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WIRTSCHAFT/123: Neoliberales Durchwursteln oder Rückkehr zu nationalen Ökonomien (Sozialismus)


Sozialismus Heft 6/2013

EU: Neoliberales Durchwursteln oder
Rückkehr zu nationalen Ökonomien?

von Joachim Bischoff und Björn Radke



In ihrem Wahlprogramm-Entwurf »100 Prozent sozial« bekennt sich DIE LINKE zur EU und zum Euro: »Auch wenn die Europäische Währungsunion große Konstruktionsfehler enthält, tritt DIE LINKE nicht für ein Ende des Euro ein. Ganz im Gegenteil, die Währungsunion muss vom Kopf auf die Füße gestellt und neu ausgerichtet werden, damit sie nicht die Spaltungen vertieft, sondern die Ungleichheiten überbrücken hilft und eine friedliche und fruchtbare Zusammenarbeit in Europa befördert.«

Der Hinweis auf Konstruktionsfehler erfasst allerdings nicht den harten Kern der aktuellen Krise: Die europäische Integration war von Beginn an ein politisches Projekt, neu erwachsen aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs. Aber eines, das - von der Montanunion bis zur Währungsunion - vom Primat der wirtschaftlichen Integration bestimmt war. Und: Die EU ist seit langem vor allem ein Projekt der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Deren Ziel ist eine umfassende Modernisierung Europas. Gegenüber den USA und dem asiatischen Raum sollte die EWU zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer globalen Führungsregion aufrücken. Angesagt waren hohe Wettbewerbsfähigkeit, expansives Wirtschaftswachstum und dauerhafte Exporterfolge, um ein hohes Beschäftigungsniveau zu sichern. Die neoliberale Sozial- und Verteilungspolitik diente vor allem dem Ziel, die Einkommens- und Vermögenszuwächse der europäischen Oberschichten zu verstetigen. Das erforderte einen wettbewerbspolitischen Umbau des Europäischen Sozialmodells, eine Öffnung der sozialen Sicherungssysteme für die Finanzmärkte und die weitere Privatisierung öffentlicher Unternehmen vor allem in Bereichen kommunaler Infrastruktur.

Das Ergebnis war in mehreren Etappen ein grandioses Scheitern: Abschwächung des Wirtschaftswachstums, Verschärfung der sozialen Ungleichheit, Herausbildung von Vermögensblasen und eine massive Expansion der Finanzsektoren mit der Folge höherer Instabilität der wirtschaftlichen und politischen Systeme. Deshalb wächst von Süd bis Nord die Euro-Skepsis. Auf Seiten der antidemokratischen Rechten wird die Rückkehr zum Nationalstaat propagiert, auf Seiten der Linken gegen die sozialen Folgen einer radikalen Austeritätspolitik mobilisiert. Das Koordinatenkreuz verschiebt sich in vielen Mitgliedsländern deutlich nach rechts.

In allen europäischen Mitgliedstaaten vollziehen sich unter dem Druck der anhaltenden Krise und des wachsenden Verdrusses großer Teile der Bevölkerung gegen das europäische Elitenprojekt erhebliche Veränderungen innerhalb des politischen Systems und der Mehrheitsverhältnisse: Die ökonomische Krisenkaskade wird immer häufiger durch politische Krisen überlagert. Der zersetzenden Austeritätspolitik fehlt immer offenkundiger eine minimale politisch-soziale Erdung, in der Folge wird Zuflucht gesucht bei »Expertenkabinetten«, die vermeintliche Sachzwänge scheinbar unabhängig von sozialen Interessengegensätzen und interessengesteuerten Machtstrukturen exekutieren sollen.

Die in Deutschland in der Großen Depression der 1930er Jahre praktizierte Politik der Notverordnungen, mit denen das parlamentarische System der Weimarer Republik ausgehebelt wurde, prägt heute das politische Alltagsgeschäft Europas. Unter dem neuen europäischen Fiskalregime müssen Mitgliedstaaten ihre Haushaltsentwürfe - noch vor den Beratungen in den nationalen Parlamenten - der EU-Kommission und dem Ministerrat zur Billigung vorlegen und unterliegen der permanenten Überwachung. Dabei konnte sich Deutschland als wettbewerbsstärkste Wirtschaftsmacht die Führungsposition in der EU erobern.

Lässt sich die schwere Krise nicht überwinden, werden sowohl das politische Projekt der europäischen Integration als auch die europäische und die Weltwirtschaft schweren Schaden nehmen, ganz abgesehen vom Ausmaß der sozialen Zerstörungen, die die Krise schon bisher in den Ländern der europäischen Peripherie angerichtet hat.

Die Eliten diskutieren Auswege aus der Krise

In der europäischen Hegemonialmacht Deutschland wird über Auswege gestritten: Auf der einen Seite steht die Forderung einer Vertiefung der Integration unter Führung der Hegemonialmacht oder mindestens ein »Relaunching Europe«.[1] Der Chef des IfO-Instituts, Hans-Werner Sinn, der längere Zeit den Sturmlauf gegen eine weitere Verstrickung in den europäischen Schuldenprozess angeführt hatte, geht auf Distanz zu rechtskonservativen Austrittsprojekten wie der »Alternative für Deutschland« (AfD) und plädiert für ein weiteres »Durchwursteln«. Sinn geht davon aus, dass auf Jahre hinaus nicht mit einem Neustart Europas gerechnet werden kann. »Es gibt nur drei Möglichkeiten, das Problem zu lösen, das der Euro-Krise zugrunde liegt«, sagt der streitbare Ökonom. Entweder, die Krisenländer müssten durch fortgesetzte Einschnitte bei Staatsausgaben und Löhnen ihre Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen, oder Deutschland müsse zehn Jahre lang Inflationsraten von 5% haben, um den anderen Ländern ein Aufholen zu ermöglichen, oder manche Länder müssten die Währungsunion verlassen.[2] Überhaupt spricht sich eine deutliche Mehrheit der internationalen Finanzmagnaten - von Goldman Sachs bis Deutsche Bank - für die Fortführung des »Euro-Experimentes« aus.

Demgegenüber ist für den langjährigen Vordenker neoliberaler Politik, Wolfgang Streeck, die Zeit des Durchwurstelns und des Zeit-Kaufens vorbei. Es droht die Zerstörung des europäischen Zivilisationsprojektes: »Der Widerstand der von ihren Nationalstaaten vertretenen Völker gegen die Unterwerfung ihres Lebens unter die internationalen Marktgesetze wird von der ecclesia militans der Marktreligion als Unregierbarkeitsproblem wahrgenommen, das durch weitere Reformen derselben Art, durch mehr davon, behoben werden muss und kann: durch neue Institutionen, die auch noch die letzten Reste an nationaler Artikulationsfähigkeit und politischer Willkürmöglichkeit aus dem System herausquetschen und sie durch rationale Anreize, einschließlich negativer in Gestalt von Geldstrafen, zu stillschweigender Fügung in das vom Markt verhängte Schicksal ersetzen sollen. Auf diese Weise würde die auf Jahrzehnte verhängte Austerität der kleinen Leute in den vom Markt als nicht wettbewerbsfähig zurückgelassenen Ländern doch noch Wirklichkeit, und das frivole Experiment einer Einheitswährung für eine heterogene multinationale Gesellschaft wäre gelungen. Am Ende, nach den Reformen, würden die Nationen sich ihre politische Enteignung nachträglich gefallen lassen, entweder weil ihnen nichts anderes übrig bliebe oder weil sie im Zuge marktgetriebener neoliberaler Konvergenz irgendwann zur Marktvernunft gekommen sein und, nachdem sie genug gefühlt hätten, anfangen würden zu hören.«[3]

Die Befürchtungen über die zerstörerischen Wirkungen der vor allem auch von der Bundesregierung forcierten Austeritätspolitik werden von vielen engagierten Europaanhängern geteilt. Dies gilt allerdings nicht für die Schlussfolgerung, auch die politische Linke müsse eine Kurskorrektur vornehmen und sich für einen Ausstieg aus der Gemeinschaftswährung einsetzen.

Dabei geht es nicht nur um eine Alternative zur gescheiterten Austeritätspolitik, sondern letztlich auch darum, den Zerstörungsprozess der europäischen Demokratie zu beenden. Die Zerstörung der politischen Systeme in Europa, vor allem die Auffächerung der Parteien und die Tendenz zur Machtübertragung an vermeintlich neutrale Technokratenregierungen, kann nicht bestritten werden. Diese bündelt sich darin, dass gesellschaftspolitisch angeleitete Gestaltung mehr und mehr in bloß technokratische Verwaltung des Gegebenen umschlägt, im mutwilligen Verzicht auf jede Erklärung der eigenen Handlungsweise und der Darstellung dieser Handlungsweise als »alternativlos«. Die früheren »Volksparteien« verlieren nicht mehr nur an ihren Rändern nach rechts und links - ihre Fundamente erodieren.

Ausgerechnet der Euro, der Europa zu neuer Gemeinsamkeit führen sollte, bringt seine Völker gegeneinander auf. Gerade jene Länder, die hofften, mit dem Ende der D-Mark würde die ökonomische Vormachtstellung der Deutschen schwinden, klagen jetzt über eine neue deutsche Dominanz. Plötzlich steht auch die jahrhundertealte »deutsche Frage« wieder auf der europäischen Tagesordnung - in neuer Form zwar, aber mit dem alten Thema: Wie gehen die Deutschen mit ihrer Macht um? Zu Recht fasst die FAZ zusammen: »Gegenläufig zu der Stimmung in anderen Ländern ist das Meinungsklima in Deutschland: Nach großem Missmut zu Beginn der Krise, als die ersten Rettungspakete geschnürt wurden, sind die Deutschen weniger erregt. Sie wollen nicht 'mehr Europa', sind aber mit EU und Währungsunion alles in allem ganz zufrieden... - jedenfalls die beachtliche Mehrheit der Bürger, die auch am Stil der Kanzlerin wenig auszusetzen hat... Die europäische Politik ist insgesamt von einer großen Unruhe erfasst. In vielen Ländern ist das Tal der Tränen noch nicht durchschritten. Es wird unruhig bleiben, solange die Lasten der Anpassung nicht bewältigt sind. Das ist der Preis, der bezahlt werden muss, um den Bestand der Währungsunion zu sichern - und um in dieser ultrakompetitiven Welt des frühen 21. Jahrhunderts nicht unterzugehen.« (21.5.2013)

Auch die Linke debattiert

Die Linke in der Bundesrepublik fordert im Gleichklang mit entsprechenden politischen Gruppierungen der europäischen Krisenländer und Nachbarstaaten einen Politikwechsel als Alternative zu den Rosskuren einer »inneren Abwertung«, die seit 2010 den südeuropäischen Krisenländern aufgezwungen worden sind. Denn faktisch haben die Absenkung der Lohnkosten und die Deregulierung der Arbeitsmärkte keinen Ausbruch aus der Abwärtsspirale gebracht. Selbst der IWF hat eingeräumt, den negativen Einfluss der Sparmaßnahmen auf die Wachstumsraten der Europäischen Union deutlich unterschätzt zu haben. Weder eine Abwertung der Wechselkurse von mehreren Ländern (äußere Abwertung) noch eine interne Abwertung durch Absenkung der Lohneinkommen sind praktikable oder erfolgreiche Schritte zur Überwindung von Stagnationstendenzen oder gar einer anhaltenden Schrumpfung des Wirtschaftsprodukts.

Wenige Wochen vor dem Parteitag, auf dem das Wahlprogramm beschlossen werden soll, eröffnet der Spitzenpolitiker der Linkspartei, Oskar Lafontaine, gestützt auf eine Ausarbeitung von Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas sowie letzten Analysen von Fritz Scharpf und Wolfgang Streeck,[4] eine Debatte über den europapolitischen Kurs. Fernab der Parteigremien wirbt Lafontaine für einen Kurswechsel: »Ich selbst habe als überzeugter Europäer den Euro lange Jahre befürwortet. Denn ich ging davon aus, dass es gelingen würde, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer zu koordinieren, vor allem die Lohnpolitik. Das ist leider nicht eingetreten. In Südeuropa sind die Löhne und Ausgaben zu stark gewachsen, während in Deutschland ein massives Lohndumping betrieben wurde. Jetzt sollten wir zum früheren europäischen Währungssystem zurückkehren, das Auf- und Abwertungen nach gegenseitigen Absprachen ermöglicht. Neben dem Euro müssen dazu wieder nationale Währungen eingeführt werden.«[5]

Lafontaine argumentiert: »Die einheitliche Währung hätte von Bestand sein können, wenn die beteiligten Staaten eine aufeinander abgestimmte produktivitätsorientierte Lohnpolitik verfolgt hätten.« Die letzten Jahre hätten aber gezeigt, dass eine solche Politik keine Realisierungschance habe. »Wenn reale Auf- und Abwertungen auf diesem Wege nicht möglich sind, dann muss man die einheitliche Währung aufgeben und zu einem System zurückkehren, das, wie beim Vorläufer der Währungsunion, dem Europäischen Währungssystem, Auf- und Abwertungen erlaubt. Im Kern geht es darum, kontrollierte Abwertung und kontrollierte Aufwertung über ein von der EU getragenes Wechselkursregime wieder möglich zu machen. Dazu sind im ersten Schritt strikte Kapitalverkehrskontrollen unumgänglich, um die Kapitalströme zu regulieren.«[6] Das jetzige Eurosystem führe zur Zerstörung des Sozialstaates: »Das Eurosystem ist falsch konstruiert und kann nicht funktionieren ... Das zur Erneuerung des europäischen Einigungsprozesses vorgeschlagene europäische Währungssystem muss die politischen und ökonomischen Fehler seiner Vorläufer vermeiden.«[7]

Diese Vorschläge - dem europäischen Elitenprojekt sowohl eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik anzuempfehlen, als auch eine Rückkehr zu einem europäischen Währungssystem mit Auf- und Abwertungen - gehen an der Machtstruktur dieses Elitenprojektes vollständig vorbei. Zu den Kernüberzeugungen einer kritischen Ökonomie gehört bislang: Nur auf kurze Sicht hängt die Wettbewerbsfähigkeit nationaler Ökonomien von der Relation der monetären Größen ab; auf mittlere Sicht entscheiden die komparativen Vorteile des Wirtschaftspotenzials über Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft.

Es ist ein Zeichen politischer Naivität, wenn nach langen Jahren der Fehlentwicklung eine Selbstkorrektur der neoliberalen Konzeption gefordert wird: »Da die Wahrscheinlichkeit für das Zustandekommen einer solchen fundamentalen Wende nicht sehr hoch anzusetzen ist, müssen auch andere Optionen ins Auge gefasst werden.« Flassbeck u.a. empfehlen stattdessen, offen über die Möglichkeit eines »geregelten Ausstiegs einzelner Länder aus der Währungsunion nachzudenken«. Lafontaine plädiert im »Handelsblatt« für ein kleineres Übel: »ein einigermaßen geregelter Übergang zu einem anderen europäischen Geldsystem ist besser als der unausweichliche Bruch.«

Der Parteivorsitzende der LINKEN, Bernd Riexinger, hat sich gegen diese Position ausgesprochen: »Aus vielen Gründen glaube ich nicht, dass die Forderung nach einem Währungsverbund mit politisch regulierter Auf- und Abwertung ... eine Perspektive bietet. Sie wäre allerdings für den Fall eines Zerbrechens des Euro-Systems oder eines Austritts einzelner Länder die bessere Alternative gegenüber einem völlig unkontrollierten Prozess.« Zur Klarstellung: »Wir schlagen als Linke keinen Austritt aus dem Euro vor.«[8] Für Mario Candeias ist dies mit einer Erneuerung Europas verbunden: »Also nicht weiter mit diesem Herrschaftsprojekt europäischer Integration - aber für eine Neugründung Europas!«[9]

Die Vielschichtigkeit der Stimmen, wie sie in einem Dossier der Tageszeitung »neues deutschland«[10] dokumentiert wird, zeigt die Überfälligkeit dieser Debatte, zumal weder das Wahlprogramm und schon gar nicht das Flassbeck-Papier die Entwicklungsdynamik des europäischen Krisenprozesses ausreichend skizziert.

Die Vorschläge aus der Linkspartei werden bei der politischen und wirtschaftlichen Elite der Hegemonialmacht Deutschland kaum auf die Bereitschaft zur praktischen Umsetzung stoßen. Aus unserer Sicht ist es deshalb wichtiger, zu einer realistischen Einschätzung und Entwicklung von Krisenszenarien zu kommen. Die politische Linke könnte so weitere Anstöße und Orientierungen liefern. Dabei sollte sie sich der wirtschaftsdemokratischen Gestaltung einer europäischen Arbeitsteilung verpflichtet sehen und strukturpolitische Veränderungen diskutieren, die von Investitions- und Qualifikationsprogrammen begleitet werden. Veränderungen von Währungsrelationen sind dabei nur ein ungeordnetes Moment.[11] Mit der Rückkehr zur vielfältigen europäischen Währungslandschaft sind die globalen Probleme von chronischer Wachstumsschwäche, sozialer Ungleichheit und Hyperkonkurrenz um Marktanteile nicht einzuhegen, geschweige denn der Verfall demokratischer Beteiligung.

Alternative zur neoliberalen Ökonomie

Der neoliberale Politikansatz zur Dynamisierung der Kapitalakkumulation und der Reduktion der Massenarbeitslosigkeit ist gescheitert - dies ist die Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Diese praktisch wie theoretisch belegte Erfolglosigkeit der »neoliberalen Wirtschaftskonzeption« hat die Eliten nicht daran gehindert, eine beständige Radikalisierung dieser Therapie zu propagieren. Als Akkumulationsbremse wird nicht die chronische Überakkumulation von Kapital ausgemacht und eine massive Verzerrung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen, sondern die vermeintlich überzogenen Ansprüche der Lohnabhängigen.

Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, Sahra Wagenknecht, konstatiert, dass »immer mehr Menschen in den Krisenländern sich die Frage stellen werden, wie lange sie sich solchen Diktaten noch aussetzen wollen«.[12] Mittlerweile begegnen 72% der Spanier der EU mit Misstrauen. Vor fünf Jahren waren es 23%. Ein Euro unter diesen Rahmenbedingungen sei antieuropäisch, denn er zerstöre jeden Rückhalt für das europäische Projekt. Es sei daher nicht verwunderlich, dass ein kontrollierter Euro-Ausstieg als quasi Notwehrmaßnahme seit längerem in fortschrittlichen Wissenschaftskreisen diskutiert werde. DIE LINKE müsse sich diese Sichtweise nicht zu eigen machen, aber es stehe ihr nicht gut zu Gesicht, die Sorge um die soziale Katastrophe in Südeuropa als »nationalistisch« und »antieuropäisch« zu denunzieren. Bei nüchterner Betrachtung könnte sich herausstellen, dass der Slogan »Ja zum Euro um jeden Preis« weiter rechts im politischen Koordinatensystem zu verorten ist als der Slogan »Euro - so nicht«. Über ein bedingungsloses Bekenntnis zum Euro freuten sich vor allem diejenigen, die von der Währungsunion bisher am meisten profitiert haben - die Eigentümer der Banken und Exportkonzerne.

Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht, Heiner Flassbeck u.a. plädieren im Verbund mit vielen skeptisch gewordenen Europäern dafür, die grundlegende Fehlentwicklung in Europa nicht nur einfach zur Kenntnis zu nehmen. Sie sehen ähnlich wie Wolfgang Streeck keinen Sinn mehr, sich für eine demokratische Vertiefung der europäischen Institutionen einzusetzen. Deshalb gehe es jetzt um Rückbau statt Aufbau einer demokratisch gestalteten Euro-Zone. Die Rückkehr in die nationalstaatliche Wagenburg sei unvermeidlich, um »die Reste jener politischen Institutionen so gut wie möglich zu verteidigen und instand zu setzen, mit deren Hilfe es vielleicht gelingen könnte, Marktgerechtigkeit durch soziale Gerechtigkeit zu modifizieren und zu ersetzen«.[13]

Richtig ist: Die praktizierte Anti-Krisenpolitik in Europa wird immer mehr transformiert in den Ausbau technokratischer, von der demokratischen Willensbildung abgehobener Regierungen, die letztlich nur auf Zeitgewinn setzen. Weil der Druck einer europaweit agierenden Zivilgesellschaft nicht erzeugt werden kann, fordern Lafontaine u.a. den Rückzug hinter die »Maginot-Linie« der nationalstaatlichen Souveränität.

Aber das Lob der Abwertungspolitik überzeugt uns nicht. Veränderungen der Währungsrelationen sind ein begrenztes Instrument zur Reparatur des bürgerlichen Kosmos. Denn es geht um eine neue Qualität der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den Ländern der Euro-Zone und Europa insgesamt. Das Versprechen der Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse im Euro-Regime war von Beginn an irreal. Deutschland hatte mit der Einheitswährung einen entscheidenden Konkurrenzvorteil erhalten: Wettbewerbsvorsprünge wurden nicht mehr durch eine Aufwertung der nationalen Währung konterkariert. Die Politik der deutschen Bundesregierungen, die nationale Akkumulation dadurch zu befeuern, dass man sich der kollektiven Nachfrage im europäischen Binnenmarkt bemächtigt, konnte in der Währungsunion richtig zum Zuge kommen. Da die Nachbarn nicht mehr die Möglichkeit der Abwertung ihrer nationalen Währung hatten, wuchs der Druck, intern durch rabiate Senkung der Lohnkosten abzuwerten. Wo dies nicht geschah, stieg die Verschuldung. Ein knappes Jahrzehnt »funktionierte« dieses »Gläubiger-Schuldner«-System. Im Zusammenhang mit der Großen Wirtschaftskrise geriet dann die Expansion durch wachsende Verschuldung an ihr Ende.

Linke Strukturreformen

Die Sorgen um ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, in denen viele Mitgliedsländer womöglich zunehmend eine Nebenrolle spielen, werden lauter. So steht das europäische Projekt heute vor der Alternative des sich Durchwurstelns mit der vagen, unbegründeten Hoffnung einer Rückkehr zur Prosperität oder der Auflösung der Wirtschafts- und Währungsunion. Trotz dem in öffentlichen Äußerungen immer wieder bestätigten Widerstand der deutschen Regierung gegen verstärkte, unlimitierte Eingriffe der Notenbank sehen immer mehr Beobachter den Ausweg nur noch in einer Stärkung der deutschen Führungsrolle und einer Monetarisierung der Staatsschulden. Europas Staaten haben zu viele Schulden, von denen zu viele in den Büchern der im Prinzip insolventen Banken lagern; außerdem bestünden enorme Handelsungleichgewichte zwischen peripheren und zentralen Euro-Ländern. Alle drei Probleme müssen gelöst werden, andernfalls implodiert die Euro-Zone in einer deflationären Spirale.

Austerität ist keine Lösung, da es für ein Land unmöglich ist, gleichzeitig die Defizite von Regierung und Privatsektor auszugleichen, während ein Handelsbilanzdefizit besteht. Wir sollten stattdessen die erneute relative Verselbständigung der Finanzmärkte von dem realwirtschaftlichen Wertschöpfungsprozess zum Ausgangspunkt nehmen, um über eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse eine strukturelle Veränderung des gesellschaftlichen Gesamtreproduktionsprozesses einzuleiten. In den USA und vielen anderen Ländern liegt der Anteil der Unternehmenseinkommen am Volkseinkommen auf dem höchsten Wert seit Jahrzehnten. Das Einkommen der wirtschaftlichen Eliten und sozialen Oberschichten hat sich von der Entwicklung hinsichtlich Gesamtproduktion und Beschäftigungswachstum deutlich entfernt. Während die Nachfrage nach Luxusgütern boomt, sinkt die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen für Gruppen mit niedrigeren Einkommen. Mit Ausnahme der unmittelbar von der Krise betroffenen Länder passiert das alles inmitten einer Zeit extremer geldpolitischer Lockerung und Fast-Nullzinsen. Die strukturelle Konzentration der Einkommen an der Spitze geht mit billigem Geld und der Jagd nach Renditen einher und treibt damit die Aktienkurse in die Höhe.

Der sich schleichend entwickelnde Abwertungswettlauf bringt für die europäischen Krisenländer keine Wiederherstellung einer befriedigenden wirtschaftlichen Leistung mit einem zukunftsorientierten sozialen Ausgleich. Mit einer Rückkehr zu einem nationalstaatlich geprägten Währungssystem verschwinden die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede nicht. Die Alternative zum vorherrschenden Modell einer vor allem auf Sparpolitik ausgerichteten »Austeritätsunion«, wie sie über den verschärften Europäischen Stabilitätspakt, den Europäischen Fiskalvertrag und über die konkreten Vorbedingungen für die so genannten Rettungspakete derzeit vor allem den Euro-Krisenländer aufgezwungen wird, ist nicht der Rückzug auf eine Vielheit nationalstaatlicher Akteure, sondern die Etablierung einer europäischen Ausgleichsunion. Ausgleich bedeutet dabei das gemeinsame Hinwirken auf einen Ausgleich von beiden Seiten, d.h. von Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen und solchen mit Defiziten, bei dem die Länder mit der ökonomisch stabileren Position einen wesentlichen Beitrag leisten müssen. Begleitet werden muss eine so angelegte Strukturpolitik durch Investitionssteuerung und die Ausgestaltung von Qualifikationspotenzialen.

Die wichtigste Lektion aus der aktuellen Krise muss daher ein reformiertes Leitbild der EWU sein, in dem außenwirtschaftliche Gleichgewichte zwischen den Mitgliedern der EWU als Ziel verankert werden und der entsprechende Anpassungsdruck zum Ausgleich auf Defizit- und Überschussländer gerichtet wird. Ausgangspunkt einer Ausgleichsunion ist daher die Einführung verbindlicher Obergrenzen für Leistungsbilanzungleichgewichte. Sicherlich bedarf es großer Anstrengungen, diesen Weg zu gehen. Eine Renationalisierung in Europa birgt allerdings ungleich größere Gefahren, kippt »das Kind mit dem Bade aus« und beschleunigt womöglich einen Dammbruch, an dem sich DIE LINKE nicht beteiligen sollte.

Das von den ökonomischen und politischen Eliten im Zusammenhang mit ihren Lösungsvorschlägen verwendete Zauberwort heißt »Strukturreformen«. Bezeichnet werden damit grundlegende Veränderungen in den Lohnsystemen in Europa. Es ist jedoch absurd, Strukturanpassungen der nationalen Ökonomien in der Euro-Zone einseitig durch eine in ökonomische Depression führende Lohnsenkungs- und Austeritätspolitik erzwingen zu wollen. Europa braucht wirtschaftliches Wachstum und zugleich einen Strukturwandel in den Akkumulationsregimen. Die Führungsrolle Deutschlands, die bislang in der massiven Durchsetzung von Austeritätsregimen besteht, muss überwunden werden, indem sich die Hegemonialmacht von einer auf Leistungsbilanzüberschüsse ausgerichteten Wirtschaftspolitik verabschiedet und eine eher ausgeglichene Handelsbilanz anstrebt. Dass diese zivilisatorische Entwicklungslinie bei den wirtschaftlichen und politischen Eliten auf wenig Rückhalt stößt, darf nicht dazu führen, über diesen alternativen Entwicklungsweg nicht weiter nachzudenken.

Wenn ein »Konstruktionsfehler des Euro-Projekts« ausgemacht werden kann, dann bestand und besteht er darin, dass aus politischen Gründen ungleichen nationalen Ökonomien eine gemeinsame Währung übergestülpt worden ist. Als Konsequenz der speziellen Struktur der Währungsunion - ein Zusammenschluss souveräner Staaten mit nationalen Notenbanken, kombiniert mit einem Euro-weiten Interbanken-Zahlungssystem (Target 2) - werden Wettbewerbsungleichgewichte erzeugt und Euro-Länder mit Leistungsbilanz- und Haushaltdefiziten automatisch von den Euro-Ländern finanziert, die dank höherer Wettbewerbsfähigkeit Leistungsbilanzüberschüsse erzielen. Solange die Ungleichgewichte anhalten, wachsen die Forderungen der Überschuss- an die Defizitländer.

Neue Institutionen - wie die EFSF und der ESM - wurden außerhalb der Union gegründet. Diese wie auch die Euro-Gruppe werden von den kerneuropäischen Ländern und vor allem von Deutschland dominiert: Deutschland ist heute so stark, wie das noch nie in der Geschichte der europäischen Einigung der Fall war. Spiegelbild ist die relative Schwäche Frankreichs und Großbritanniens.

Da die Verallgemeinerung einer Austeritätspolitik kein tragfähiger und sozial akzeptabler Ausweg ist, die Hegemonialmacht Deutschland sich aber immer tiefer in die politische Sackgasse verrennt, werden wir in den nächsten Monaten eine anhaltende Verschärfung der politischen Widersprüche erleben. Die Inkubation von autoritären, personalen Herrschaftsformen wird weiter voranschreiten. So genannte technokratische Regierungen sind bloße Durchgangsformen. Gestoppt werden kann diese Entwicklung nur dadurch, dass die Bevölkerungsmehrheiten sich der Aussicht auf derlei Entwicklungen verweigern und in der Absetzung von den Finanzmärkten einen tiefgreifenden Reformprozess der nationalen Wirtschaften auf den Weg bringen.

Eine schnelle, einfache und ordnungspolitisch saubere Lösung wird es nicht geben. Mit dem Ausschluss von Mitgliedstaaten oder Träumen von einem Nord-Euro ist nichts gewonnen. Die BürgerInnen der betroffenen Länder würden versuchen, ihr Geld in Sicherheit zu bringen, um zu verhindern, dass ihre Ersparnisse in die neue Währung umgetauscht werden, die dann an den Devisenmärkten abwertet wird. Kollabiert der Euro, kommt es zu Bankenkrisen und Staatsbankrotten. Ein Ende des Euros wird das angeschlagene Banken- und Finanzsystem nicht überleben. Der Austritt oder Ausschluss einiger Mitgliederländer aus dem Währungsverbund würde zudem in eine schwere Erschütterung des europäischen und internationalen Finanzregimes umschlagen.

Mit dem Euro wankt die gesamte europäische Statik. Die Fehlkonstruktionen beseitigt man nicht, indem man den Euro wieder abschafft. Dennoch: Die Welle der Euro-Feinde könnte demnächst in vielen Ländern die politischen Kräfteverhältnisse umpflügen - nach rechts außen. Mit dem neuen europäischen Fiskalregime wollen die Regierungen der Euro-Zone dagegenhalten. Diese neue gemeinschaftliche Fiskal- und Wirtschaftspolitik ist weder sozial noch demokratisch. Sie verstärkt Tendenzen in Richtung eines autoritären Kapitalismus.

Es kann nur einen gemeinsamen Ausweg geben: mit gemeinsamer Wachstumspolitik aus den massiven Spaltungen und Konflikten herausfinden. Der Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse und die Ausweitung der Binnenökonomie in den Kernländern sind unverzichtbare Beiträge zur Stabilisierung der EU. Notwendig ist eine Reform, die statt auf einer Säule - der Geld- und Währungspolitik - auf drei weiteren Säulen aufbaut: einer gemeinsamen Fiskalpolitik, die von oben nach unten umverteilt, einer Wirtschaftspolitik, die mit öffentlichen Investitionsprogrammen Europa sozial und ökologisch erneuert, und einer Sozialpolitik, die Armut beseitigt und Entwicklungschancen schafft.

Die EU war das Ergebnis des politischen Willens, scheinbar unversöhnliche Gegensätze zu überwinden. Das bedeutete zu Beginn die Versöhnung von Völkern, die sich über Jahrhunderte immer wieder als Erzfeinde verstanden hatten. Gemessen an dieser zivilisatorischen Leistung stellt sich die Herausforderung, die aktuelle ökonomische Entwicklung und die gemeinsame Währung auf eine tragfähige Basis zu stellen, möglicherweise eher als kleinere Aufgabe dar. Indes ist bereits jetzt deutlich: Die Widerstände und Hindernisse gegen solidarische Lösungen sind massiv. Nationalistische Zentrifugalkräfte haben sich deutlich verstärkt und bedrohen nicht nur die europäische Konstruktion, sondern gefährden das Friedensprojekt insgesamt. Ein Grund mehr für die LINKE hierzulande und in Europa, ihre Anstrengungen zur Entwicklung tragfähiger Lösungswege aus der ökonomischen und politischen Krise zu erhöhen.


Joachim Bischoff und Björn Radke sind Mitglieder der Partei DIE LINKE.



Anmerkungen

[1] So das Motto des Ifo-Kongresses von Mai 2013, wo Sinn den Ton vorgab.

[2] Handelsblatt vom 17.5.2013.

[3] Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013, S. 239f.

[4] Heiner Flassbeck/Costas Lapavitsas, The systemic Crisis of the Euro - True Causes and effective Therapies;
www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_The_systemic_crisis_web.pdf; Fritz Scharpf, Monetary Union, Fiscal Crisis and the Disabling of Democratic Accountability. In: Armin Schäfer/Wolfgang Streeck (eds), Politics in the Age of Austerity. Cambridge 2013; Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, Frankfurt 2013.

[5] Saarbrücker Zeitung vom 30.4.2013.

[6] www.oskar-lafontaine.de/links-wirkt/details/f/1/t/wir-brauchen-wieder-ein-europaeisches-waehrungssystem/

[7] Gastkommentar im Handelsblatt vom 23.5.2013.

[8] www.neues-deutschland.de/artikel/821111.es-geht-nicht-um-den-euro-sondern-um-die-europaeer.html

[9] Mario Candeias, No exit - falsche Gegensätze in der - Euro-Debatte;
www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_07-2013.pdf

[10] www.neues-deutschland.de/dossiers/257.html

[11] Siehe hierzu auch den Beitrag von Elmar Altvater, Der politische Euro, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 5-2013. Außerdem Joachim Bischoff/Christoph Lieber, Die »Große Transformation« des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2013 (im Erscheinen).

[12] Sahra Wagenknecht im ND vom 5.5.2013.

[13] Wolfgang Streeck, a.a.O., S. 236. Siehe hierzu auch die ausführliche Auseinandersetzung mit Streecks Position: Joachim Bischoff/Christoph Lieber: Wohin treibt der »demokratische Kapitalismus?« Wolfgang Streecks Zeit- und Krisendiagnose, in: Sozialismus 5-2013, S. 16-23.

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Quelle:
Sozialismus Heft 6/2013, Seite 2 - 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2013