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INNEN/512: Neue EU-Agenda zur "besseren Rechtsetzung" (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2015
Kreislaufwirtschaft
Ist Recycling eine Illusion?

Neue EU-Agenda zur "besseren Rechtsetzung"

Intelligente Rechtsetzung statt Deregulierung?

von Bjela Vossen


Durch ihre neue Agenda zur "Besseren Rechtsetzung" will die EU-Kommission die Hürden für Veränderungen an Richtlinien und Verordnungen durch das EU-Parlament und den EU-Ministerrat erhöhen und die beiden Institutionen an ihre zehn Prioritäten für Jobs, Wachstum und Wettbewerb binden. Umwelt-, VerbraucherInnen- und Sozialverbände sehen darin eine Entdemokratisierung der EU und eine Bedrohung für Umwelt und Gesundheit.


Am 19. Mai hat die EU-Kommission ihre Vorschläge zur "Besseren Rechtssetzung" vorgestellt. Das Paket umfasst auch eine interinstitutionelle Vereinbarung, die vom Ministerrat und vom EU-Parlament bis zum Herbst verhandelt wird. Mit dieser Vereinbarung will die EU-Kommission den Ministerrat und das EU-Parlament auf eine gemeinsame Schwerpunktsetzung für mehr Jobs, Wachstum und Wettbewerb festlegen. Nach dem Willen der EU-Kommission sollen sich dadurch die Mitgliedstaaten und EU-Abgeordneten zu den zehn Prioritäten von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verpflichten. Eine nachhaltige Entwicklung Europas, Umweltschutz oder die Gesundheit der EuropäerInnen gehören nicht zu diesen Prioritäten.

Zwar hat die EU-Kommission auf Druck des EU-Parlaments und der Umweltverbände die Verantwortlichkeit für nachhaltige Entwicklung nachträglich in den Arbeitsauftrag des obersten Vizepräsidenten der Kommission aufgenommen, die Prioritäten von Jean-Claude Juncker blieben aber unverändert. Diese präsentierte er dem Parlament am 15. Juli 2014, nur 18 Tage nachdem die Staats- und Regierungschefs ihn als Spitzenkandidaten der christlich-demokratischen, konservativen Europäischen Volkspartei als Kommissionspräsidenten bestätigt hatten. Auf die Schnelle entwickelte Juncker die Prioritäten im Dialog mit den politischen Gruppen des Europaparlaments. Sie waren aber nie Gegenstand demokratischer Verhandlungsprozesse. Auch ist es nicht Aufgabe der Kommission, die Prioritäten und politischen Leitlinien der EU festzulegen. Laut dem Lissabonvertrag ist der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs das oberste Gremium der EU. Er darf zwar keine rechtlich verbindlichen Beschlüsse fassen, besitzt aber ein Weisungsrecht.

Junckers zehn Prioritäten reduzieren den Begriff Umwelt auf Klimaund Energiepolitik - und deklassieren alle übrigen Umweltthemen als "kleine Dinge", um die sich die EU nicht vorrangig kümmern müsse. Gerade das Parlament und der Umweltministerrat haben in der letzten Legislaturperiode vehement für das siebte Umweltaktionsprogramm, das Arbeitsprogramm der EU im Umweltbereich, gestritten. Da dieses Programm für alle Institutionen verbindlich ist, muss die Kommission es zur Leitlinie ihrer Umweltpolitik machen. Deswegen dürfen Junckers politische Prioritäten in der jetzigen Form nicht als Grundlage der interinstitutionellen Vereinbarung dienen.


Deregulierung nach Wunsch der Wirtschaft

Auch wenn der erste Vizepräsident der Kommission Frans Timmermans behauptet, dass das Paket der besseren Rechtsetzung und nicht der Deregulierung dienen soll, sprechen viele Indizien gegen diese Aussage. Denn Kommission, Rat und Parlament sollen laut der interinstitutionellen Vereinbarung gemeinsam darauf hinarbeiten, "auch bestehende Rechtsvorschriften zu aktualisieren und zu vereinfachen und unnötigen Regelungsaufwand für Unternehmen, Verwaltungen und BürgerInnen zu reduzieren." Die Kommission wählt - auf Grundlage der zehn Prioritäten von Juncker - die Rechtsvorschriften aus, die vereinfacht und verschlankt werden sollen. Auch wenn Rat und Parlament sich nicht zu der interinstitutionellen Vereinbarung verpflichten sollten, kann die Kommission dann als Filter für mehr Jobs, Wachstum und Wettbewerb fungieren. Alle bestehenden Gesetzgebungen, die der Wirtschaft in Europa - und nach dem Abschluss vom EU-USA-Freihandelsabkommen TTIP auch der Wirtschaft in den USA - nicht passen, kann die Kommission dann aufschnüren und wirtschaftsfreundlich gestalten. Gefährdet sind insbesondere die Gesetzgebungen, die dem Umwelt- und VerbraucherInnenschutz, den Sozialstandards sowie dem Vorsorgeprinzip der EU dienen.


Machtverlust für das EU-Parlament

Die interinstitutionelle Vereinbarung führt zu einem Machtverlust des Europäischen Parlaments - der einzigen demokratisch legitimierten Institution der EU. Beispielsweise will die Kommission eine neue Folgenabschätzung einführen. Damit will sie verhindern, dass Rat und Parlament weitreichende Änderungsvorschläge - etwa für mehr Umwelt-, VerbraucherInnen- oder Sozialstandards - im Gesetzgebungsprozess machen, die der Agenda von Jobs, Wachstum und Wettbewerb entgegenstehen könnten.

Außerdem soll der geplante Ausschuss für Regulierungskontrolle noch vor dem Gesetzgebungsprozess weitreichende Mitsprache bei Folgenabschätzungen und bei der Begutachtung existierender Richtlinien haben. Die Machtfülle dieses sechsköpfigen Ausschusses, der keine demokratische Legitimation besitzt, bereitet nicht nur den deutschen Umweltverbänden Sorgen. Auch wenn der Ausschuss mit Personen besetzt werden soll, die keine Interessenskonflikte haben, darf es nicht sein, dass er über seine beratende Funktion hinaus zu Entscheidungen befähigt wird.


Neue Strukturen für Wirtschaftslobbyisten...

Das Kommissionspaket zur "Besseren Rechtsetzung" führt neben der öffentlichen Konsultation per Internet ein neues Verfahren zur Konsultation von InteressensvertreterInnen ein. Nachdem die Kommission ihren Vorschlag und die zugehörige Folgenabschätzung angenommen hat, erhalten diese Gelegenheit, innerhalb von acht Wochen dazu Stellung zu nehmen. Darüber hinaus will die Kommission eine neue Internetseite mit dem Titel "Lighten the Load - Have Your Say" einrichten. Dadurch soll jedeR InteressensvertreterIn - zusätzlich zu den Konsultationen - die Möglichkeit haben, ihre oder seine Meinung über bestehende Gesetzgebungen zu äußern: "Was sie stört, was sie zu aufwändig finden oder was ihrer Meinung nach verbessert werden muss." Die neue "REFIT-Plattform" soll die Vorschläge zur Verringerung des Regelungsaufwands sammeln, bewerten und sich zudem um "Vorschläge zur Verringerung der Verwaltungslast in Bereichen von besonderem Interesse bemühen". Das besondere Interesse ist folgerichtig durch Junckers Prioritäten von Jobs, Wachstum und Wettbewerb definiert. Da es in Brüssel zwanzigmal so viele IndustrielobbyistInnen wie UmweltlobbyistInnen gibt, ist das ein willkommenes Einfallstor für die Wirtschaft, an der Aufweichung bestehender Umweltgesetzgebungen und anderen "störenden" Gesetzesvorschriften zu arbeiten.


...unter dem Deckmantel von Transparenz

Diese neuen Mechanismen werden unter dem Deckmantel einer "verbesserten Transparenz" eingeführt. Sie ähneln den "bewährten Regelungsverfahren", wie sie von den USA in den TTIP-Verhandlungen vorgeschlagen wurden. Im vorauseilenden Gehorsam führt die Kommission nun ähnliche Verfahren ein, mit denen die Industrie ihre Gesetze selbst schreiben oder zumindest stark beeinflussen oder verzögern kann. Allerdings sind diese Mechanismen nicht Bestandteil der interinstitutionellen Vereinbarung, dem einzigen Dokument des Pakets zur "Besseren Rechtsetzung", das zwischen Rat, Kommission und Parlament verhandelt werden muss.

Darüber hinaus will die Kommission verhindern, dass Mitgliedstaaten Richtlinien ambitionierter in nationales Recht umsetzen und dadurch zusätzliche Kosten für die Wirtschaft entstehen könnten. Deshalb sind die Mitgliedstaaten zu einer direkten Umsetzung angehalten und müssen gegebenenfalls eine Folgenabschätzung über den Verwaltungsaufwand für Unternehmen, Verwaltungen und BürgerInnen durchführen und ihre Entscheidung begründen.


Vertrauenswürdige Zusammenarbeit sieht anders aus

Dass die neue EU-Kommission mit ihrem Verhalten die Grenzen der EU-Verträge testet, sehen nicht nur Umweltverbände kritisch. Bisher scheint die Kommission das Urteil C-409/13 des Gerichtshofs der EU (EuGH) zu den interinstitutionellen Beziehungen zu ignorieren. Das oberste Gericht der EU hatte am 14. April 2015 festgestellt, dass die Kommission nicht einfach einen Vorschlag zurückziehen darf, nur weil sich dessen Inhalt im weiteren Gesetzgebungsprozess durch Änderungen von Rat und Parlament zu weit von ihrem ursprünglichen Vorschlag entfernt hat. Dieses Vorgehen ist zwar laut dem Urteil möglich, die Kommission muss jedoch "im Sinne vertrauenswürdiger Zusammenarbeit" die Bedenken von Rat und Parlament, die zu den Änderungen geführt haben, berücksichtigen.

Rat und EU-Parlament dürfen nicht tatenlos zusehen, wie die Kommission ihre Machtkompetenzen ausweitet und ihre Deregulierungsagenda durchsetzt - auf Kosten des Vorsorgeprinzips, des Umwelt- und Gesundheitsschutzes und der Sozialstandards in Europa. Die EU-Politik darf nicht nur die Wirtschaft im Blick haben. Europäische Deregulierungsbemühungen auf Kosten der Belange der BürgerInnen werden den Europaskeptizismus verstärken.


Die Autorin ist Leiterin der EU-Koordination des Deutschen Naturschutzrings (DNR) und Vizepräsidentin des Europäischen Umweltbüros (EEB).

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2015, S. 26-27
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2015

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