgebracht. Schließlich hatte eine Mehrheit der nordirischen Wähler vor drei Jahren für den Verbleib in der EU votiert.

Die Brexit-Spannungen bieten der New IRA, einer winzigen Splittergruppe der früheren Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die unter der Führung ihres politischen Arms Sinn Féin 1997 den bewaffneten Kampf gegen den britischen Staat beendete und sich 2005 von ihrem umfangreichen Waffenarsenal trennte, die Chance, sich als die "wahren" Verfechter des Traums eines wiedervereinigten Irlands aufzuspielen. Doch während die IRA während der "Troubles" über mehrere tausend Mitglieder verfügte und die Unterstützung weiter Teile der katholischen Bevölkerung genoß, besteht die New IRA aus einer Handvoll Ewiggestriger wie Thomas Ashe Mellon und Kieran McCool, die den Behörden sattsam bekannt sind und deshalb im Dauerblickfeld der Police Service of Northern Ireland (PSNI) und des Inlandsgeheimdienstes MI5 stehen, sowie einiger hundert arbeitloser und leicht beeinflußbarer Jugendlichen. Im Januar hat die Gruppe eine schwere Autobombe vor einem Gerichtsgebäude in Derry zur Explosion gebracht und dabei fast eine Gruppe heimkehrender Nachtclubbesucher ins Jenseits befördert. Im März hat sie mehrere Briefbomben an Bahnhöfe und Flughäfen in England und Schottland verschickt, die zum Glück nicht hochgingen.

Bei dem Krawall, an dessen Rand Lyra McKee der Tod ereilte, handelte es sich offenbar um eine Inszenierung, mit der die New IRA öffentlichkeitswirksam "Stärke" demonstrieren wollte. Anlaß war der Besuch einer Produktionsgruppe des Fernsehsenders MTV UK unter der Leitung des ehemaligen BBC-Moderators Reggie Yates. Die MTV-Crew hielt sich seit Tagen in Derry mit dem Zweck auf, für die Serie "Reggie Yates versus The World" eine reißerische Reportage über die "New IRA" zu machen. Gegen 21 Uhr am 18. April drang die PSNI mit mehreren gepanzerten Allradwagen in Creggan ein, um nach eigenen Angaben eine Razzia durchzuführen und Waffen und Munition, die über Ostern von der New IRA für irgendwelche Aktionen genutzt werden sollten, zu beschlagnahmen. Es besteht jedoch der Verdacht, daß die Anwesenheit der Fernsehleute aus London die PSNI hat aktiv werden lassen, die der New IRA möglicherweise eine Gelegenheit zum Protzen mit ihren Waffen verwehren wollten. In einem Artikel des Belfast Telegraph vom 24. April heißt es: "Die Polizeiführung war entschlossen, peinliche Szenen wie im vergangenen Jahr, als die BBC-Moderatorin Stacy Dooley für eine Sendung über punishment beatings vor der Kamera mit vier maskierten Mitgliedern der Terrorbande sprach, nicht wieder aufkommen zu lassen."

Sollte dies das Motiv des martialischen Polizeieinsatzes gewesen sein, so war der Ansatz mehr als mißraten. Zahlreiche Jugendliche aus Creggan haben mit Steinen und Brandbomben auf die Anwesenheit der Polizei in ihrem Viertel reagiert und die Beamten zum partiellen Rückzug gezwungen. Es kam zu einer rund zweistündigen Straßenschlacht, bei der zwei Privatautos in Brand gesteckt wurden und sich die Polizei mit ihren Wagen rund hundert Meter vor dem Eingang zur Wohnsiedlung postierte, so daß die Menge sie aus der Distanz mit verschiedenen Gegenständen bewerfen konnte. Gegen 23 Uhr tauchte unter den aufgebrachten Jugendlichen ein maskierter Mann auf, der mit einer Pistole zwei Schüsse Richtung Polizei abgab. Lyra McKee, die mit anderen Einwohnern Derrys neben den Polizeiautos stand und sich Notizen über das Geschehen machte, wurde von einer Kugel getroffen und fiel zu Boden. Man brachte sie sofort ins Krankenhaus, doch auf dem Weg dahin starb sie im Polizeiwagen.

Inzwischen hat die PSNI zwei Jugendliche in Verbindung mit dem Tod McKees festgenommen. Man vermutet, daß einer der beiden die Pistole in die Hand gedrückt bekam mit dem Auftrag, für die Fernsehdramaturgie irgendwelche Schüsse auf die Polizei abzugeben. Von einem gezielten Schuß, gar einer Tötungsabsicht ist nicht auszugehen. Dennoch hat die Leichtfertigkeit, mit der die New IRA menschliches Leben in Gefahr brachte und das von Lyra McKee, wenn auch ungewollt, frühzeitig beendete, eine Welle der Abscheu ausgelöst. In den ersten Stunden hat die PSNI von den Einwohnern Creggans und Umgebung - die sich traditionell einer distanzierten Haltung zur nordirischen Polizei befleißigen - mehr als 140 telefonische Hinweise zu den Hintergründen der Tat erhalten. Für die offizielle Entschuldigung der New IRA und seines politischen Arms Saoradh, bei der heldenhaften Verteidigung des Creggan vor dem "Eindringen königlicher Kräfte" wäre es zu einem tragischen Unfall gekommen, haben die Menschen beiderseits der irischen Grenze nicht das geringste Verständnis.

In einer Phase, in der wegen des Brexit die Frage der Wiedervereinigung Irlands in aller Munde ist und vielfach Wege zur Überwindung der Partition diskutiert werden, halten die allermeisten Republikaner, die heute vielleicht Sinn Féin unterstützen und früher den Kampf der IRA für gerecht gehalten haben, die Aktivitäten der vermeintlichen "Erben" für absolut kontraproduktiv. In den sozialen Medien wird häufig die Meinung geäußert, gäbe es die New IRA nicht, müßte der MI5 sie erfinden, weil ihre Überwachung und Bekämpfung das inzwischen letzte Argument darbiete, mit dem Großbritannien seine Präsenz im Nordosten Irlands begründen könne. In seinem 2008 erschienenen Buch "Good Friday: The Death of Irish Republicanism" hat der Publizist und Sinn-Féin-Kritiker Anthony McIntyre, der selbst unter anderem wegen IRA-Mitgliedschaft 18 Jahre hinter Gittern verbrachte, diejenigen irischen Republikaner, die heute noch am bewaffneten Kampf gegen Großbritannien festhalten, mit den paar japanischen Soldaten verglichen, die sich jahrzehntelang in den Wäldern der Philippinen versteckten, weil sie nicht glauben könnten, daß der Zweite Weltkrieg 1945 für Nippon verloren gegangen sei.

24. April 2019


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