Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → POLITIK


WIRTSCHAFT/134: Das Feiglingsspiel der EU (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 18. Oktober 2018
german-foreign-policy.com

Das Feiglingsspiel der EU


LONDON/BRÜSSEL/BERLIN - Begleitet von scharfer Kritik aus der deutschen Wirtschaft haben die Staats- und Regierungschefs der EU am gestrigen Mittwoch erneut keinen Fortschritt in den Brexit-Verhandlungen erzielt. Vorgeschlagen wurde lediglich, die Übergangszeit um ein Jahr zu verlängern; dies kommt für London nicht in Frage, da es mit Kosten in Höhe von mehreren Milliarden Pfund verbunden wäre. Die EU sei in den Brexit-Verhandlungen "zu stur", kritisiert der Chefvolkswirt der Commerzbank; sie reite "auf Prinzipien herum", obwohl sie selbst Regeln wie diejenigen der Währungsunion "bis zur Unkenntlichkeit gedehnt" habe. Grund sei, dass Brüssel ein abschreckendes Exempel statuieren wolle, heißt es in Kommentaren; die EU fühle sich "zu unattraktiv", um weitere Staaten mit anderen Mitteln von einem Austritt abzuhalten. Dabei geht Brüssel das Risiko eines Scheiterns der Brexit-Verhandlungen ein, das insbesondere der deutschen Industrie schweren Schaden zufügen würde. Experten schließen einen Einbruch der deutschen Exporte in mittlerer zweistelliger Milliardenhöhe nicht aus.

"Ein Desaster"

In den vergangenen Tagen und Wochen hatten deutsche Wirtschaftsvertreter den Druck auf die EU, zu einer einvernehmlichen Lösung mit Großbritannien zu gelangen, deutlich verstärkt. Hintergrund waren die bei einem Ausbleiben einer Einigung drohenden Milliardenverluste. "Ein harter Brexit wäre ein Desaster, das in Europa Zehntausende von Unternehmen und Hunderttausende von Arbeitnehmern ... in größte Schwierigkeiten brächte" - nicht nur in Großbritannien, sondern "auf beiden Seiten des Ärmelkanals", warnte zum Beispiel Joachim Lang, der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI): "Eine massive Krise wäre die Folge." Daher sei nun auch auf Seiten der EU "noch mehr Kompromissbereitschaft" gefragt. Zwar mache der "Chequers-Plan" der britischen Premierministerin Theresa May auch "der deutschen Wirtschaft Bauchschmerzen", hieß es beim BDI. Jetzt gelte es allerdings, "aus der verhandlungspolitischen Sackgasse herauszukommen": "Dafür sollte die Politik jetzt nicht auf all das schauen", bekräftigte Lang, "was nicht möglich ist", sondern vielmehr "dort weitermachen, wo sich Anknüpfungspunkte ergeben".[1] Am gestrigen Mittwoch hat der Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Holger Bingmann, dieser Forderung zum wiederholten Male Nachdruck verliehen. Ein ungeordneter Austritt Großbritanniens werde "schwerwiegende Folgen" haben - gleichermaßen "für Briten und Europäer", erklärte Bingmann; es sei deshalb nun die "zentrale Aufgabe der gesamten EU und ihrer Institutionen", "endlich eine Lösung herbei[zu]führen".[2]

Mehr als 40 Milliarden Euro

Konkret beziffert hat die Schäden, die insbesondere der deutschen Wirtschaft bei einem "harten" Brexit drohen, vor wenigen Tagen das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Nach einer neuen Analyse des IW sind deutsche Industrieregionen, in denen bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts direkt oder indirekt vom Handel mit Großbritannien abhängen, auf dem Kontinent am stärksten vom britischen EU-Austritt betroffen. Allein die Zölle, die entsprechend den WTO-Regeln nach einem "harten" Brexit zu zahlen seien, beliefen sich für deutsche Firmen - bei einem durchschnittlichen Zollsatz von 4,3 Prozent - auf rund 3,3 Milliarden Euro, heißt es in der Analyse. Besonders hart getroffen werde die Automobilbranche, deren Zollsätze über dem Durchschnitt lägen und die allein für zwei der 3,3 Milliarden Euro aufkommen müsse. Das stellt deutsche Autohersteller, insbesondere den BMW-Konzern, der überaus eng mit Großbritannien verflochten ist (german-foreign-policy.com berichtete [3]), vor ganz erhebliche Probleme. Hinzu kämen noch Kosten aus nichttarifären Handelshemmnissen, die sich für EU-Exporteure auf rund 25,8 Milliarden Euro belaufen könnten. All dies werde dazu führen, dass der Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich dramatisch einbreche. Für deutsche Exporteure geht das IW in einem Negativszenario von der Reduzierung der Ausfuhren nach Großbritannien auf nur noch 43 Prozent des aktuellen Volumens aus.[4] Dies wäre ein Verlust von mehr als 40 Milliarden Euro.

"Abstrafen, um abzuschrecken"

Mit Blick auf die drohenden Schäden haben deutsche Wirtschaftskreise zuletzt massive Kritik an der Verhandlungstaktik der EU geübt. So monierte beispielsweise Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, Brüssel sei "beim Brexit zu stur". Sie "reitet in den Verhandlungen mit Großbritannien auf Prinzipien herum", obwohl sie selbst etwa "die Regeln der Währungsunion bis zur Unkenntlichkeit gedehnt hat", schrieb Krämer in einem Kommentar; dabei habe sie durchaus "Spielraum, auf Großbritannien zuzugehen". So lehne sie "den Vorschlag einer weit gefassten Freihandelszone" mit Verweis auf "die anderen drei Freiheiten des Binnenmarktes ab", denen sich London entziehen wolle, obwohl sie "auch mit anderen Ländern - etwa Kanada -" vergleichbare Abkommen geschlossen habe. Nicht nachvollziehbar sei es, auf einer Zollgrenze zwischen Nordirland und dem britischen Festland zu beharren: "Kein Land der Welt würde eine Zollgrenze auf eigenem Territorium akzeptieren." Die EU wolle das austrittswillige Vereinigte Königreich "offenbar abstrafen, um Nachahmer abzuschrecken". Das sei hochriskant: "Die EU sollte sich in den Verhandlungen mit Großbritannien mehr bewegen - auch im Interesse ihrer Unternehmen, die bei einem harten Brexit ebenfalls viel zu verlieren hätten."[5]

"Ein Armutszeugnis"

Ähnlich hat sich zu Wochenbeginn eine führende deutsche Tageszeitung geäußert. Demnach sind die Brexit-Verhandlungen "von Anfang an keine echten Verhandlungen" gewesen: Die EU habe "ihre roten Linien definiert"; "die roten Linien der Briten" aber hätten sie "nie interessiert". "Die Briten haben sich bewegt, die EU nicht einen Zentimeter", bilanzierte das Blatt; Brüssel habe der britischen Seite, die unter anderem "eine saftige Austrittsrechnung ... geschluckt" habe, "den Zugang zu Teilen des Binnenmarkts" verweigert - als "Rosinenpickerei". Das sei "früher anders" gewesen, heißt es weiter; schließlich habe die EU beispielsweise der Schweiz in bilateralen Vereinbarungen noch "Rosinenpickerei im großen Stil" erlaubt. Die Ursache für die "irrationale" Härte der heutigen EU sieht der Autor in einem "Gefühl tiefer Verunsicherung". Brüssel habe "Angst", weitere Staaten könnten künftig dem Vereinigten Königreich folgen: "Die EU fühlt sich nach Euro-, Flüchtlingskrise und Brexit zu unattraktiv, um die Menschen begeistern zu können." Das sei "ein Armutszeugnis". Tatsächlich hätten Brüssels Unterhändler nicht darauf gesetzt, dass "die Position der EU ... überzeuge", sondern stattdessen darauf, "dass der Schaden eines ungeordneten Brexits für Großbritannien höher" sei "als für die EU": "Aus Brüsseler Sicht waren und sind die Verhandlungen ein 'Feiglingsspiel', in dem zwei Autos aufeinander zurasen, nur dass die Europäische Union in einem Mercedes-SUV und die Briten im Mini sitzen."[6] Allerdings bleibe "das Risiko einer Kollision" - und "der Schaden wäre auch für die EU enorm".

Kein Zugeständnis

Am gestrigen Mittwoch haben die Staats- und Regierungschefs der EU erneut Zugeständnisse an Großbritannien verweigert. Ein angebliches Zugeständnis - das Angebot, die Übergangszeit nach dem EU-Austritt um ein Jahr zu verlängern - ist keines: Wie zwar nicht deutsche, aber britische Medien berichten, wäre schon eine kurze zusätzliche Übergangszeit mit Zusatzkosten verbunden; der prinzipiell EU-freundliche Independent beziffert sie auf fünf Milliarden Pfund, die zu den 39 Milliarden Pfund hinzukämen, die das Vereinigte Königreich ohnehin für den Austritt bezahlen muss.[7] Ansonsten hat die EU auf ihren Positionen beharrt: Sie setzt ihr "Feiglingsspiel" bis zur allerletzten Sekunde fort.


Mehr zum Thema:
Kein neues London
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7750/


Anmerkungen:

[1] Pressemitteilung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Berlin, 09.10.2018.

[2] Wirtschaft reißt langsam der Geduldsfaden. n-tv.de 17.10.2018.

[3] S. dazu Die Brexit-Verlierer.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7524/

[4] Michael Hüther, Matthias Diermeier, Markos Jung, Andrew Bassilakis: If Nothing is Achieved: Who Pays for the Brexit? Intereconomics 5/2018, 274-280.

[5] Jörg Krämer: EU beim Brexit zu stur. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.10.2018.

[6] Hendrik Kafsack: Irrationale EU. Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.10.2018.

[7] Rob Merrick: Brexit: Theresa May rejected EU offer to break deadlock because it would add billions to divorce bill. independent.co.uk 17.10.2018.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang