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WIRTSCHAFT/085: Projekt Europa - Warum Europa nicht zusammenfindet (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2008

Projekt Europa
Warum Europa nicht zusammenfindet

Von Stefan Collignon


Was ist europäische Politik heute? Jahrelang versprach das "Projekt Europa" Frieden und Wohlstand. Zwar ist dies noch immer ein treibendes Motiv, aber wie das Versprechen einzulösen ist, ja sogar was man unter Frieden und Wohlstand heutzutage verstehen kann, ist immer weniger erkennbar. Zudem ist nicht zu übersehen, dass nach wie vor tiefe Bruchlinien über den europäischen Kontinent verlaufen.


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Eine Ära geht zu Ende. Die Finanzkrise lähmt die Weltwirtschaft. Die Verunsicherung ist weltweit. Keynes wird wiederentdeckt, aber nicht in seiner verballhornten Version des Staatsausgabenkeynesianismus, sondern als Denker von Unsicherheit und Geld. Moderne Theorien von asymmetrischer Information und monopolistischer Konkurrenz, die von den Nobelpreisträgern Stiglitz und Krugman geprägt sind, werden Obamas Wirtschaftsteam mehr prägen als Neoliberalismus und Ordnungspolitik deutschen Stils. Europa wird eher von Amerika lernen können als umgekehrt. Kooperation wäre angezeigt, aber die Bereitschaft dazu ist gering.

Die Ambivalenz der europäischen (Un-)Regierbarkeit wird in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise besonders deutlich. Der Euro hat sich als das erwiesen, was seine Verfechter immer erwartet haben: eine stabile Währung, ein Schutzschild gegen Schocks, eine notwendige Voraussetzung für den Abbau von Arbeitslosigkeit und ein Instrument zur Sanierung der Staatsverschuldung. Die Europäische Zentralbank wurde verteufelt für eine zu restriktive Geldpolitik. Amerika galt als Vorbild. Nun ist der amerikanische Finanzkapitalismus zusammengebrochen und manch einer erkennt, dass gerade die allzu lockere Zinspolitik zur Aufblähung der asset bubble geführt hat. Jahrelang hatte die amerikanische Notenbank die Finanzmärkte mit negativen Realzinsen überflutet und damit die "Gier" der Banken nach höherem Risiko erst geschaffen. Verglichen dazu war die Politik der Europäischen Zentralbank solider. Der EZB-Konservativismus scheint rehabilitiert.


Wirtschaftspolitik ist mehr als eine stabile Währung

Die Einsicht scheint an deutschen Ordoliberalen vorbei gegangen zu sein, dass z.B. Wachstum und Beschäftigung Investitionen erfordern. Ohne Kredite keine Investitionen, und Kredit baut auf Vertrauen. Die Finanzkrise hat das Vertrauen erschüttert und die darauf folgende allgemeine Unsicherheit hat die Welt in eine tiefe Wirtschaftskrise gestoßen. Nach 10 Jahren steht die Eurozone in ihrer ersten Rezession, aber die Mitgliedsstaaten können sich nicht auf ein dringend notwendiges Investitionsprogramm einigen. Stattdessen puzzelt jeder an seinen eigenen Maßnahmen - mit minimaler Hebelwirkung. Schon die Analyse der Ursachen entzweit die Lager. Sarkozy fordert eine Neubegründung des Kapitalismus, die Bundesregierung folgt der Devise "Augen zu und durch!", und Banker fordern Hilfe vom Staat, aber bitte nur für kurze Zeit und ohne weitere Bedingungen. Während die Medien bereits die Schuldigen gefunden haben (gierige Banker und inkompetente Rating-Agenturen), gibt es kaum schlüssige Konzepte, wie die Finanzmärkte in Zukunft zu regulieren seien. Sicher, der Internationale Währungsfond fordert "einen geordneten Prozess von deleveraging", das heißt den Abbau übermäßiger Risiken, aber der Teufel steckt im Detail.

In Ländern mit entwickelten Finanzmärkten wie den USA und Großbritannien oder Frankreich wird man versuchen das Risiko-Management zu verbessern, etwa durch Modelle zur Berechnung von Risiken oder Veränderung der Bilanzierungsregeln. In den weniger entwickelten Ländern wie Deutschland und Italien wird man versuchen, mit bürokratischen Regeln den bösen Geist wieder in die Flasche zu stopfen. Aber diese Ansätze ignorieren den entscheidenden Unterschied zwischen Risiko und Unsicherheit. Risiko ist kalkulierbar, Unsicherheit nicht. Finanzinstitutionen suchen Risiko zu minimieren und durch Derivative einzuschränken (hedging). Aber Unsicherheit ist allgemein und kann deshalb nicht durch Marktmechanismen beseitigt werden. Die Minimierung von Unsicherheit ist Aufgabe der Politik. Das war die zentrale Botschaft von John Maynard Keynes. Wohlstand ist nur zu wahren, wenn Finanz-, Güter- und Arbeitsmärkte stabilisiert werden. Aber Europa hat dafür nur unzureichende Instrumente.

In ihrer Not haben Regierungen Banken verstaatlicht. Um noch größere Unsicherheit zu vermeiden war dies richtig. Aber in Europa existiert ein großer Binnenmarkt auch für Banken. Nahezu jeder Mitgliedsstaat der EU hat eine oder mehrere Banken, deren Verbindlichkeiten höher sind als das gesamte Bruttoinlandprodukt des Landes, in dem sie ihren Firmensitz haben. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, eine europäische Rettungsstrategie zu entwerfen und Banken zu europäisieren, statt sie zu nationalisieren?


Obama setzt Zeichen

Selbst wenn die Finanzmärkte zu einer minimalen Stabilität zurückkehren, wird die Wirtschaft erst wieder in Gang kommen, wenn Firmen investieren, um Nachfrage auf dem Gütermarkt zu bedienen. Hier sind Regierungen gefragt. Obamas Amerika bereitet bereits ein zweites Konjunkturprogramm vor; in Deutschland gilt schon ein mickriger Stimulus von 7 Milliarden als umstritten. Wirtschaftler haben gezeigt, dass investive Staatsausgaben das Wirtschaftswachstum auf Dauer erhöhen, konsumtive Ausgaben dagegen nicht. Aber in Europa werden Steuern gesenkt. Seit Jahren haben die meisten EU-Mitgliedsländer öffentliche Investitionen heruntergefahren. Es wäre an der Zeit, Infrastrukturen wieder in Stand zu setzen und neue Technologien zu entwickeln, beispielsweise im Energiesektor. Europa muss klotzen, nicht kleckern. Auch hier setzt Obama Zeichen. Aber wenn Amerika sich zum Entwicklungszentrum moderner Energie- und Klimaschutztechnologien entwickelt, wird Europa wieder einmal seine Führungsrolle verspielen.

Selbst die Befürworter von Konjunkturprogrammen scheinen zu glauben, sie lebten auf einer einsamen Insel. Sie verstehen nicht, dass in der Währungsunion mit einem großen Binnenmarkt die konjunkturbelebenden Effekte rasch in den Nachbarländern versickern, während die nationalen Finanzminister auf den Schulden sitzen bleiben. Europa ist kein Null-Summen-Spiel. Ein Konjunkturprogramm muss europäisch sein. Eine konzertierte Aktion von Mitgliedsstaaten der EU würde die Wirkung nationaler Programme enorm steigern. In den USA hat das erste Konjunkturpaket der Bush-Regierung die Größe von etwa 1% des BSP gehabt. Das entspricht dem von SPD-Vize Andrea Nahles geforderten 25 Milliarden-Euro-Paket für Deutschland. Für die Eurozone wären es etwa 100 Milliarden Euro.

Davon könnten 50 Milliarden zu einem europäischen Investitionspaket zusammengeschnürt werden und durch die Europäische Investitionsbank finanziert werden. Für Deutschland wäre die Haushaltsbelastung lediglich 12,5 Milliarden Euro. Ein solches Investitionspaket würde eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen in der EU von über 50% ermöglichen. Europas Wirtschaft würde einen Riesenwachstumsimpuls erhalten. Investitionen generieren zukünftiges Einkommen. Das höhere Wirtschaftswachstum würde die Haushaltskonsolidierung nicht gefährden, sondern unterstützen.


Europa sitzt in der Falle

Warum schafft es Europa nicht, sich auf sinnvolle Politik zu einigen? Europa steckt in einer Falle. Sozialwissenschaftler haben dafür einen Namen: collective action problems. Sie entstehen, wenn einzelne Akteure einer Gruppe darauf bauen, dass gemeinsame öffentliche Güter durch die Beiträge der anderen Gruppenmitglieder ermöglicht werden, sodass sie ihren eigenen Beitrag reduzieren können. Wenn jeder dies tut, ist es unmöglich, das Gemeininteresse durchzusetzen. Im besten Fall ist solches Verhalten die Folge von mangelnder Kommunikation und kann durch Politikkooperation vermieden werden. Im schlimmsten Fall führt jedoch das Streben nach nationalen Vorteilen zu einer systematischen Verletzung des Gesamtinteresses. In Europa zeigt sich dieses Phänomen in den "nationalen Egoismen" der einzelnen Mitgliedsstaaten.

In der Wirtschaftspolitik gibt es immerhin noch einige Bereiche (z.B. Förderung von Forschung, Entwicklung und Technologie), in denen freiwillige Kooperation zwischen Regierungen möglich ist. Die "offene Koordinationsmethode" der Lissabon-Strategie ist hier angemessen. Zwar hat die konservative Barroso-Kommission diese Chancen nur in unzureichendem Masse verwirklicht, aber es bestünde zumindest die Möglichkeit, dass sich mit einem anderen Präsidenten die Dinge verbessern. Im Bereich der Konjunktur- und Wachstumspolitik ist dies hingegen sehr viel unwahrscheinlicher. Französische Regierungen haben deshalb zu Recht eine Euro-Wirtschaftsregierung gefordert, aber ihr latenter Nationalismus verwehrt ihnen die Einsicht, dass eine Regierung ohne echte Demokratie nicht legitim sein kann.
Das Demokratiedefizit Das Problem der Legitimation stellt sich auch in der Außenpolitik. Für viele gilt der Frieden in Europa als selbstverständlich. Aber Europa bleibt zerstritten. Solange es keine europäische Regierung gibt, können die Regierungen der Mitgliedsstaaten beanspruchen, nur sie allein seien demokratisch legitimiert. Dabei stellen sie nationale Interessen in den Vordergrund. Großbritannien, Spanien und Frankreich pflegen ihre special relationships mit früheren Kolonien in Nord- und Südamerika und in Afrika. Aber niemand konzipiert eine europäische Strategie zum Umgang mit Asien. Für Deutschland haben Exportinteressen und Gasversorgung Vorrang über Menschen- und Bürgerrechte in China und Russland. Irland will unabhängig unter dem Papst bleiben und die neuen östlichen Mitgliedsstaaten scheinen zuweilen mehr an der NATO als an europäischer Integration interessiert zu sein. Und doch betrifft Außen- und Friedenspolitik jeden einzelnen europäischen Bürger. Wer zweifelt daran, dass Irlands Wirtschaft nicht unbetroffen bliebe, wenn der russische Gashahn zugedreht würde? Kann es im Interesse der Menschen in Europa sein, dass Deutschland seine Energie aus Zentralasien bezieht und Frankreich aus Kernkraftwerken? Kann die EU einen Beitrag gegen den Klimawandel leisten, wenn wichtige Mitgliedsstaaten sich dem Druck der heimischen Lobby beugen? Und wie wollen Europas Zwergstaaten ihre Interessen gegenüber Großmächten durchsetzen, die divide and rule als strategische Maxime sehr wohl verstanden haben. Sicher, die Europäische Union hat auch Erfolge. Im Iran-Konflikt hat Europa mäßigen können. Die französische Präsidentschaft hat es verstanden, Europas Gewicht in der Georgienkrise zur Geltung zu bringen. Aber wie Jean Monnet schon sagte: "Ohne die Menschen ist nichts, aber ohne Institutionen ist nichts von Dauer". Wenn Europa international ein Wort mitreden will, braucht es eine eigenständige Regierung.

Das Eigeninteresse bürokratischer Apparate behindert effiziente Politik im Interesse der Bürger. Aber das Problem geht tiefer. Neben der politischen Effektivität stellt sich die Frage der Legitimität. Moderne Demokratien weisen den Bürgern das Recht zu, ihre Vertreter zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen selbst zu bestimmen. Sie sind dazu berechtigt, da sie alle von den getroffenen Entscheidungen betroffen sind. Sie sind gleich in ihren Rechten und frei in ihrer Wahl. In der Europäischen Union ist dies nicht der Fall. Zwar sind die Bürger von Entscheidungen der europäischen Politik gleichermaßen berührt, aber sie sind nicht gleich: Das Veto wiegt mehr als die Zustimmung. Auch haben sie nicht die Freiheit, einen politischen Richtungswechsel zu wählen: Der Präsident der EU-Kommission wird von den Staatschefs ernannt und die Bürger haben keinen Einfluss darauf, wenn sie ein neues Europaparlament wählen. Das alles überschattende Thema der europäischen Politik wird auf Jahre die fehlende Demokratie bleiben.


Stefan Collignon (* 1951) ist Professor an der S. Anna School of Advanced Studies in Pisa. Im Vorwärts Buch Verlag erschien 2007: Bundesrepublik Europa? Die demokratische Herausforderung und Europas Krise.
S.Collignon@lse.ac.uk, www.stefancollignon.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2008, S. 24-27
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2009