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SOZIALES/128: Alt werden mit Europa (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 122/Dezember 2008
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Alt werden mit Europa
Die EU hat mehr Einfluss auf Politik zum Thema Alter als oft vermutet

Von Miriam Hartlapp


Die europäische Bevölkerung altert. Regierungen und Gesellschaften suchen nach Antworten auf den demographischen Wandel. Dabei bestimmt auch die Europäische Union die nationalen Politiken mit - zum Beispiel wenn in Deutschland fixe Altersgrenzen in Stellenausschreibungen verboten werden oder in Frankreich erworbene Betriebsrentenansprüche bei einem Arbeitsplatzwechsel nach Deutschland mitgenommen werden können. An welchen Stellen und mit welchen Inhalten nimmt die EU Einfluss auf nationale Politiken und Entscheidungen zum Thema Alter? Wie lassen sich Unterschiede zwischen nationaler und europäischer Politikgestaltung erklären?

Renten- und Beschäftigungspolitik sind traditionell die wichtigsten Instrumente nationaler Regierungen im Umgang mit den Folgen des demographischen Wandels. Nach der vorherrschenden Lesart kann die EU erst seit Beginn des Jahrtausends Fragen des Alterns politisch gestalten: mit der "Offenen Methode der Koordinierung Sozialschutz und soziale Eingliederung" und der "Europäischen Beschäftigungsstrategie". Ziel dieser Instrumente ist es, Rentensysteme immer wieder an wirtschaftliche Entwicklungen und veränderte Lebensläufe anzupassen und den langfristigen finanziellen Bestand der Rentensysteme zu sichern.

Dies ist eng mit einer Politik des "aktiven Alterns" verknüpft. Bis 2010 soll eine 50-prozentige Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen und ein durchschnittliches Alter von 65 beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben erreicht werden. Kontext beider Maßnahmen ist die Lissabon-Strategie, die die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt machen soll. Allerdings sind die Wirkungen der "Offenen Methode der Koordinierung Sozialschutz und soziale Eingliederung" und der "Europäischen Beschäftigungsstrategie" aufgrund des unverbindlichen und rein koordinierenden Charakters umstritten. Zwar hat Deutschland 2007 die 50-prozentige Erwerbsquote erstmals erreicht, aber die Debatte um die Rente mit 67 nimmt das EU-Ziel kaum zur Kenntnis.

Das WZB-Projekt "EU-Politiken des aktiven Alterns" untersucht, inwieweit die Konzentration auf diese weichen Steuerungsvorgaben zum Thema Alter die Rolle der EU adäquat erfasst. Eine Analyse der EU-Politik über einen längeren Zeitraum und die Einbeziehung weniger bekannter Politik-Instrumente legt nahe, dass trotz schwacher formaler Kompetenzen eine Steuerungswirkung der EU zum Thema Alter nicht von der Hand zu weisen ist.

Bis Mitte der 1980er Jahre gab es keine explizite EU-Politik zum Thema Altern. Gemeinschaftliche Verordnungen für Wanderarbeitnehmer dienten allein dem Schnittstellenmanagement zwischen nationalen Systemen sozialer Sicherung. Obwohl sie auch Renten abdeckten, gestalteten sie keine Politik zum Thema Alter. Ähnlich lassen sich die Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur Geschlechtergleichstellung, die ein niedrigeres Renteneintrittsalter von Frauen für Unrecht erklärten, nur indirekt als EU-Politik zum Thema Alter bezeichnen.

Das änderte sich erst, als Jacques Delors 1985 den Vorsitz der EG-Kommission übernahm. Die programmatische, aber unverbindliche Sozialcharta von 1989 verankert Ältere als eigenständige Gruppe, der spezifische Rechte zuerkannt wurden, wie angemessener Lebensstandard, Mindesteinkommen, medizinische und soziale Unterstützung. Die Umsetzung dieser Rechte wird durch das Erste Aktionsprogramm für Ältere (1991-1993) unterstützt. Darin werden in zahlreichen Projekten Präventivstrategien für den Umgang mit wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen einer alternden Gesellschaft entwickelt, die intergenerationale Solidarität gestärkt und die Potenziale älterer Menschen betont.

Das sind Inhalte, die auf nationalstaatlicher Ebene noch heute, also gut 15 Jahre später, innovativ erscheinen. Innovativ sind die Steuerungsbemühungen aber auch, weil sie das Thema als Grundrecht und nicht - wie in Deutschland und anderen Nationalstaaten üblich - als Teilbereich der sozialen Sicherung fassen. Dies beruht auf einem breiteren Verständnis von Politik zum Thema Alter, das weit über Rentenpolitik hinausgeht. Auch verändert die Europäische Kommission ganz bewusst die Konstellation der Akteure auf diesem Gebiet: Die Interessenvertreter gewerkschaftlich organisierter Rentner verlieren an Einfluss zugunsten zivilgesellschaftlicher Akteure. Das eröffnet der Kommission neue strategische Handlungsspielräume. Unterstützt wird diese Politik auch von Mitgliedstaaten wie Großbritannien, die verhindern wollen, dass durch ein klassisch korporatistisches Arrangement auf europäischer Ebene die nationalen Sozialpartner gestärkt werden könnten. Das Beispiel der Sozialcharta zeigt, dass schon lange vor der "Offenen Methode der Koordinierung Sozialschutz und soziale Eingliederung" und der "Europäischen Beschäftigungsstrategie" EU-Politik zum Thema Alter gestaltet wurde.

So wie viele Mitgliedstaaten die betriebliche und private Altersvorsorge förderten, wurde auch auf EU-Ebene in den 1990er Jahren die wachsende Bedeutung solcher Zusatzrenten erkannt. Um Wettbewerbsverzerrungen zwischen ausländischen und inländischen Rentenfonds zu verhindern, wurde gemeinschaftliches Recht ausgehandelt. Dabei gab es lange Diskussionen über das richtige Maß an Investitionsfreiräumen für Fonds, die den Anlegern größere Gewinne ermöglichen, und über den Versicherungscharakter der Fonds. 2003 legte eine Richtlinie einheitliche Anforderungen an die Aufsicht über Rentenfonds fest. Sie regelt beispielsweise die Eingriffsrechte der Aufsichtsbehörden und bestimmt, wie Rückstellungen und Deckungen erfolgen müssen. Allerdings: Ungeachtet der wachsenden Bedeutung, die Zusatzrenten für breite Bevölkerungsschichten haben, lehnten die Mitgliedstaaten es ab, mit der Richtlinie auch Sozialpolitik zu schreiben. Beispielsweise wurde der Vorschlag der EU-Kommission zurückgewiesen, Fonds zu begünstigen, die individuelle Risiken wie Pflegebedürftigkeit oder Langlebigkeit versichern - das ist typisch für kollektivvertragliche Fonds.

Vor diesem Hintergrund sind inhaltliche Weiterentwicklungen, die dann ebenfalls nationale Politiken beeinflussen können, eher vom Europäischen Gerichtshof zu erwarten. Erste Beispiele gibt es schon: 2005 erklärte dieser die ungleiche Besteuerung von Dividenden aus Rentenfonds für Unrecht (Rechtssache Denkavit International, C-170/05) und verwies auf Regelungsbedarf für Fälle, in denen die Insolvenz eines Unternehmens die Anwartschaften noch nicht pensionierter Mitglieder in Rentenfonds kürzt (Rechtssache Robins, C-278/05).

Die EU-Politik betont auch, dass Renten Einfluss auf die Mobilität von Arbeitnehmern haben. Zwar schaffen die eingangs erwähnten Verordnungen für Wanderarbeitnehmer Kompatibilität staatlicher Sicherungssysteme; Zusatzrenten sind aber nicht abgedeckt. Mit nationalen Reformen zu ihrer Förderung, wie der Riesterrente, fällt die mangelhafte europäische Koordinierung stärker ins Gewicht. Was passiert, wenn eine Arbeitnehmerin einige Jahre in einem anderen europäischen Land gearbeitet, dort Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt hat und nun in ihre Heimat zurückkehrt? Bereits 1998 legte eine EU-Richtlinie fest, dass bei Grenzübertritt Leistungsanrechte behalten oder Auszahlungen vorgenommen werden dürfen.

Ein zweiter Richtlinienvorschlag zur Mitnahme betrieblicher Renten wird derzeit noch verhandelt. Rentenansprüche könnten dann selbst bei kurzen Beschäftigungszeiten oder zu Beginn des Erwerbslebens erworben und bei einem Arbeitsplatzwechsel in ein neues Rentensystem übertragen werden - in Deutschland gilt dies bisher nur für kapitalgedeckte Systeme. Zudem möchte die Richtlinie "schlafende" Ansprüche durch Anpassung an Inflation oder an die Entwicklung des Lohnniveaus sichern.

Noch sind die Inhalte der Richtlinie zwischen den Mitgliedstaaten umstritten. Besonders Deutschland, aber auch die Niederlande haben in der Vergangenheit gegen weitreichende Mitnahmerechte gekämpft. Ein Grund für diesen Widerstand ist, dass in Deutschland Betriebsrenten traditionell zur Bindung des Arbeitnehmers an ein Unternehmen eingesetzt werden, ein anderer, dass nicht alle Unternehmen mit finanziellen Rückstellungen arbeiten, Renten also nicht ohne Weiteres transferieren können. Sollte die Richtlinie angenommen werden, hätte sie nicht nur für einen Arbeitsplatzwechsel innerhalb Europas, sondern auch innerhalb eines EU-Mitgliedstaats Folgen.

Gegen Diskriminierung wurde auf EU-Ebene über viele Jahre hinweg nur in Bezug auf die Staatsangehörigkeit und das Geschlecht vorgegangen. Unter den Mitgliedstaaten nannte in den 1990er Jahren allein Finnland Alter als expliziten Grund ungerechtfertigter Diskriminierung. Erst 1999 verlieh Artikel 13 des Amsterdamer Vertrags der Staatengemeinschaft neue Befugnisse bei der Bekämpfung der Diskriminierung, unter anderem auf Grund des Alters, 2000 folgte eine Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Diese Ausdehnung der europäischen Gleichstellungspolitik auf den Diskriminierungsgrund Alter war nicht selbstverständlich. Dahinter stand eine starke Lobby für Minderheitenrechte - organisiert in der "social platform", einem Brüsseler Verbund von Nichtregierungsorganisationen. Ausnahmen vom Nichtdiskriminierungsgebot sind heute nur noch erlaubt, wenn sie "ein legitimes Ziel verfolgen". Was legitim ist, ist rechtlich jedoch unsicher und Gegenstand einzelner Rechtsentscheide. Ein prominentes Beispiel ist die Rechtssache Mangold: Ein 56-jähriger Arbeitnehmer klagte gegen das deutsche Teilzeit- und Befristungsgesetz, das für Arbeitslose über 52 Jahren generell den Abschluss befristeter Verträge erlaubt, um ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass Ältere anderen Arbeitnehmern grundsätzlich gleichgestellt werden sollen, auch dann, wenn damit arbeitslose Ältere schlechter gestellt werden.

Neben diesen einzelnen Instrumenten steuert die EU nationale Politiken zum Thema Alter vor allem durch Vorgaben der Wirtschafts- und Währungsunion. So erlaubt der Stabilitäts- und Wachstumspakt, Mitgliedstaaten für Haushaltsdefizite zu sanktionieren. Seit 2000 werden sogar direkte Empfehlungen für die staatlichen Rentenversicherungssysteme ausgesprochen. Neben der Einschränkung finanzieller Spielräume in nationalen Sozialversicherungen bewirkt diese EU Politik aber auch indirekt Veränderungen. Differenzierte Analysen und Modellrechnungen können in nationalen Debatten um Rentenund zunehmend auch Gesundheitspolitik von denjenigen politischen Kräften genutzt werden, die Kürzungen befürworten.

Zusammengenommen wird deutlich, dass EU-Politik über verschiedene Kanäle Einfluss auf nationale Politik zum Thema Alter nimmt. Oft wird der Einfluss weicher Steuerungsinstrumente, die Reformanstöße bei Renten und Beschäftigung geben, überschätzt. Unterschätzt wird dagegen, wie sehr die EU nationale Gestaltungsspielräume einschränkt - durch ihre Wirtschafts- und Währungspolitik und Instrumente der Gleichstellungspolitik oder die Kapital- und Personenfreiheit im Binnenmarkt. Allerdings zeigt sich auch, dass die konkrete Wirkung stark von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs abhängt.

Das WZB-Forschungsprojekt kann auch in einer zweiten Hinsicht lohnende Einblicke gewähren. In Teilen lässt sich die Europaverdrossenheit, die unter anderem in den ablehnenden Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland sichtbar wurde, mit der Wahrnehmung der EU als Marktprojekt erklären, dem kaum gemeinschaftliche Sozialpolitik gegenübersteht. In Abgrenzung zur mitgliedstaatlichen Rentenpolitik finden wir auf EU-Ebene Marktlogiken am Werk, wie am Beispiel der Beschäftigungspolitik, der Zusatzrenten und der Antidiskriminierungspolitik deutlich wurde. Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass EU-Politiken zum Thema Alter allein den Märkten überlassen seien. Vielmehr lassen sie sich aus dem Zusammenspiel von Markt- und Sozialpolitik erklären. Das Projekt zeigt, dass die Dominanz einer Marktlogik sozialpolitische Akteure mobilisiert hat und so zum Entstehen europäischer Sozialpolitik im Bereich Rente geführt hat, für die die Mitgliedstaaten zuvor exklusiv nationale Politikgestaltung beansprucht haben. Die Lissabon-Strategie stellt Ältere ins Zentrum der EU-Beschäftigungspolitik, und wirtschaftsliberale Vorstellungen Großbritanniens halfen, zivilgesellschaftliche Interessen auf EU-Ebene zu stärken und damit Alter als Nichtdiskriminierungsgrund zu verankern. Eine systematische Analyse der Rolle ökonomischer sowie sozialpolitischer Akteure und Arenen könnte diese vorläufigen Muster bestätigen.


Miriam Hartlapp, Dr. rer. pol., ist Leiterin der Nachwuchsgruppe "Positionsbildung in der EU-Kommission" und Juniormitglied der Akademiengruppe Altern in Deutschland, eine Initiative der Leopoldina und acatech. Zuvor war sie Doktorandin und Postdoc am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und arbeitete bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. Promotion 2003 an der Universität Osnabrück über die Implementation arbeitsrechtlicher EG-Richtlinien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das politische System der EU, Implementations- und compliance-Forschung, Sozial- und Beschäftigungspolitik, Institutionentheorie.
hartlapp@wzb.eu


Kurz gefasst

Die EU nimmt stärker als vermutet Einfluss auf nationale Politik zum Thema Alter. Sie beschränkt sich dabei nicht auf Renten- und Beschäftigungsfragen. Oft wird der Einfluss weicher Steuerungsinstrumente wie die "Offene Methode Koordinierung" oder die "Europäische Beschäftigungsstrategie" überschätzt. Unterschätzt wird, wie sehr die EU nationale Gestaltungsspielräume begrenzt - durch ihre Wirtschafts- und Währungspolitik und Instrumente der Gleichstellungspolitik oder der Kapital- und Personenfreiheit im Binnenmarkt.


Literatur

Miriam Hartlapp, "Intra-Kommissionsdynamik im Policy-Making: EU- Politiken angesichts des demographischen Wandels", in: Ingeborg Tömmel, Die Europäische Union: Governance und Policy-Making, PVS- Sonderheft, Jg. 40, Heft 2, 2007, S. 139-160

Miriam Hartlapp, Günther Schmid, "Labour Market Policy for "active ageing" in Europe. Expanding the Options for Retirement Transitions", in: Journal of Social Policy, Vol. 37, No. 3, 2008, S. 409-431

Markus Haverland, "When the Welfare State Meets the Regulatory State: EU Occupational Pension Policy", in: Journal of European Public Policy, Vol. 14, No. 4, 2007, S. 886-904


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 122, Dezember 2008, Seite 17 - 20
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2009