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WIRTSCHAFT/133: Die Disziplinierungskraft der Finanzmärkte (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 11. Oktober 2018
german-foreign-policy.com

Die Disziplinierungskraft der Finanzmärkte


Die haushaltspolitischen Auseinandersetzungen zwischen Brüssel, Berlin und Rom drohen zu einer gravierenden politischen Krise des Euroraums zu führen. Gegenstand des Streits ist die Weigerung der EU, ein italienisches Haushaltsdefizit von 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für das kommende Jahr zuzulassen. Das Defizit soll die Erfüllung von Wahlversprechen der Koalition aus der rassistischen Lega und den populistischen Cinque Stelle (Fünf Sterne) ermöglichen. Brüssel werde den Haushaltsentwurf "zur Überarbeitung" nach Rom zurückschicken, sollte das Defizit nicht deutlich verringert werden, erklärt die EU-Kommission. Parallel zu direkten Eingriffen Brüssels in den italienischen Etat setzt Berlin vor allem auf den Zwang der Finanzmärkte: Weil Roms Streit mit der EU die Zinsen auf italienische Staatsanleihen in die Höhe treibt - befeuert von Äußerungen des EU-Kommissionspräsidenten -, droht die italienische Staatsschuldenkrise zu eskalieren. Beobachter warnen, dies könne außer Kontrolle geraten und den gesamten Euroraum schwer erschüttern.

Italiens Haushaltsdefizit

Der Streit zwischen Brüssel und Rom schwelt bereits seit geraumer Zeit. Am 9. Oktober warnte die EU-Kommission die italienische Regierungskoalition aus der rassistischen Lega und der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung nun ausdrücklich, in Brüssel sei man gewillt, zu einem bisher einmaligen Mittel zu greifen, sollte Rom im Haushaltsstreit nicht einlenken: Man werde dann Italiens nationalen Haushalt Ende Oktober ablehnen. Die Kommission habe in einem Schreiben bereits "ernsthafte Bedenken" gegenüber dem italienischen Finanz- und Wirtschaftsminister geäußert, hieß es, da Roms Haushaltsentwurf ein Defizit von 2,4 Prozent des BIP für das kommende Jahr vorsieht, was in etwa einer Verdreifachung der Planungen der Vorgängerregierung entspricht.[1] Die Staatsverschuldung Italiens liegt bereits bei 132 Prozent des BIP; dies ist der - nach Griechenland - zweithöchste Wert in der EU. Rom weigert sich überdies, die von Berlin und Brüssel geforderten Austeritätsmaßnahmen ("Strukturanpassungsprogramme") zwecks Schuldenabbau umzusetzen.

Zurück zur Überarbeitung

Nachdem der Fünf-Sterne-Vorsitzende und stellvertretende italienische Ministerpräsident Luigi Di Maio bekräftigt hatte, er werde in dieser Frage "nicht zurückweichen", hieß es in Brüssel, die Kommission werde dann definitiv eine ablehnende Stellung zu den Haushaltsplänen Roms abgeben, mit denen die italienische Regierung einen Teil ihrer Wahlversprechen zu realisieren versucht. Der derzeitige italienische Haushaltsplatz verletze "erheblich" den maßgeblich von Berlin im Gefolge der Eurokrise geformten Stabilitäts- und Wachstumspakt. Angesichts der "Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Vorschriften" werde die Kommission die hierfür vorgesehenen Verfahren strikt einhalten, hieß es aus EU-Kreisen. Letztlich läuft die Konfrontation auf die Einleitung eines Defizitverfahrens gegen Rom hinaus, das schon Ende Oktober initiiert werden könnte. Zudem würde der italienische Haushalt zur Überarbeitung nach Rom zurückgeschickt.[2]

Zinsen als Druckmittel

Womöglich erübrigt sich dies allerdings - denn der Druck, der Rom zum Einlenken nötigen soll, wird längst durch die Finanzmärkte ausgeübt, die auf die Eskalation der politischen Krise zwischen Rom und Brüssel reagieren. Die drohende Staatsschuldenkrise, die sich in einem raschen Anstieg der Zinslast italienischer Staatsschulden manifestiert, fungiert de facto als Druckmittel gegen Rom. Die aktuellen haushaltspolitischen Auseinandersetzungen haben bereits die Zinsdifferenz zwischen deutschen und italienischen Anleihen auf den höchsten Wert seit fünf Jahren getrieben.[3] Zehnjährige italienische Anleihen wurden am 8. Oktober mit 3,323 Prozent gehandelt; der Unterschied zu den entsprechenden deutschen Wertpapieren lag damit bei 310 Basispunkten. Die Zinsdifferenz zu spanischen Papieren betrug 203 Basispunkte - der größte Abstand in den vergangenen 20 Jahren. Zugleich gingen die italienischen Börsen auf Tauchstation: Sie verzeichneten ein Minus von 2,3 Prozent, bei Bankaktien sogar von rund 4 Prozent. Italiens Kreditkosten haben sich damit seit der Wahl im März 2018 praktisch verdoppelt.[4]

"Streng und gerecht"

Dies ist nicht ohne Zutun Brüssels geschehen. Die Eskalation der wirtschaftspolitischen Spannungen zwischen Italien auf der einen, Deutschland und der EU auf der anderen Seite wurde durch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker eingeleitet, der Roms Haushaltsentwurf öffentlich kritisierte und eine "strenge Gangart" gegenüber Italien ankündigte.[5] Man müsse verhindern, dass Italien "Sonderwege für sich in Anspruch" nehme, da dies "das Ende des Euro" bedeute, erklärte Juncker wörtlich Anfang Oktober. Deshalb müsse man "streng und gerecht mit Italien umgehen".[6] Damit machte der Kommissionschef klar, dass ein Abweichen von der Austeritätspolitik, die Berlin der Eurozone im Verlauf der Eurokrise oktroyiert hat, nicht hingenommen wird. Itaiens Vizepremier Matteo Salvini reagierte mit wütenden Angriffen auf Junckers Provokation: Rom werde die Drohungen von Juncker, der "unser Land nun mit Griechenland vergleicht", nicht schlucken. Juncker und der EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici hätten Italien und Europa "ruiniert".[7] Wenn er "zwischen dem Risikoaufschlag für italienische Staatsanleihen und dem italienischen Volk entscheiden" müsse, dann wähle er das Letztere, beteuerte der Chef der extrem rechten Lega in einem Fernsehinterview.

Stiller Zwang

Bereits Junckers Äußerungen hatten einen Anstieg der italienischen Zinslast ausgelöst; Salvinis Gegenangriffe verstärkten diese Dynamik nun noch weiter und befeuerten die Talfahrt der italienischen Börsen und Anleihekurse. Die einbrechenden Märkte, die "ihr Vertrauen in die Italien" verlören, könnten dessen "populistische Politiker nötigen, den Kurs zu ändern", urteilten Beobachter am 9. Oktober.[8] Die durch Brüssel beförderten Turbulenzen an den Anleihe- und Aktienmärkten Italiens fungieren demzufolge als Disziplinierungsinstrument. Auf diesen Begriff hat die regierungsnahe Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kürzlich tatsächlich den Ansatz gebracht, den Berlin gegenüber Rom verfolgt. Deutschland setze darauf, direkte "Kritik an der italienischen Regierung zu unterlassen" und stattdessen die "Disziplinierungskraft der Finanzmärkte" wirken zu lassen, hieß es in einer im September 2018 publizierten Einschätzung.[9] Das sei im Prinzip "die einzige Möglichkeit, einen offenen Konflikt mit Rom und das Risiko einer Destabilisierung des Euroraums zu vermeiden". Die Strategie, eine Finanzkrise zu eskalieren, um andere Eurostaaten zu Zugeständnissen zu nötigen, hat Berlin bereits beim Ausbruch der Eurokrise eingesetzt, als die damaligen Krisenländer durch ein unerträglich hohes Zinsniveau gezwungen wurden, dem deutschen Austeritätskurs zu folgen.

Vor dem nächsten Krisenschub

Gegenüber Roms rassistisch-populistischer Regierungskoalition scheint diese Taktik abermals aufzugehen.[10] Am 9. Oktober ließ der italienische Wirtschaftsminister Giovanni Tria verlauten, Italien werde "alles Notwendige" unternehmen, um die aufgebrachten Märkte zu "beruhigen". Zudem forderte der als gemäßigt eingestufte Politiker einen leiseren, "konstruktiven Dialog" zwischen Rom und Brüssel im Streit über die italienische Haushaltspolitik. Ob dieser Kurswechsel ausreicht, um eine mittelfristige Destabilisierung des fragilen europäischen Währungsraums abzuwenden, bleibt indes fraglich. Die Turbulenzen auf den italienischen Finanzmärkten haben bereits griechische Bankaktien mitgerissen, sodass ein unkontrollierbarer Ausbruch eines neuen Krisenschubs auf den Finanzmärkten im Gefolge der riskanten Berliner und Brüsseler Provokationen durchaus möglich scheint. Die mühsam durch extreme Liquiditätsspritzen der EZB stabilisierten Finanzmärkte einer durch die jahrelange Austeritätspolitik zerrütteten Eurozone drohen eine Krisendynamik zu entwickeln, die der Eurozone tatsächlich ein Ende bereiten könnte. Bereits im Juli ist die industrielle Produktion im Euroraum, der durch die Berliner Kürzungspolitik auf eine einseitige Exportausrichtung geeicht wurde, aufgrund der zunehmenden protektionistischen Tendenzen in den USA und wegen der deutsch-italienischen Spannungen überraschend deutlich zurückgegangen; Eurostat meldete einen Rückgang der Produktion um 0,8 Prozent gegenüber dem Vormonat und um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Zuvor war ein leichterer Rückgang von 0,5 Prozent gegenüber dem Vormonat sowie ein Anstieg um 1,0 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum erwartet worden.[11] Eine Finanz- oder Wirtschaftskrise wiederum könnte den nationalistischen Zentrifugalkräften im Euroraum endgültig zum Durchbruch verhelfen.


Anmerkungen:

[1] Jorge Valero: Italien und EU-Kommission weiter auf Kollisionskurs. euractiv.de 09.10.2018.

[2] Juncker will notfalls neues Budget fordern. n-tv.de 07.10.2018.

[3] Salvini broadside pushes Italy/Germany spread to widest in five years, euro falls. reuters.com 08.10.2018.

[4] Italien attackiert Junckers EU-Kommission: Ihr ruiniert uns - und Europa. focus.de 09.10.2018.

[5], [6] Müssen mit Italien "streng und gerecht" sein. spiegel.de 02.10.2018.

[7] Salvini attackiert Juncker und Moscovici scharf. spiegel.de 05.10.2018.

[8] Willem Marx: Italy's stock market sell-off could force its populist politicians to change course. cnbc.com 09.10.2018.

[9] Pawel Tokarski: Italien als Belastungsprobe für den Euroraum. SWP-Aktuell 52. September 2018.

[10] Giuseppe Fonte: Italy's Tria calls for 'constructive dialogue' with EU over budget. reuters.com 09.10.2018.

[11] Francesco Guarascio: Euro Zone Industry Output in Surprise Fall Due to Germany, Italy. money.usnews.com 12.09.2018.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2018

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