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BEITRITT/109: Balkan - "Beitrittsangebot nicht länger attraktiv", Ressentiments gegen EU (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Februar 2011

Balkan: "Beitrittsangebot nicht länger attraktiv" - Ressentiments gegen EU

Von Vesna Peric Zimonjic


Belgrad, 24. Februar (IPS) - In den Balkanländern, die viele Jahre lang die Mitgliedschaft in der Europäischen Union als höchstes Ziel anstrebten, macht sich zunehmend EU-Verdrossenheit breit. Auslöser der Ressentiments sind andauernde wirtschaftliche Schwierigkeiten, geringe Fortschritte im Kampf gegen Korruption und Rückschläge beim Aufbau stabiler Regierungen.

"Das EU-Beitrittsangebot ist nicht mehr attraktiv", meint der serbische Wirtschaftsanalyst Misa Brkic mit Blick auf neue Untersuchungen, denen zufolge der Anteil der Serben, die der europäischen Staatengemeinschaft beitreten möchten, erstmals seit 2000 unter die 60-Prozent-Marke gerutscht ist.

"Die Menschen sind beunruhigt, die Regierung ist gleichgültig", so der Experte. "Serben wollen Jobs, soziale Sicherheit und Verbesserungen, die sie in nahe Zukunft nicht erkennen können. Was sie wohl sehen, sind unfähige Regierungen."


Vielfältige Probleme

Am 12. Februar fand in Serbien die größte Demonstration seit dem Sturz von Slobodan Milosevic vor nunmehr elf Jahren statt. Über 55.000 Menschen folgten dem Ruf der oppositionellen Serbischen Fortschrittspartei und gingen auf die Straße, um soziale Verbesserungen einzufordern. Die Redner auf der Demonstration verlangten Arbeitsplätze, ein soziales Sicherungsnetz für die Armen und das Ende der ausufernden Korruption.

Seit dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise 2008 sind in dem 7,4 Millionen Menschen zählenden Land 400.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Insgesamt haben 750.000 Serben keinen Job. Hinzu kommt der Wertverlust der lokalen Währung, der die Kaufkraft der Löhne von durchschnittlich 500 US-Dollar auf 300 Dollar gedrückt hat. Im Februar demonstrierten tausende Lehrer, Polizisten und die ehemaligen Mitarbeiter bankrott gegangener Unternehmen in Belgrad tagelang und forderten mehr Geld und bessere soziale Leistungen.

Ähnlich schwierig ist die Lage im benachbarten Kroatien. Das 4,4 Millionen Einwohner zählende Land ist der EU-Mitgliedschaft am nächsten. Sie soll bis spätestens Ende 2012 über die Bühne gegangen sein. Eine jüngste Umfrage zeigt jedoch, dass der Rückhalt für den EU-Beitritt auf einen vorläufigen Tiefpunkt von 49,4 Prozent gesunken ist. Nur ein Viertel der Befragten gab an, sich von einem solchen Schritt einen wirtschaftlichen Nutzen zu versprechen.

"Die Regierung versucht die Menschen zu überzeugen, dass der EU-Beitrtt die sofortige Lösung aller Probleme bedeutet", sagt der kroatische Wirtschaftsanalyst Zarko Modric gegenüber IPS. "Doch das dürfte im wirklichen Leben mit 350.000 Arbeitslosen und 70.000 Beschäftigten, die seit Monaten nicht bezahlt wurden, unmöglich sein. Wenn die Regierung von 'noch immer anstehenden schmerzhaften Reformen' spricht, interpretieren die Menschen die Ansage als Hinweis auf weitere Jobverluste in den ohnehin harten Zeiten."


EU-Mitgliedschaft hat einen Preis

Um den Mitgliedsprozess abzuschließen, müsste Kroatien eine wirklich schmerzhafte Maßnahme ergreifen. So hat die EU die Privatisierung von fünf Schiffswerften angemahnt, die mehr als 15.000 Menschen beschäftigen, die wiederum 20.000 Familienangehörige zu versorgen haben. Darüber hinaus würde der Verkauf der Werften die Arbeitsplätze von weiteren 10.000 Fabrikarbeitern gefährden, die den Werften zuarbeiten.

Kroatien ist zudem in einen Korruptionsskandal verwickelt. So wurde der ehemalige Ministerpräsident Ivo Sanader in Österreich unter dem Vorwurf festgenommen, über österreichische Konten Geld im Wert von mehreren Millionen Dollar gewaschen zu haben. Zwei weitere ehemalige Regierungschefs müssen ebenfalls wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht.

Die EU-Beitrittspläne von Bosnien-Herzegowina werden [sich] nicht so bald realisieren lassen. Dem Land, das aus der serbischen Teilrepublik Brcko und einer muslimischen Förderation Bosnien-Herzegowina besteht, ist es seit den Oktoberwahlen nicht gelungen, eine Zentralregierung aufzustellen. Der politische Stillstand ist das Ergebnis von Rivalitäten zwischen den beiden Entitäten und dem fehlenden Willen der serbischen Seite, Sarajevo als Zentralbehörde anzuerkennen. Ohne eine Regierung, die das Land nach außen vertritt, sind Fortschritte bei den EU-Beitragsplänen nicht zu erwarten.

Auch Albanien steckt in der Krise. Dort weigert sich die Opposition, die Ergebnisse der Parlamentswahlen von Juni 2009 anzuerkennen. Die Spannungen kochten im letzten Monat über, und Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten in der Hauptstadt Tirana forderten vier Menschenleben. Pläne über eine EU-Mitgliedschaft liegen erst mal auf Eis.

Im Kosovo ist es Hashim Thaci mit Ach und Krach gelungen, nach den Dezemberwahlen eine Koalitionsregierung auf die Beine zu stellen. Der bekannte Politiker wird in einem Bericht des EU-Parlamentariers Dick Mary jedoch mit dem organisierten Verbrechen und Organhandel in Verbindung gebracht. Auch wenn der Kosovo bisher wenig Interesse an einer EU-Mitgliedschaft zeigt, sind ausgerechnet dort stolze 87 Prozent der Bevölkerung für einen EU-Beitritt. (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2011