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WIRTSCHAFT/015: Streiks gegen Lohndumping unzulässig (guernica)


guernica Nr. 1/2008, Januar/Februar 2008
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

Europa der Konzerne

EuGH erklärt Streiks gegen Lohndumping für unzulässig


Der Europäische Gerichtshof erklärt in zwei Fällen gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen gegen Lohndumping für unzulässig. Die "Freiheit" des EU-Binnenmarktes ist für die EU-Richter wichtiger als die Einhaltung von Kollektivverträgen und das Streikrecht. Damit droht ein Dammbruch.

In Vaxholm einem Vorort der schwedischen Hauptstadt Stockholm, gewann im Herbst 2004 die lettische Firma Laval eine EU-weite Ausschreibung für die Renovierung einer lokalen Schule. Laval nahm den Auftrag an, zahlte aber in Schweden nicht die dort vorgeschriebenen Kollektivvertragslöhne von 145 Kronen pro Stunde, sondern nur etwas mehr als die Hälfte. Daraufhin blockierte die schwedische Baugewerkschaft wochenlang die Baustelle der lettischen Firma Laval in Vaxholm. Laval musste sich schließlich zurückziehen und klagte die Gewerkschaften beim schwedischen Gericht auf Entschädigung. Das Gericht sah EU-Recht berührt und wandte sich an den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser traf nun Ende 2007 sein Urteil - zugunsten des Konzerns und zu Lasten der Gewerkschaft. Der EuGH erklärte zwar, dass an und für sich Streiks bzw. kollektive Kampfmaßnahmen in der EU zulässig seien, jedoch nicht dann, wenn sie mit den "Freiheiten" des EU-Binnenmarktes kollidieren. Das Unterlaufen der Kollektivverträge durch die lettische Firma Laval sei mit der "Dienstleistungsfreiheit" des Binnenmarktes vereinbar, die gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen dagegen seien deshalb unzulässig. Wörtlich heißt es in der Presseaussendung des EuGH, dass im konkreten Fall "das Recht der gewerkschaftlichen Organisationen eines EU-Mitgliedstaats zur Durchführung kollektiver Maßnahmen ... geeignet ist, für diese Unternehmen die Durchführung von Bauarbeiten im schwedischen Hoheitsgebiet weniger attraktiv zu machen, ja sogar zu erschweren, und daher eine Beschränkung des freien Dienstleistungsvekehrs darstellt." (EuGH-Pressemitteilung Nr. 98/07, 18.12.2007) Jede in einem EU-Staat ansässige Firma müsse grundsätzlich die Möglichkeit haben, ihre "Dienste" auch in jedem anderen EU-Staat anzubieten, ohne dabei an die jeweilig vor Ort geltenden Tarifvereinbarungen gebunden zu sein. Nur wenn ein Gesetz ausdrücklich die Gültigkeit des einheimischen Tarifvertrags vorschreibt, kann auf dessen Einhaltung bestanden werden.


Binnenmarkt geht vor Kollektivverträgen und Streikrecht.

Ebenfalls im Dezember 2007 entschieden die hohen Brüsseler Richter einen ähnlich gelagerten Fall, den ein finnisches Fährunternehmen "Viking Line" gegen die finnische Seeleute-Gewerkschaft (FSU) und die sie unterstützende Internationale Transportarbeiterföderation angestrengt hatte. Um die Löhne unter den finnischen Kollektivvertrag zu drücken, gründete die "Viking Line" in Estland ein "Subunternehmen", um die bisher unter finnischer Flagge fahrenden Fährschiffe künftig unter estnischer Flagge fahren zu lassen. Den bisher dort beschäftigten finnischen Seeleuten drohte die Entlassung. Die FSU forderte, dass auch für die unter estnischer Flagge fahrenden Schiffe weiterhin der finnische Tarifvertrag gelten soll, also die estnischen Seeleute nicht schlechter als die finnischen bezahlt werden dürfen. Um die Konzernspitze zu Verhandlungen zu zwingen, drohte die Gewerkschaft mit Streik. Die Firmenleitung ließ dies per einstweiliger Verfügung eines finnischen Gerichts verbieten. Die Gewerkschaften riefen daraufhin ein Berufungsgericht an, das seinerseits eine Anfrage bezüglich der Auslegung des in diesem Fall geltenden EU-Rechts an den EuGH richtete. Dieser verkündete nun, dass gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen zur Sicherung von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen in diesem Fall unzulässig seien, weil damit die "Niederlassungsfreiheit" eines Unternehmens eingeschränkt würde.


Eisenbahnerstreiks bald illegal?

Die Auswirkungen dieser beiden EuGH-Entscheidungen gehen weit über den konkreten Fall hinaus, sie stellen EU-weit Rechtsauslegung dar. Damit erfolgt ein Dammbruch, der zentrale Errungenschaften der Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnen in der EU in Frage stellt: das Streikrecht ebenso wie die Durchsetzung von Kollektivverträgen. Der EuGH bewertete die "EU-Dienstleistungsfreiheit" höher als das Streikrecht und den Schutz vor Lohndumping. In Hinkunft könnte es reichen, dass Konzerne Briefkastenfirmen in EU-Billiglohnländern eröffnen, um Kollektivverträge in anderen Ländern zu unterlaufen. Über gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen schwebt das Damoklesschwert der EuGH-Richter. Der Professor für Arbeits- und Sozialrechtrecht an der Universität Wien, Robert Rehan, weist darauf hin, dass in Zukunft auch Streiks, die den "freien Warenverkehr" beeinträchtigen für illegal erklärt werden könnten: "In der Folge liegt es nahe, dass auch Streiks um einen Tarifvertag, die sich primär nicht gegen das Ausüben einer Grundfreiheit richten, die aber den Verkehr innerhalb, der Gemeinschaft erheblich beeinträchtigen, wie ein Streik der deutschen Lokführer, vom EuGH den neuen Regeln unterworfen werden." (FAZ, 19.12.2007).


Skandinavisches Sozialmodell "entspricht nicht dem EU-Gemeinschaftsmodell"

Die Entscheidungen des EuGH kommen freilich nicht ganz überraschend. Denn der EuGH ist weit davon entfernt, unabhängig zu sein. Die Mitglieder des EuGH werden direkt von den Regierungen der Nationalstaaten für eine Dauer von zehn Jahren bestimmt. Der EuGH ist damit weniger ein unabhängiges oberstes Gericht, er ist vielmehr eine "Exekutive der Exekutive". Neben Industrie und Arbeitgeberverbänden zeigte sich auch die EU-Kommission entsprechend zufrieden über die Entscheidungen Vaxholm und Viking. Der EU-Binnenmarktkommissars Charlie Mc Creevy hatte bereits während des Verfahrens offen Partei für die Unternehmerseite ergriffen und die Streitfälle Vaxholm und Viking zum Anlass genommen, um zum Halali auf das skandinavischen Sozialsystem zu blasen, da dieses "nicht dem EU-Gemeinschaftsrecht entspräche." (www.wieninternational.at)


ÖGB steckt Kopf in den Sand

Während bei den skandinavischen Gewerkschaften seit den EuGH-Entscheidungen Feuer am Dach ist, steckt die ÖGB-Führung den Kopf in den Sand. Statt endlich Widerstand gegen den EU-Reformvertrag zu leisten, der die Möglichkeiten der EU-Kommission die Vermarktwirtschaftlichung aller Lebensbereiche voranzutreiben weiter stärkt, wird der Regierung die Mauer gemacht. Doch auch dieser Beton beginnt zu bröckeln, wie die Initiative von BetriebsrätInnen zeigt, die sich für eine Volksabstimmung über den neuen EU-Vertrag stark machen.


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Quelle:
guernica Nr. 1/2008, Januar/Februar 2008, Seite 5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2008