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INNEN/499: Menetekel für die Volksparteien - Anmerkungen zur Europawahl (spw)


spw - Ausgabe 3/2014 - Heft 202
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Menetekel für die Volksparteien?
Sechs Anmerkungen zur Europawahl vom 25. Mai 2014

von Gerd Mielke



Erstens

Die Kommentatoren waren sich auch diesmal einig: Ergebnisse von Europawahlen sind nicht einfach zu interpretieren - vor allem wenn man nicht besonders gut abgeschnitten hat. Auf der einen Seite fließen Faktoren in sie ein, die in dieser Kombination bei keiner anderen Wahl auf Bundes-, Landes- oder kommunaler Ebene wirksam werden und die Europawahlen zu einer "Second-Order-Election" ganz besonderer Art machen. Die seit der ersten Europawahl 1979 immer wieder geäußerte Einschätzung, die Arbeit des Europaparlaments sei weniger wichtig als die Arbeit des Bundestags, eines Landes- oder auch Gemeindeparlaments, hat sich 2014 zwar leicht abgeschwächt, aber mit Europawahlen ist noch immer eine deutlich niedrigere Wahlbeteiligung als bei Bundestags- oder Landtagswahlen verbunden. Zudem lässt die Zuschreibung eher nachrangiger Bedeutung des Europaparlaments einige Aspekte hervortreten, die bei anderen Wahlen eher eine untergeordnete Rolle spielen: Die Wählerinnen und Wähler geben sich experimentierfreudiger, sie verteilen bereitwilliger Denkzettel, und sie neigen eher dazu, Unzufriedenheit und Protest mit ihren Stimmzetteln zum Ausdruck zu bringen.

Auf der anderen Seite sind die Europawahlen mit all diesen Eigentümlichkeiten gleichwohl in die nationalen Parteien- und Wählerlandschaften eingelagert, und die spezifischen Mixturen von "Second-Order-Election"-Effekten werden in empirischen Studien zur Wahlbeteiligung, Demokratiezufriedenheit oder zum politischen Interesse und anderen Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens schon seit langem systematisch beobachtet. Deshalb sollte man die These, "Rückschlüsse von Europawahlen auf die nationale Ebene" seien ... "nicht tragfähig"(1), dahingehend modifizieren, dass die Faktoren, die die Europawahlen prägen, auch bei anderen Wahlen wirksam sind, wenn auch in anderer Mixtur und mit anderer Intensität. Mithin sind wegen der unterschiedlichen Niveaus in den Wahlbeteiligungen, wegen gegenüber Bundestags- oder Landtagswahlen veränderten Medien- und Kommunikationsbedingungen Europawahlkämpfe im Blick auf die angemessenen Framing- und Agenda-Setting-Strategien zumeist recht anspruchsvolle Projekte.

Zweitens

Die Wahlkämpfe beider großen Parteien in der Bundesrepublik waren gezielt darauf angelegt, die enge Verquickung von europäischer und nationaler Politik hervorzuheben. Dabei spielte für die Ausgestaltung der Kampagnen die gute Wirtschaftslage der Bundesrepublik im Vergleich zu den meisten anderen EU-Mitgliedsländern ebenso eine zentrale Rolle, wie auch die mehr oder minder offen angesprochene Führungsrolle der Bundesrepublik bei den Versuchen, die Euro-Krise und ihre Folgen vor allem in Südeuropa einzudämmen und politisch zu kontrollieren. Daraus ergaben sich für die Union und die SPD allerdings unterschiedliche Strategien. So rückte die CDU folgerichtig die Bundeskanzlerin als Hüterin der deutschen Vorbildrolle in das Zentrum ihrer Kampagne. Damit konnte sie die Leitmelodie des erfolgreichen Bundestagswahlkampfes 2013 aufgreifen und im übrigen darauf hoffen, dass sie auch diesmal von dem durch höheres Lebensalter, höhere Bildung und den gehobenen Sozialstatus ihrer potentiellen Anhängerschaft ausgelösten Wahlbeteiligungsvorteil würde profitieren können.

Aber auch die SPD bemühte sich, mit Martin Schulz, dem Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten, zumindest im deutschen Wahlkampfkontext etwas verschämt die nationale Karte auszuspielen. Allerdings, der Umstand, dass die Bundesrepublik - im Gegensatz zu fast allen anderen EU-Staaten - ohne große wirtschaftliche und soziale Schäden durch die letzten Krisenjahre gekommen war und sich in einigen Bereichen sogar als ökonomische Nutznießerin profilieren konnte, erschwerte die Entwicklung einer kritischen oder gar polemischen Alternative zur Position der Union bzw. der Bundeskanzlerin in der Europapolitik. Hinzu kam, dass das Pulver der sozialdemokratischen Kampagne durch die Bildung der Großen Koalition nach der Bundestagswahl und - davor noch - die weitgehende Zustimmung der SPD zu Angela Merkels Maßnahmen zur Krisenbewältigung schon etwas feucht geworden war und man folglich keine scharfen Schüsse gegen die Union abfeuern konnte.

Drittens

Die Ergebnisse der Europawahl vom 25. Mai 2014 spiegeln für die Bundesrepublik Deutschland gleich mehrere politische Konstellationen und Entwicklungen wider. Einige sind seit langem vertraute, oft wiederkehrende Aspekte von Europawahlen, andere verweisen auf neue, unter Umständen tief greifende Entwicklungen sowohl in der deutschen Wählerschaft als auch im deutschen Parteienspektrum.

Bei einer leicht angestiegenen Wahlbeteiligung von 48,1 Prozent erwies sich wie schon in allen anderen Europawahlen seit 1979 auch diesmal die CDU/CSU mit insgesamt 35,3 Prozent als stärkste Partei; allerdings streuten die Wahlergebnisse der Union beträchtlich. Bei einem leichten Gesamtverlust von 2,6 Prozentpunkten konnte die CDU etwa in Brandenburg ihren Stimmenanteil um 2,5 Prozentpunkte steigern; hingegen büßte die CDU in Hessen 5,8 Prozentpunkte ein, und in Bayern musste die CSU mit einem Einbruch von 7,6 Prozentpunkten gar die stärksten Verluste hinnehmen. Die Sozialdemokraten erzielten als zweitstärkste politische Kraft mit 27,3 Prozent einen deutlich geringeren Stimmenanteil; gegenüber dem katastrophalen Ergebnis von 20,8 Prozent bei der letzten Europawahl entsprach dies jedoch einem Gesamtzuwachs von 6,5 Prozentpunkten. Die Zuwachsraten der SPD in den Ländern wiesen eine relativ geringe Streuung auf; die höchsten Gewinne erzielten die Sozialdemokraten in Hamburg und Nordrhein-Westfalen mit 8,4 bzw. 8,1 Prozentpunkten, am wenigsten legten sie in Sachsen-Anhalt und Thüringen mit 3,6 bzw. 2,7 Prozentpunkten zu.

Sehr stabil im Vergleich zur Europawahl 2009 waren die Ergebnisse der Grünen und der Linken, die Stimmanteile von 10,7 Prozent und 7,4 Prozent erreichten. Große, ja teilweise dramatische Verschiebungen ergaben sich hingegen für die FDP und die AfD, die erstmals bei einer Europawahl antrat. Während die Liberalen nur auf 3,4 Prozent kamen und somit gegenüber 2009 einen Schwund von 7,6 Prozentpunkten vermeldeten, konnte die AfD aus dem Stand einen Stimmenanteil von 7,0 Prozent verbuchen. Dabei fiel das Ergebnis für die AfD in den neuen Ländern mit 8,3 Prozent deutlich besser aus als in der alten Bundesrepublik mit 6,8 Prozent.

Diese Einzelbefunde verdichten sich zu Bildern des deutschen Wählermarktes im Wandel. Zunächst bestätigen sie in wesentlichen Teilen die (partei-) politischen Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik, die sich sowohl durch die Ergebnisse der Bundestagswahl vom vergangenen Herbst als auch in den Umfragen des letzten Jahres gezeigt haben. Die SPD erscheint hier als eine Partei, die selbst unter ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen auf der Bundesebene deutlich unterhalb der magischen 30-Prozent-Schwelle verbleibt. Sei es bei einer Bundestagswahl mit ihrer hohen Wahlbeteiligung, sei es bei der Europawahl mit ihrer geringen Mobilisierung oder sei es in repräsentativen demoskopischen Umfragen: In jeweils ganz unterschiedlich zusammengesetzten - "realen" oder auch nur in repräsentativen Stichproben erzeugten, "hypothetischen" - Wählerschaften bleiben die Sozialdemokraten auf das Format einer geschrumpften "Großpartei" festgelegt.

Demgegenüber nimmt die Union auch bei dieser Europawahl ganz unangefochten die Position der stärksten Partei in der Bundesrepublik ein. Allerdings sollte das Bild der Union in zweierlei Hinsicht ergänzt werden. Die Dominanz im deutschen Parteienspektrum hat die Union zum einen ganz wesentlich - auch jetzt bei der Europawahl - durch eine Rückgewinnung vormaliger FDP-Anhänger verteidigen können. Die Liberalen selbst sind derzeit im deutschen Parteiensystem marginalisiert worden. Diese Integration der vormaligen FDP-Wähler in die Union hat den Umstand überdeckt, dass die CDU/CSU mit dem Aufkommen der AfD erstmals seit der deutschen Vereinigung mit einer Herausforderung auf der bürgerlich-konservativen Seite konfrontiert worden ist und sowohl bei der Bundestagswahl 2013 als auch jetzt bei der Europawahl beträchtlich Stimmen an die AfD verloren hat.

Gruppiert man in einem zweiten Schritt auch für die Europawahl die hier zunächst einzeln betrachteten Parteien nach politisch-ideologischen Lagern, so wird eine bemerkenswerte Verschiebung der Dynamik im deutschen Parteiensystem offenkundig. Während sich gegenüber 2009 eine ziemliche Stabilität in den numerischen Kräfteverhältnissen im eher linken Lager aus SPD, Grünen und Linken ergibt, kann man heuer im eher bürgerlich-konservativen Lager aus CDU/CSU, FDP und der AfD markante Veränderungen der Stimmengewichte beobachten. Die so genannte Volatilität, gemeinhin gemessen durch die Summe der Veränderungen bei den Stimmanteilen der Parteien zwischen zwei Wahlen, ist im bürgerlich-konservativen Lager zwischen den Europawahlen 2009 und 2014 mehr als doppelt so hoch wie im linken Lager. Dies ist insofern durchaus bemerkenswert, als während der Jahre davor in der Bundesrepublik sich in aller Regel politische Verschiebungen eher im linken Lager vollzogen haben. Der elektorale Niedergang der SPD, der gleichzeitige Aufstieg der Linken und dazu das Erstarken der Grünen: all diese Umgruppierungen innerhalb des linken Lagers werden nunmehr, auch sichtbar in den Wahlergebnissen von 25. Mai 2014, ergänzt durch tektonische Verschiebungen auf der anderen Seite des ideologischen Spektrums. Dabei stehen der abermalige Kollaps der Liberalen und der Aufstieg der AfD im Mittelpunkt.

Viertens

Die Zuordnung der AfD zu den politisch-ideologischen Lagern ist nicht ganz so eindeutig, wie es die mediale Berichterstattung derzeit nahe legt. Die derzeit so populäre Einordnung in die Schublade "Rechtspopulismus" lässt einige Besonderheiten außer Acht. Auf der Ebene ihrer programmatischen Positionen und ihrer führenden Repräsentanten bietet die AfD überwiegend ein bürgerlich-konservatives Profil mit gelegentlichen populistischen Beiklängen an. Vor allem ihre Führungsriege hat bislang eine bemerkenswerte professionelle und habituelle Seriosität bewahrt. Auf der Ebene ihrer Anhänger - das zeigt eine Analyse des Wählermarktes vor der Europawahl im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung - kann die AfD einen recht weiten Kreis von Sympathisanten aus der ganzen Breite des Parteienspektrums ansprechen. Zumindest Teile der Sympathisanten auch eher linker Parteien können sich danach für die AfD erwärmen. Ganz offensichtlich ist die AfD mit ihrem Rekurs auf die guten alten DM-Zeiten und mit ihrer Protestattitüde für Denkzettelwähler unterschiedlichster parteipolitischer Verortung eine Option bei der Europawahl gewesen. Aber hypothetische Optionen und tatsächliche Stimmvergabe sind eben zweierlei: Betrachtet man die Wählerwanderungsbilanzen von Infratest dimap, die Wählerströme zwischen den Parteien zwischen der letzten Bundestagswahl und der Europawahl abzubilden versuchen, so zeichnet sich der bei weitem größte Zustrom zur AfD in West- wie auch in Ostdeutschland bei vormals im Unionsbereich angesiedelten Wählern ab.

Das Abschneiden der AfD wirft die bislang von der Union sorgfältig vermiedene, jedoch strategisch bedeutsame Frage auf: Hat sich hier, unter den günstigen Randbedingungen einer "Second-Order-Election", eine neue Partei Repräsentationslücken zunutze machen können, die in der Anhängerschaft der Unionsparteien während des letzten Jahrzehnts entstanden waren? Der Ausstieg aus der Atomenergie, Umbrüche im Frauen- und Familienbild, der Abschied von der Wehrpflicht, unvermittelte Öffnungen zu einer Einwanderungs- und Integrationspolitik, Annäherungen an die Sozialdemokraten und Grünen als Koalitionspartner - all diese, im medialen Diskurs eher beiläufig als nachholende Modernisierungen kommentierte Kurswechsel der CDU/CSU unter Angela Merkel sind ja zumindest für nicht unbeträchtliche Teile der Unionsanhängerschaft dramatische Zäsuren in der christdemokratischen Politikentwicklung. Oder etwas zugespitzt formuliert: Kaum einer der Gründe, die am Ende der Ära Kohl zur Stimmabgabe für die Union führen konnten, findet sich heute noch im Programmsortiment der Christdemokraten. Hinzu kommt, dass diese Zäsuren - ähnlich wie seinerzeit die Brüche in der sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatspolitik unter Gerhard Schröder und Franz Müntefering - nicht in einem diskursiven, auf Teilhabe der Parteien angelegten Prozess erfolgten, sondern von Merkel und ihren Gefolgsleuten als "alternativlos" von oben dekretiert worden sind: Basta-Politik à la CDU. So spricht einiges dafür, in der AfD durchaus nicht nur eine politische Eintagsfliege im unmittelbaren Kontext der Europawahl, sondern eine zumindest mittelfristige politische Bezugsgröße im bürgerlich-konservativen Wählerlager zu sehen. Die Europawahl ist eben nicht nur eine Nebenwahl; als Nebenwahl ist sie immer auch eine günstige Startrampe für neue Parteien.

Fünftens

Gerade weil die SPD ihren Wahlkampf ganz wesentlich auf Martin Schulz als Spitzenkandidaten ausgerichtet hatte und damit die Personalisierung ihrer Kampagne "europäischer" gestalten wollte als die wiederum auf die "deutsche" Bundeskanzlerin vertrauende Union, sollte man einen Blick auf das sozialdemokratische Abschneiden in einigen anderen europäischen Ländern werfen. Hier haben sich einige hoffnungsvolle Erwartungen nicht erfüllt.

So lag am Ende nicht nur die sozialdemokratische Fraktion im Europaparlament im Gesamtergebnis eindeutig hinter dem Bündnis aus Konservativen und Christdemokraten mit seinem Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker zurück und musste sich dann auch noch nolens volens für Juncker als Kommissionspräsident in die Schlacht werfen. Dass die neue Kommission zudem gewillt scheint, unter dem Motto "Freihandel, Liberalisierung und Reformen" ihren bisherigen Kurs systematisch auszubauen, steht in deutlichem Gegensatz zu sozialdemokratischen Hoffnungen vor der Wahl und bestätigt ihren Ruf als unbeugsamen Gralshüter des Wirtschaftsliberalismus.

Zwar schnitten einige sozialdemokratische Parteien in Europa wie in Bulgarien, Rumänien und natürlich vor allem in Italien erfolgreich ab, aber insgesamt hat die Europawahl 2014 mit zahlreichen, eher ernüchternden Ergebnissen für die sozialdemokratischen Schwesterparteien kaum die Hoffnung nähren können, die wirtschaftlichen und sozialen Krisen in weiten Teilen Europas führten zu einer Rückbesinnung auf die Segnungen und Perspektiven sozialdemokratischer Politik und zu einem Aufschwung sozialdemokratischer Parteien. Im Gegenteil: Betrachtet man frühere Hochburgen der (west) europäischen Sozialdemokratie so zeichnen sich besorgniserregende, ja teilweise dramatische Schwächen der sozialdemokratischen Parteien ab. In Schweden erzielen die Sozialdemokraten noch 24,4 Prozent, in Dänemark 19,1 Prozent, in den Niederlanden 9,4 Prozent - wobei die holländischen Sozialisten auch noch 9,6 Prozent erlangten -, und in Österreich lag die SPÖ bei 24,1 Prozent. In Frankreich kam die Partei von Präsident Hollande auf schmale 14 Prozent, und in Spanien fielen die Sozialdemokraten von starken 38,5 Prozent bei der letzten Europawahl 2009 auf diesmal nur noch 23 Prozent zurück. Im Vereinigten Königreich zeichnete sich ein Aufschwung ab, der weitgehend der deutschen Entwicklung glich. Nach dem trostlosen Abschneiden mit 15,3 Prozent bei der letzten Wahl, kam man diesmal auf 24,7 Prozent. Lediglich Italien bildete - wie schon gesagt - eine positive Ausnahme; hier stiegen die Sozialdemokraten unter ihrem neuen Führer Renzi von vormals 26,1 Prozent auf nunmehr 40,8 Prozent an.

Mögen in diese Ergebnisse auch erhebliche "Second-Order-Election"-Effekte einfließen, wie sie in den Wahlresultaten der französischen und britischen Rechtspopulisten zum Ausdruck kommen. In ihrer Summe legen sie den Schluss nahe, dass die Sozialdemokratie gerade in ihren traditionellen europäischen Hochburgen nach fast zwei Jahrzehnten politischer Experimente mit den unterschiedlichen Varianten des "Dritten Weges" nicht mehr - oder noch nicht wieder? - ein mehrheitlich attraktiver, selbstverständlicher politischer Bezugsrahmen in Zeiten gesellschaftlicher Krisen ist. Zwar scheint es wohl immer wieder möglich, wie die Wahlsiege der Sozialisten unter Hollande bei der letzten Präsidentschaftswahl in Frankreich und der Erfolg der Sozialdemokraten unter Renzi jetzt in Italien zeigen, mit der Beschwörung sozialdemokratischer Traditionen und den daraus erwachsenden Hoffnungen auf gerechtere Gesellschaften Wahlen zu gewinnen, vor allem wenn Gesellschaften mehr oder minder postdemokratische Regime wie die von Sarkozy oder Berlusconi erleben mussten. Aber zugleich wird auch deutlich, wie schwierig sich die Umsetzung sozialdemokratischer Projekte unter den Zwängen der derzeit vorherrschenden wirtschaftspolitischen Leitideen und im Gemäuer der finanz- und steuerpolitischen Architektur in der EU gestaltet, wie groß das Risiko für Sozialdemokratie ist, auf dem "Dritten Weg" geradewegs in der Sackgasse zu enden.

Sechstens

So hat die Europawahl 2014 - "Second-Order-Election" hin oder her - beiden deutschen Volksparteien eigentlich wenig verheißungsvolle Ergebnisse beschert. Beide - Union und SPD - haben auch diesmal wieder nur bescheidene Mobilisierungserfolge erringen können, auch wenn die Vorgeschichte der Wahl dafür eine gute Grundlage abgegeben hätte. In beiden Resultaten stecken für die deutschen Volksparteien zudem bedrohliche Komponenten. Die Union sieht sich nunmehr erstmals trotz ihrer Position als eindeutig stärkste nationale Partei von einer neuen, potentiell recht stabilen bürgerlich-konservativen Partei herausgefordert, die die Hegemonie der CDU/CSU im bürgerlich-konservativen Lager bedroht und einer christdemokratischen Standortbestimmung neue Schärfe verleiht. Man wird den kommenden Landtagswahlen nicht unbedingt optimistisch entgegenblicken. Die SPD hat in der Bundesrepublik zum wiederholten Mal die magische 30-Prozent-Grenze nicht überschritten. Das wird innerparteilich die Frage nach zukünftigen Bündnissen und Koalitionen auf nationaler Ebene nicht leichter machen. Die Sozialdemokratie hat zudem erfahren müssen, dass ihr Politik- und Personalangebot auch auf der europäischen Ebene trotz aller Bemühungen derzeit nur auf begrenzte Resonanz stößt. Die Hoffnung, die europäische Zukunft könnte auch mit einer Renaissance der Sozialdemokratie verbunden sein, hat am 25. Mai einen empfindlichen Dämpfer erfahren.


Dr. Gerd Mielke ist Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.



Anmerkungen

(1) So etwa bei: Viola Neu: Europawahl in Deutschland am 25. Mai 2014. Wahlanalyse. Konrad-Adenauer-Stiftung 2014, S.3.

(2) In diesem Sinne argumentiert das vor der Wahl für die Friedrich-Ebert-Stiftung erstellte Gutachten von Heiko Giebler: Partizipation und Parteiwahl bei der Europawahl 2009 in Deutschland: Nebenwahl oder einfach anders? Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin 2014.

(3) Marcel Lewandowsky: Alternative für Deutschland (AfD). A New Actor in the German Party System. International Policy Analysis. Friedrich-Ebert-Stiftung 2014.

(4) Aiko Wagner: Vor der Europawahl: Die Wähler in der Bundesrepublik. Forum empirische Sozialforschung. Konrad-Adenauer-Stiftung 2014, S. 35.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2014, Heft 202, Seite 17-22
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2014