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INNEN/523: EU - Die nationalistische Blockade (Blätter)


Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2016

EU: Die nationalistische Blockade

von Steffen Vogel


Europa präsentiert sich in diesen Wochen als politisch zerrissener Kontinent. Die EU steckt in einer gefährlichen "Polykrise", wie Jean-Claude Juncker offen sagt. Er leitet nach eigener Einschätzung die "Kommission der letzten Chance".[1] Tatsächlich kulminieren derzeit drei dramatische Entwicklungen: die kaum gelöste Flüchtlingsfrage, der neu aufflammende Streit um die Kürzungsauflagen für Griechenland und der drohende EU-Austritt Großbritanniens. Ihr geballtes Auftreten stellt die Union vor die Zerreißprobe. Und sie alle wurzeln im bedrohlichen Anwachsen des nationalen Egoismus, der gemeinsame Lösungen zunehmend erschwert.

Genau dieser Zug ins Nationale bescherte Europa das beschämende Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Da zahlreiche Länder aktiv die europäische Solidarität verweigerten, reichte es in Brüssel am 18. März nur zu einem schlechten Kompromiss. Das autoritäre Regime in Ankara sorgt nun dafür, dass in den meisten EU-Staaten weniger Flüchtlinge eintreffen und verschafft so all jenen Regierungen eine Atempause, die öffentlich stark unter Druck geraten waren, darunter die Berliner Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel. Auch das Schengener Abkommen erhält so eine Gnadenfrist: Die dauerhafte Rückkehr zu Grenzkontrollen innerhalb der EU ist immerhin vorerst abgewendet worden - und damit eine ökonomisch empfindliche und symbolisch schwerwiegende Niederlage. Europas Wirtschaft basiert auf ungehindertem Warenverkehr, und die Bewegungsfreiheit seiner Bürger steht wie kaum etwas anderes für die Einigung des Kontinents.

Doch wie lange dieser Aufschub währt, ist offen. Denn das Abkommen droht an den gleichen nationalistischen Fliehkräften zu zerbrechen, die es zunächst überhaupt nötig gemacht hatten - und die auch bei den anderen drängenden Fragen an der Statik des europäischen Hauses zerren. Gelingt es der EU daher nicht, die gekaufte Zeit für tragfähige Lösungen zu nutzen, könnte 2016 den Anfang vom Ende des vereinten Europas einläuten.


Das humanitäre Scheitern

Dessen humanitärer Anspruch hat allerdings schon jetzt massiv gelitten. Denn die Leidtragenden des Türkei-Abkommens sind einmal mehr die Flüchtlinge. Menschen, die der Hölle des syrischen Bürgerkriegs entronnen sind und ihr Leben bei der Überquerung des Mittelmeers riskiert haben, werden nun in die Türkei transportiert - im Austausch für eine gleiche Zahl Syrer, die dort bereits in Lagern leben. Allein um Nachahmer abzuschrecken, werden also alle Flüchtlinge, die jetzt noch nach Griechenland übersetzen, zu illegalen Einwanderern erklärt. Aus den sogenannten Hotspots sind damit de facto Gefangenenlager geworden, weshalb sich das UNHCR weigert, dort weiter tätig zu sein.

Von einer individuellen Prüfung des Asylantrags kann in diesen Einrichtungen keine Rede mehr sein: Human Rights Watch berichtet von Entscheidungen im Schnellverfahren, bei denen "Menschenrechte auf der Strecke" bleiben.[2] Obendrein gilt das Abkommen nur für Syrer, deren angemessene Versorgung die Türkei gegenüber Brüssel zugesichert hat - doch selbst die ist nicht garantiert: Amnesty International spricht von Abschiebungen ins Kriegsgebiet. Schutzsuchende aus Afghanistan oder dem Irak wiederum sind umso mehr einer Regierung ausgeliefert, deren Menschenrechtsverletzungen bekannt sind. Die Türkei ist kaum jener sichere Drittstaat, als der sie eingestuft worden ist.[3] Folglich verharren auch viele Syrer lieber unter den unwürdigen Bedingungen in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze, als den Zusicherungen Ankaras zu vertrauen.

Die ursprünglich von der Bundesregierung favorisierte Lösung sah vor, die Flüchtlinge von den Hotspots aus in der EU zu verteilen. Zwar hatte auch dieser Plan massive Schwächen: Den Flüchtlingen wäre die gefährliche Überfahrt nicht erspart geblieben und sie wären möglicherweise einem Land zugewiesen worden, das sie selbst nicht angesteuert hätten (etwa weil sie anderswo auf familiäre Netzwerke zurückgreifen könnten). Dennoch wäre unter diesen Bedingungen die Abschottung der EU nicht so radikal ausgefallen wie jetzt. Außerdem hätte die Regelung nicht nur für Syrer gegolten.


An der Festung bauen

Aber selbst diese unvollkommene Lösung scheiterte an der Blockade einzelner EU-Mitglieder, allen voran der Viségrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei. Insbesondere Budapest und Bratislava verwahrten sich schon im Herbst 2015 lautstark gegen jegliche Quotenregelung. Später plädierten auch die Staaten entlang der Westbalkanroute sowie Österreich deutlich für Abschottung. In Wien erklärte die damalige konservative Innenministerin Johanna Mikl-Leitner unverblümt: "Wir müssen aus Europa eine Festung machen. Und jetzt bauen wir bereits an dieser Festung."[4] Ganz auf dieser Linie plant ihre Regierung selbst noch nach Unterzeichnung des Türkei-Abkommens eine Barriere am Brenner in Richtung Italien. Damit soll eine mögliche Ausweichroute der Flüchtlinge vorsorglich geschlossen werden - selbst wenn Rom protestiert.

Angesichts dessen ist das jetzige Abkommen tatsächlich eben jener Minimalkompromiss, den die EU momentan erreichen konnte - und er geht eindeutig zu Lasten der Flüchtlinge. Zugleich bietet er keine dauerhafte Lösung, denn diese inhumane Regelung dürfte schlicht nicht funktionieren. So gibt es längst - ungleich gefährlichere - Ausweichrouten, weswegen Brüssel schon die nächsten noch fragwürdigeren Abkommen vorbereitet, unter anderem mit dem failed state Libyen und offenbar sogar mit Diktaturen wie Eritrea und dem Sudan.[5]

Die eigentliche politische Bewährungsprobe betrifft jedoch das Kernstück des Abkommens. Für 72 abgeschobene Syrer sollen ebenso viele aus der Türkei in die EU geholt und dort verteilt werden. Diese Zahl ist jedoch bei weitem zu niedrig. Die UNO etwa drängt den Westen darauf, mindestens zehn Prozent all jener Flüchtlinge aufzunehmen, die in den Nachbarländern Syriens Zuflucht genommen haben - das wären derzeit 480 Menschen. Zugleich liegen mit dem geplanten Austausch genau jene Quoten wieder auf dem Tisch, gegen die vor allem die Viségrad-Staaten Sturm gelaufen waren. Damit zeichnet sich neuer Streit ab. Um handlungsfähig zu bleiben, muss die EU daher endlich die Lähmung durch nationale Egoismen überwinden. Letztere verhindern nicht nur einen humanitären Umgang mit Flüchtlingen, sondern sie stehen auch hinter den meisten aktuellen Krisen der Union. Abwendung von Europa

Das beginnt beim ökonomischen Nationalismus, dem zentralen politischen Übel in der Eurokrise. Und hier ist Deutschland die treibende Kraft. So verhindert die Bundesregierung seit 2010 sämtliche Ansätze einer europäischen Wirtschaftspolitik, die allen Euro-Mitgliedern nutzen könnte. Zuletzt hat ihre starre Ablehnung eines Schuldenschnitts für Griechenland zu einem Konflikt mit dem IWF geführt, den von WikiLeaks veröffentlichte Telefongespräche zwischen Mitarbeitern des Fonds offenlegten. So drängt der IWF auf Schuldenerleichterungen für Athen und droht andernfalls gar mit dem Rückzug aus der Gläubigergruppe. Beides will Merkel schon aus innenpolitischen Gründen unbedingt vermeiden: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte zwar den IWF als Sparkommissar an Bord haben, aber gleichzeitig die griechischen Verbindlichkeiten nicht angetastet sehen. In der Uneinigkeit der Gläubiger wiederum sieht der griechische Premierminister Alexis Tsipras die willkommene Gelegenheit, die Kreditauflagen erneut zu politisieren - zumal er in der Flüchtlingsfrage gebraucht wird. Damit sind alle Zutaten für eine Neuauflage des vorletzten großen europäischen Dramas beisammen.[6] Und das nächste Drama wartet schon in Gestalt des Brexit-Referendums am 23. Juni. Viele britische EU-Gegner wollen die nationale Souveränität gleich zweifach verteidigen - gegen Brüssel und gegen die Zuwanderer.[7] Doch obschon nicht alle Brexitbefürworter rechte Nationalisten sind, wäre ein Austritt Großbritanniens doch eine spektakuläre Abwendung vom vereinten Europa.

Anderswo wird diese schon längst forciert betrieben, etwa in den Viségrad-Staaten. Dort basiert sie auf einem gefährlichen Mix aus völkischem Nationalismus und innenpolitischem Opportunismus. Die slowakische Regierung etwa spiegelt mit ihrer Weigerung, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, die überwiegende Stimmung in der Bevölkerung. Illiberal bleibt dieser Schritt trotzdem. Mit gutem Grund sind Minderheitenrechte in Europa vor dem Mehrheitswillen geschützt, das gebietet schon die lange Verfolgungsgeschichte des Kontinents. Da die Slowakei die EU-Grundrechtecharta unterzeichnet hat, ist sie an das dort niedergelegte Verbot religiöser Diskriminierung gebunden - und zwar unabhängig davon, ob ihre Bürger es befürworten oder nicht.

Ohnehin beugen sich vor allem die Nationalkonservativen in Polen und Ungarn nicht einfach dem Mehrheitswillen ihrer Bevölkerung. Ihre Opposition gegen die EU-Flüchtlingspolitik ist prinzipieller Natur und wurzelt in der Ablehnung zentraler europäischer Vorstellungen - von der Gewaltenteilung bis zur gesellschaftlichen Vielfalt. Wie anders soll man die Ankündigung des ungarischen Premierministers Viktor Orbán von Anfang April verstehen, er akzeptiere nach wie vor kein Flüchtlingskontingent für sein Land und werde daher Mitstreiter für den "Kampf gegen Brüssel" suchen?[8] Schließlich sind die Kontingente ein entscheidender Bestandteil des EU-Türkei-Abkommens. Denn auch das in manchen europäischen Hauptstädten als zu liberal geschmähte Deutschland möchte die Zahl der Ankommenden verringert sehen. Italien und Griechenland wiederum lehnen es zu Recht ab, dauerhaft als Puffer für aufnahmeunwillige Mittel- und Nordeuropäer zu dienen. Und Regierungen wie die französische, die mit einer erstarkenden Rechten leben müssen, wollen vermeiden, im eigenen Land als zu gastfreundlich zu gelten.


Die letzte Chance nutzen

Sollte Orbán also tatsächlich eine Art Sperrminorität gegen die Quotenregelung organisieren können, wäre der mühsam errungene Burgfrieden schnell wieder dahin. Damit wäre erneut das Schengener Abkommen gefährdet. Die EU hätte sich zudem als handlungsunfähig erwiesen, und die Staaten würden endgültig alleine vorpreschen. Das würde die weitere Befestigung der innereuropäischen Grenzen bedeuten.

Dabei werden gerade die, teils noch immer umstrittenen, Grenzen in Südosteuropa nicht sicherer, wenn man sie abriegelt. Der große Verlierer beim Scheitern von Schengen aber wäre Griechenland, das schon jetzt massiv überfordert ist. Mit einem kaputtgesparten Sozialstaat und immens hoher Arbeitslosigkeit kann das Land unmöglich zehntausende Flüchtlinge beherbergen. Genau dies würde es dann aber endgültig tun müssen: Seine ausgedehnte Seegrenze kann Athen nicht abriegeln, gleichzeitig wäre den Flüchtlingen der Weg nach Norden versperrt. Griechenland würde zu eben jenem "Lagerhaus der Seelen", vor dem Alexis Tsipras so oft warnt. Heftige innenpolitische Konflikte wären die Folge.

Umso wichtiger ist, dass die EU nun endlich eine langfristige Lösung im Umgang mit flüchtenden Menschen findet. Der EU-Kommission schwebt eine europäische Asylbehörde vor, die sich im Zweifel gegen die Nationalstaaten durchsetzen kann. Jedoch wurde dieser Vorschlag nach ablehnenden Reaktionen einzelner Regierungen schnell auf die lange Bank geschoben. Stattdessen soll nun das Dublin-Abkommen modifiziert werden. Gemäß dieser Vereinbarung muss ein Flüchtling dort Asyl beantragen, wo er zuerst EU-Boden betritt - also zumeist in Griechenland oder Italien. Insbesondere Rom lehnt dieses System aus gutem Grund entschieden ab. Premierminister Matteo Renzi forderte jüngst unmissverständlich: "Die Dublin-Regeln [...] müssen dringend geändert werden, wenn wir das europäische Projekt retten wollen."[9]

Brüssel will das Abkommen daher entschärfen: Entweder soll bei großem Andrang ein Teil der Flüchtlinge von anderen EU-Staaten aufgenommen werden, oder die Neuankömmlinge werden automatisch verteilt, unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse wie die Nähe zu Verwandten.

All diese Vorstellungen greifen aus zwei Gründen zu kurz: Erstens müssen die Schutzsuchenden weiterhin das Mittelmeer überqueren; das Sterben dort würde also weitergehen. Zweitens scheut Brüssel davor zurück, Druckmittel gegen die Verhinderer einzusetzen, etwa in Form von Ausgleichszahlungen an aufnahmewillige Staaten. So ist die nächste Blockade nur eine Frage der Zeit.

Dann aber droht diesen Sommer eine gelähmte, innerlich zerrissene EU. Denn wird der Streit um die Flüchtlingsaufnahme zeitgleich mit einer erneuten Debatte um Austeritätspolitik geführt, dürften die bisherigen Bündnisse extrem belastet werden. Rom und Berlin etwa ziehen im ersten Fall noch einigermaßen an einem Strang, im zweiten zerren sie in verschiedene Richtungen. Ein möglicher Brexit käme da als Schock zur Unzeit. Gelingt es also nicht, die nationalen Egoismen in der Flüchtlingskrise zu überwinden, könnte die von Jean-Claude Juncker beschworene "letzte Chance" der EU tatsächlich vertan werden.


Anmerkungen:

[1] Vgl. das Interview mit EU-Kommissar Pierre Moscovici, in: "die tageszeitung", 17.2.2016.

[2] So Wenzel Michalski von HRW Deutschland im Interview mit www.tagesschau.de, 4.4.2016.

[3] Vgl. den Beitrag von Jürgen Gottschlich in diesem Heft.

[4] Vgl. Ralf Borchard, Warum Mikl-Leitner ihr Amt aufgibt, www.tagesschau.de, 11.4.2016.

[5] Vgl. "Monitor"-Bericht, ARD vom 14.4.2016.

[6] Vgl. Peter Spiegel, Why Greece and bailout monitors are at loggerheads again, in: "Financial Times", 15.4.2016.

[7] Vgl. Michael Krätke, Brexit: Raus aus dem "EU-Gefängnis", in: "Blätter", 4/2016, S. 17-20.

[8] Vgl. "Süddeutsche Zeitung", 9.4.2016.

[9] Vgl. Matteo Renzi, Europe isn't working for this generation, in: "The Guardian", 21.1.2016.

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Quelle:
Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2016, S. 5 - 8
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2016

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