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SOZIALES/157: Die europäische Austeritätspolitik und die soziale Dimension der Integration (spw)


spw - Ausgabe 6/2013 - Heft 199
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Die europäische Austeritätspolitik und die soziale Dimension der Integration

von Klaus Busch



Die sozialen Folgen des Austeritätskurses

Anders als die USA hat die EU nach der Krise 2008/2009 sehr rasch eine harte Austeritätsstrategie eingeleitet. Während die USA aufgrund ihrer expansiven Geld- und Fiskalpolitik nach der Krise 2008/2009 rasch wieder positive Wachstumsraten und einen Abbau der Arbeitslosigkeit verzeichneten, hatte die Eurozone aufgrund der Sparpolitiken noch 2012 und 2013 mit einer Rezession und steigenden Arbeitslosenraten zu kämpfen (European Commission 2013b).

Für die abhängig Beschäftigen hat sich die von der EU eingeschlagene Austeritätspolitik verhängnisvoll ausgewirkt. Die Arbeitslosenraten sind stark angestiegen, vor allem in den von der Sparpolitik am stärksten gebeutelten Staaten, wie Irland, Griechenland, Portugal und Spanien. Die Jugendarbeitslosigkeit hat in Spanien und Griechenland Raten von mehr als 50 Prozent erreicht, in vielen anderen EU-Staaten liegt sie bei über 30 Prozent. Darüber hinaus beklagen viele Staaten eine starke Zunahme des Niedriglohnsektors und prekärer Arbeitsverhältnisse, wie Leiharbeit und Werkverträge.

Die hohe Arbeitslosigkeit und die Schwächung der Gewerkschaften haben auch in der Lohn- und Einkommensentwicklung in vielen Mitgliedstaaten ihren Tribut gefordert. Schon vor der Wirtschaftskrise 2008/2009 waren mit der Ausnahme von fünf Staaten überall in der EU die Reallöhne schwächer gestiegen als die Produktivität. Im Zuge der Austeritätspolitik und der von der Troika durchgesetzten Dezentralisierung der Kollektivverhandlungssysteme ist es nicht bei dieser Umverteilung zu Gunsten des Kapitals geblieben. In den Staaten Südeuropas, in Irland und vielen osteuropäischen Staaten kam es seitdem auch zu einem Abbau der Reallöhne (vgl. Busch/Hermann/Hinrichs/Schulten 2012; 7ff). Darüber hinaus sind in vielen EU-Staaten aufgrund dieser Arbeitsmarkt- und Lohnentwicklungen die Armutsraten angestiegen.

Durch neoliberale Reformen in den sozialen Sicherungssystemen sind in sehr vielen EU-Staaten schon vor der Krise 2008/2009 die Rentenleistungen, die Gesundheitsleistungen und die Arbeitslosenunterstützungen zurückgefahren worden. Aufgrund ähnlicher Problemlagen (Demographischer Wandel, Haushaltsdefizite, Arbeitslosigkeit, System der Wettbewerbsstaaten) ist in den letzten 15 Jahren der Wohlfahrtsstaat in vielen Mitgliedstaaten stark reformiert worden. In den Rentensystemen sind kapitalgedeckte Elemente eingeführt und die relativen Rentenniveaus reduziert worden. In den Arbeitslosenversicherungen wurden die Leistungen (Höhe und Dauer) abgebaut und Aktivierungselemente eingeführt. Die Reformen im Gesundheitssektor sind komplexerer Natur, aber auch hier sind unter anderem die Leistungskataloge reduziert und private Finanzierungselemente (Selbst- und Zuzahlungen) stark erhöht worden.

Dieser Trend zu einer "Liberalisierung" des Europäischen Sozialmodells ist aufgrund der Eurokrise und der Austeritätspolitik weiter vertieft worden. Auffällig ist vor allem, dass jetzt auch in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien (GIPS) in der Rentenpolitik Reformen eingeleitet worden sind, die in vielen EU-Staaten schon Jahre früher begonnen wurden (vgl. Busch/Hermann/Hinrichs/Schulten 2012; 15ff). Neben einer Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters, der Gleichstellung von Frau und Mann, der Verschlechterung der Bedingungen für eine Frühverrentung und dem Abbau berufsspezifischer Unterschiede sind einzelne Komponenten der Rentenformel (Erhöhung der Versicherungsjahre für die Standardrente, Veränderung der Indexierung) so angepasst worden, dass die relativen Rentenniveaus - gemessen an der Lohnersatzrate - in den GIPS bis 2040 drastisch sinken werden.


Die Bedeutung der sozialen Dimension in der Reformdebatte über eine "vertiefte und echte" Wirtschafts- und Währungsunion

Unter dem Titel "Strengthening the Social Dimension of the Economic and Monetary Union" hat die EU-Kommission im Oktober 2013 die lange erwartete Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat veröffentlicht (European Commission 2013a).

Faktisch schlägt die Kommission in dieser Mitteilung nur vor, einen Satz an Sozialindikatoren zu schaffen, dessen Analyse von den EU-Institutionen in den bereits vorhandenen Verfahren zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik berücksichtigt werden soll. Dieses Scoreboard soll fünf Schlüsselindikatoren umfassen: Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit (plus NEET-Rate [1]), verfügbares Einkommen der Haushalte, Armutsgefährdungsquote und Ungleichheiten.

Die kritische Öffentlichkeit hat diese Mitteilung mit großer Enttäuschung aufgenommen, zumal Frankreich im Europäischen Rat im Dezember 2012 durchgesetzt hatte, dass bei den Vorschlägen zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion auch die soziale Dimension berücksichtigt werden soll und der Europäische Rat dazu bereits auf der Basis von Vorschlägen van Rompuys im Juni 2013 konkrete Beschlüsse fassen wollte.

Im März 2013 sah es zunächst auch sehr verheißungsvoll aus, als aus dem Kabinett des Sozialkommissars Andor ein Non-Paper zur Vertiefung der sozialen Dimension bekannt wurde (Non-Paper 2013a). Darin wurden die sozialen Folgen der Austeritätspolitik scharf gegeißelt und darüber hinaus nicht nur ein Indikatorensystem über Ungleichheiten auf den Arbeitsmärkten und Disparitäten in der Einkommensentwicklung vorgeschlagen, sondern gleichzeitig auch ein Instrumentensystem zur Bekämpfung dieser sozialen Probleme gefordert. Ein Satz an nationalen oder europäischen Mindeststandards sollte geschaffen werden und darüber hinaus die Staaten beim Überschreiten festzulegender Schwellenwerte für die Indikatoren zu Korrekturmaßnahmen verpflichtet werden.

Dieser bislang progressivste Vorschlag zur Vertiefung der sozialen Dimension der EU, der je aus Kreisen der Kommission bekannt geworden ist, hatte allerdings eine äußerst kurze Halbwertzeit. Aufgrund der Intervention des Präsidenten Barroso verschwand das Konzept im Giftschrank der Kommission und wurde kaum vier Wochen nach seinem Bekanntwerden durch ein anderes Non-Paper ersetzt (Non-Paper 2013b). Dieses leitete einen kompletten Salto rückwärts ein, benannte nur noch ein Indikatorensystem für die Analyse sozialer Probleme und verbannte alle möglichen politischen Instrumente zur Bekämpfung der Ungleichgewichte in das Reich einer Fußnote, und zwar in der Sprache des Konjunktivs.

Diese Rückkehr zum Status quo ante wurde im Mai 2013 von den europäischen Arbeits- und Sozialministern in ihrem Memorandum zur Vertiefung der sozialen Dimension der WWU aufgenommen und euphemistisch als "Stärkung" der sozialen Dimension gepriesen (EPSCO 2013). Die Minister versäumten es dabei nicht, auch die soeben erwähnte Fußnote zu streichen, nur um in der Öffentlichkeit nicht das Missverständnis aufkommen zu lassen, aus der Analyse der Indikatoren könne irgendwann politisches Handeln folgen.

Auf dieser Grundlage entstand schließlich die eingangs genannte Mitteilung aus dem Oktober 2013, die aufgrund fehlender neuer Instrumente (Mindeststandards und Schwellenwerte) so ohne Biss ist, dass auf dieser Basis jetzt auch Kanzlerin Merkel betont, die EU brauche eine soziale Dimension.


Ein alternatives Indikatoren- und Instrumentensystem zur Stärkung der sozialen Dimension der EU

Im Anschluss an das erwähnte Non-Paper aus dem Hause Andor im März 2013 haben Frank Bsirske und Klaus Busch ein Konzept zur Vertiefung der sozialen Dimension der EU entwickelt, dessen Grundzüge hier vorgestellt werden sollen (Bsirske/Busch 2013).

Europäische Sozialpolitik sollte entsprechend dieses Vorschlages auf die Beseitigung von Ungleichgewichten und Disparitäten auf dem europäischen Arbeitsmarkt, in der europäischen Lohn- und Einkommensentwicklung und in den europäischen Systemen der sozialen Sicherheit abzielen. Es handelt sich also um ein sehr umfassendes Verständnis von Sozialpolitik, das sich nicht nur auf die sozialen Sicherungssysteme bezieht. Der Vorschlag zur Vertiefung der sozialen Dimension der Europäischen Union beinhaltet alle drei genannten Politikbereiche: Arbeit und Beschäftigung, Lohn und Einkommen sowie die soziale Sicherheit. In allen drei Feldern umfasst er zwei Dimensionen:

1. einen Satz an Indikatoren, der über Ungleichgewichte und Disparitäten auf dem Arbeitsmarkt, in der Lohn- und Einkommensentwicklung und in den Systemen der sozialen Sicherheit Auskunft gibt und
2. einen Satz an Instrumenten, der zur Beseitigung der jeweiligen Ungleichgewichte und Disparitäten geeignet ist.

Arbeit und Beschäftigung: In diesem Politikfeld sollte es drei Hauptindikatoren geben: die Arbeitslosenrate, die NEET-Rate für Jugendliche und den Anteil prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Diese Größen geben Aufschluss über Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt, über den Anteil Jugendlicher ohne Arbeit, Ausbildung oder Trainingsmaßnahme sowie über das Ausmaß der Beschäftigung in Form von Halbtagsarbeit, befristeter Arbeit, Leiharbeit, Werkverträgen, Mini- und Midi-Jobs (Disparitäten auf dem Arbeitsmarkt). Diese Indikatoren sollten über einen Zeitraum von zehn Jahren erfasst, nationale und europäische Mittelwerte gebildet und Schwellenwerte für die nationalen und europäischen Abweichungen festgelegt werden. In nationalen und europäischen Berichten sind die Ursachen dieser Entwicklungen und der Abweichungen zu analysieren: die konjunkturelle Entwicklung, die Auswirkungen der Austeritätspolitik, mögliche Verschiebungen in der Wettbewerbsfähigkeit des Landes, exogene Einflüsse des Weltmarktes, etc.

Hauptinstrumente zur Bekämpfung von Ungleichgewichten und von Disparitäten sind: die nationale und europäische makroökonomische Politik zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, eine europäisch koordinierte Jobgarantie für die Jugendlichen sowie eine Reihe europäischer Arbeitsmarktregulierungen zur Bekämpfung der prekären Beschäftigungsverhältnisse, z.B. gleicher Lohn für Stammarbeiter und für Leiharbeiter, eine strenge Eingrenzung von Werkverträgen und eine scharfe Kontrolle der entsendeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU nach dem Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" (Produktionsortprinzip). Durch die Festlegung eines Indikators für die Arbeitsmarktsituation (Arbeitslosenrate) und einer expansiven makroökonomischen Politik zur Überwindung der Arbeitsmarktkrise würde sich die europäische Sozialpolitik in einen bewussten Gegensatz zur herrschenden makroökonomischen Politik in der EU setzen. Würde eine solche europäische Sozialpolitik ernst genommen, und hätte sie mindestens den gleichen Stellenwert wie die Wirtschaftspolitik, müsste die EU die neoliberale Austeritätspolitik beenden und ein neues wirtschaftspolitisches Paradigma in den Blick nehmen.

Lohn und Einkommen: Hauptindikatoren in diesem Politikfeld sind: die realen Lohnstückkosten, der Anteil des Niedriglohnsektors und die Armutsraten. Diese Indikatoren zeigen, wie sich die Anteile von Lohnarbeit und Kapital am Gesamteinkommen verändert haben (Einkommensverteilung), wie stark der Niedriglohnsektor expandiert ist und wie viele Personen nur ein Einkommen von bis zu 60 Prozent des medianen Äquivalenzeinkommens erzielen. Auch für diese Größen sollten die Entwicklungen über einen Zeitraum von zehn Jahren untersucht und die Ursachen der möglichen Ungleichgewichte in der Einkommensverteilung analysiert werden. Ebenso sollten divergierende Entwicklungen zwischen den Mitgliedstaaten der Union erfasst und erklärt werden.

Hauptinstrumente zur Vermeidung von Ungleichgewichten und zur Bekämpfung von Disparitäten sind in diesem Bereich: die europäische Koordinierung der nationalen Tarifpolitiken gemäß der Regel "Inflationsrate plus Produktivitätswachstum", europäische Regeln für die nationalen Mindestlöhne sowie europäische Regeln für nationale Mindesteinkommen. Während die Tarifkoordinierung eine Aufgabe der Tarifvertragsparteien wäre, müssten die Regeln für die Mindestlöhne und die Mindesteinkommen gesetzlich vereinbart werden.

Soziale Sicherheit: Zwischen den Sozialschutzausgaben der Mitgliedstaaten und ihrem ökonomischen Entwicklungsniveau bestand bis zum Vorkrisenjahr 2007 ein enger statistischer Zusammenhang. Je höher das Pro-Kopf-Einkommen, desto höher die Pro-Kopf-Ausgaben für den Sozialschutz. Das Bestimmtheitsmaß lag bei über 90 Prozent. Die Variation der Sozialausgaben "erklärte" sich damit zu über 90 Prozent aus der Variation der Pro-Kopf-Einkommen der Staaten. Allerdings gab es schon in den Jahren vor der Krise Staaten, die nach unten abwichen, die also weniger für den Sozialschutz ausgaben als ihrem Entwicklungsniveau entsprochen hätte. Dies waren vor allem Irland, aber auch Estland, Lettland, Litauen, Großbritannien und Spanien. Es ist zu erwarten, dass aufgrund der Austeritätspolitik in den Staaten Südeuropas, die auch zu starken Kürzungen in den wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben geführt hat, die negativen Abweichungen innerhalb der EU noch zugenommen haben.

Um den engen Zusammenhang zwischen Sozialschutzausgaben und dem Entwicklungsniveau zu wahren, negative Abweichungen einzelner Staaten zu unterbinden und damit Sozialdumping zu vermeiden, ist es sinnvoll, auf der europäischen Ebene Koordinierungsregeln zu vereinbaren (Sozialer Stabilitätspakt).

Hauptindikator wären in diesem Politikfeld die Sozialausgaben in KKS (Kaufkraftstandards) pro Kopf seit dem Jahr 2000. Hauptinstrument wäre ein Korridor von 5 Prozent, 10 Prozent oder 15 Prozent um die Regressionsgrade der Beziehung Sozialausgaben in KKS pro Kopf in Relation zum Einkommen pro Kopf in KKS.

Das hier vorgeschlagene Konzept für eine Vertiefung der sozialen Dimension der Europäischen Union stellt einen Bruch mit der herrschenden neoliberalen EU-Politik dar. Es fordert zur Überwindung der Arbeitsmarktkrise eine Politik nachhaltigen Wachstums sowie europäische Regelungen zur Beseitigung prekärer Arbeitsverhältnisse. Im Bereich der Lohn- und Einkommenspolitik setzt es sich vor allem für Maßnahmen ein, die für eine Überwindung von ruinöser Lohnkonkurrenz und von Lohndumping in Europa sorgen. Im Feld der sozialen Sicherheit soll die Entwicklung des Wohlfahrtstaats an die ökonomische Leistungsfähigkeit der Staaten gekoppelt und auf diese Weise Sozialdumping vermieden werden.


Die Perspektiven der sozialen Dimension der Integration

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass es um die Fortentwicklung der sozialen Dimension der Integration unter den momentan herrschenden Verhältnissen nicht gut bestellt ist. Die Perspektiven der europäischen Sozialpolitik sind vor allem von drei Faktoren abhängig: der ökonomischen Entwicklung der EU, den sozialen Kräfteverhältnissen und der politischen Debatte über weitere institutionelle Reformen der EU.

Ökonomisch wird nach den Rezessionsjahren für 2014 und 2015 eine moderate Erholung der europäischen Wirtschaft erwartet (European Commission 2013b). Diese Erholung steht aber auf keinem sehr festen Fundament. Belastungsfaktoren sind vor allem die Haushalts- und Wettbewerbsprobleme der drei großen europäischen Volkswirtschaften Frankreich, Italien und Spanien. Darüber hinaus kann es aufgrund von Mängeln bei der Einführung der Bankenunion (Abwicklungsmechanismus und Rolle des ESM) bereits nach den Stresstests der europäischen Großbanken im Jahre 2014 zu einer Rückkehr der Eurokrise kommen (Wahl 2013). Unabhängig von diesen Belastungsfaktoren wird die Arbeitslosigkeit in Europa nur sehr langsam abgebaut werden, zumal die Erholung nicht von einem Paradigmenwechsel in der makroökonomischen Politik begleitet sein wird und deshalb nicht mit einem großen europäischen Investitionsprogramm gerechnet werden kann, wie es vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) im November 2013 vorgeschlagen worden ist.

Aufgrund der anhaltenden hohen Arbeitslosigkeit und der von der Troikapolitik bewirkten institutionellen Schwächung der Gewerkschaften wird sich in der Lohn- und Einkommenspolitik der Trend zur wachsenden Ungleichheit in der Einkommensverteilung fortsetzen. Deutschland kann sich von dieser negativen Entwicklung in Umkehrung der Verhältnisse, die vor der Krise 2008/2009 zu beobachten waren, möglicherweise eine Zeitlang abkoppeln, dürfte aber dann wieder in den herrschenden Trend eingegliedert werden.

Im Hinblick auf den politischen Faktor wird viel davon abhängen, ob es Kanzlerin Merkel gelingen wird, auf europäischer Ebene den Pakt für Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz durchzusetzen. Danach sollen sich die Mitgliedstaaten in bilateralen vertraglichen Vereinbarungen mit der Kommission verpflichten, Strukturreformen durchzuführen, wie zum Beispiel Arbeitsmarkt- und Rentenreformen. Als Anreiz sollen den Mitgliedstaaten zur Überbrückung ökonomischer Anpassungsschwierigkeiten - beispielsweise einer höheren Arbeitslosigkeit bei liberalen Arbeitsmarktreformen - aus einer neu zu schaffenden Fiskalkapazität im oder neben dem EU-Haushalt konditionierte Finanzhilfen gewährt werden. Dieses Konzept, das Kritiker bereits unter dem Motto "Troika für alle!" diskutieren (Busch/Hirschel/Karrass 2013; Oberndorfer 2013), stößt im Moment unter den Mitgliedstaaten noch auf eine größere Ablehnungsfront. Möglicherweise strebt Frau Merkel nach den Europawahlen im Mai 2014 ein Junktim zwischen der Rolle des ESM in der Bankenunion und dem Pakt für Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz an. Die Rahmenbedingungen für eine Vertiefung der sozialen Dimension der Integration würden sich dann abermals verschlechtern, denn der Pakt ist nichts Anderes als eine Generalisierung neoliberaler Strukturreformen in der Arbeitsmarktpolitik und in den sozialen Sicherungssystemen.

Damit gibt es bei allen drei Einflussfaktoren auf die künftige Entwicklung der sozialen Dimension keine Anzeichen für eine Umkehr der negativen Rahmenbedingungen. Dazu gehört auch, dass die SPD im Kontext der Großen Koalition nach dem bisherigen Kenntnisstand alle Forderungen für ein alternatives sozialökonomisches Europaprojekt (Wachstumspakt, Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Solidarität mit Südeuropa in der Frage der Bankenunion, sozialer Stabilitätspakt, Stärkung des Europäischen Parlaments) mehr oder weniger kampflos geräumt hat. Die Europapolitik der neuen Regierung wird damit eine Fortsetzung des bisherigen Kurses von Merkel und Schäuble sein.


(1) Abkürzung für "Not in Education, Employment or Training". Die NEET-Rate beziffert den Anteil an Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung befinden.

Dr. Klaus Busch ist Professor (i.R.) für Europäische Studien an der Universität Osnabrück und europapolitischer Berater von ver.di.


Literatur

• Bsirske, Frank/Busch, Klaus (2013): A Concept for Deepening the Social Dimension of the European Union, in: Social Europe Journal, 14.8.2013

• Busch, Klaus/Hermann, Christoph/Hinrichs, Karl/Schulten, Thorsten (2012): Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell. Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Berlin

• Busch, Klaus/Hirschel, Dierk/Karrass, Anne (2013): Mehr Europa, aber anders, in: Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft, Nr. 7/8, S. 36-39

• EPSCO (2013): Memorandum - the Social Dimension of the Economic and Monetary Union, Brussels

• European Commission (2013a): Communication from the Commission to the European Parliament and the Council. Strengthening of the Social Dimension of the Economic and Monetary Union, 2.10.2013, Brussels

• European Commission (2013b): European Economic Forecast. Autumn 2013, Brussels

• Non-Paper (2013a): The social dimension of a genuine Economic and Monetary Union, Brussels

• Non-Paper (2013b): The Social Dimension of the Economic and Monetary Union, Brussels

• Oberndorfer, Lukas (2013): Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit als nächste Etappe in der Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik? In: AK Wien: infobrief eu & international, Ausgabe 1, März 2013

• Wahl, Peter (2013): Wird die Bankenunion den Euro retten? In: weed newsletter, 1. November 2013

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2013, Heft 199, Seite 15-20
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2013