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AUSSEN/117: Die EU - Vorreiterin eines Erneuerungsprojektes? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009

Die EU: Vorreiterin eines Erneuerungsprojektes?
Der neue Regionalismus

Von Mario Telo


Ist Europa den Veränderungen auf globaler Ebene gewachsen? Die weltweite ökonomische Krise, das Aufkommen neuer asiatischer Giganten und die umfassenden Initiativen des US-Präsidenten bilden den Rahmen, in dem die Europäische Union ihr Profil schärfen muss. Das könnte durchaus gelingen, wenn einige Bedingungen erfüllt werden.


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Auf die Frage nach der künftigen Rolle der Europäischen Union finden sich in den Kommentaren der internationalen Medien und der wissenschaftlichen Literatur drei verschiedene Antworten.

Nach der ersten - eher amerikafreundlichen - These ist die EU in eine schwierige Lage geraten und wird keine Veränderung herbeiführen können, erst recht nicht in der Ära Obama. Denn die eigentlichen Entscheidungen finden nach dem "hub and spokes"-Schema um die USA herum statt: zu aller erst mit China, an zweiter Stelle im Dialog über nukleare Abrüstung mit Russland, an dritter Stelle durch die lateinamerikanische Initiative von April (die sogar den Dialog mit Kuba vorsieht), an vierter Stelle mit dem Verhandlungsangebot an den Iran und andere Konfliktparteien. Letztlich sei es gelungen, die leadership der USA wiederherzustellen, sozusagen wie in einer Katharsis nach acht Jahren Bush und zum Nachteil des von der EU nach 1989 gewonnenen Einflusses. Paradoxerweise hätte gerade die explizite Übernahme des multilateralen Ansatzes und der politischen und ökonomischen Orientierungen der EU durch den neuen Präsidenten Barack Obama - Orientierungen, mit denen sich die EU acht Jahre lang gegen den Unilateralismus der Regierung G. W. Bush gestellt hatte - zu einer Entleerung der europäischen politischen Identität geführt, die sich nunmehr als reaktiv und unspezifisch, als Antiidentität und nicht als positive und konstruktive enthüllen würde. Zudem würde Europa an Vertrauenswürdigkeit einbüßen, da es sich als unfähig erweise, mit Obamas Tempo mitzuhalten und auf dessen zwei zentrale Forderungen positiv zu reagieren: Einerseits die Forderung, mehr gegen die ökonomische Krise zu tun und die Staatshaushalte für einen energischen Wirtschaftsaufschwung einzusetzen (also 3 % des BIP und nicht nur 1,5% wie im Plan der EU-Kommission, die von Angela Merkel gebremst wird). Auf der anderen Seite steht die Reserviertheit gegenüber der Forderung nach mehr Truppen in Afghanistan, auch in den gefährlichen östlichen Gebieten, in denen die Taliban die Unterstützung der Bevölkerung genießen und ihre Hochburgen haben.

Wie viel Wahrheit steckt in dieser These? Tatsächlich ist Europa geteilt: Einige Regierungen betreiben eine Art Nabelschau; andere klammern sich an den Rockzipfel der G8, nostalgische Verteidiger einer vergangenen Zeit, in der sie überrepräsentiert waren (Berlusconi), verteidigen eine Aufteilung der Stimmen im Internationaler Währungsfonds, in der Belgien mehr zählt als Indien, oder kritisieren Obama für die "ausgestreckte, allzu ausgestreckte Hand zu den Gesprächspartnern", nachdem Europa zuvor die manichäische "Achse des Bösen" von Bush immer kritisiert hatte.

Sicher, es ist nicht mehr der Unipolarismus von G. W. Bush - der vielleicht für immer besiegt ist -, keine Neuauflage der Thesen über das "Imperium USA" (deren Autoren auf der Rechten wie der extremen Linken in sich gehen sollten), sondern eine realistischere und faszinierendere leadership der USA, die sich mit Obama durchsetzt - eine Führerschaft, die für Europa aufreibend ist und dessen Niedergang beschleunigt.


Das Jahrhundert Asiens und der BRIC-Staaten

Nach der zweiten These, die vor allem (aber nicht nur) in verschiedenen Schwellenländern kursiert, wird der Westen insgesamt nach der Finanzkrise und den Niederlagen im Irak und Afghanistan durch die politische und moralische Diskreditierung und den nachfolgenden Niedergang in Mitleidenschaft gezogen. Ein Vertrauensverlust der USA und der EU, der die Kräfteverhältnisse innerhalb der globalen governance in Richtung neuer ökonomischer Giganten und einer multipolaren Welt verschoben hätte. Nicht nur ist die G8 tot, sondern auch die G20 kann nur dank der Länder der südlichen Erdhalbkugel, vor allem Chinas, Indiens und Brasiliens, wirksam funktionieren. Das binnenwirtschaftliche Unterfangen Obamas ist fragil und hängt, wie die chinesischen Zeitungen in den Tagen des Besuchs von Hillary Clinton im Februar klargemacht haben, vom guten Willen des chinesischen Gläubigers ab. Die iranische Krise liegt in der Hand der Kooperation mit Russland; die koreanische in der Hand der Chinesen, dem Zünglein an der Waage bei den "Sechs-Parteien-Gesprächen", die israelisch-palästinensische hängt vom guten Willen der syrischen und iranischen Gesprächspartner ab. Auch in diesem zweiten Szenario, d.h. einer Neuanpassung der multipolaren balance of power, ist die EU zum Niedergang verurteilt, demografisch schwach, politisch geteilt, ohne militärische Macht und immer mehr an den Rand einer Welt gedrängt, deren Achse sich vom Atlantik zum Pazifik verschiebt. Das "asiatische Jahrhundert" des Buches von Montabani räumt nur noch den USA, wenngleich zurechtgestutzt, einen Platz ein.


Zwischen Understatement und neuen Ambitionen

Die dritte und mir plausibelste Art, Europas Rolle angesichts der außergewöhnlichen Herausforderungen für die globale governance zu sehen, besteht darin, die allmähliche und widersprüchliche, aber reale und unwiderrufliche Durchsetzung einer neuen europäischen Zivilmacht zur Kenntnis zu nehmen. Ein unaufdringliches aber wirkliches und authentisches Beispiel einer regionalen governance der Globalisierung, der es gelingt, mit der Welt um sich herum in Verbindung zu bleiben. Dies wird durch mehrere Fakten bestätigt:

Erstens: Es geht darum, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass der spektakuläre Wandel der US-amerikanischen Politik ein Sieg für uns Europäer ist, zuvörderst der Millionen von Menschen, die zwischen 2002 und 2005 auf die Straße gegangen sind, aber auch der politischen und kulturellen Kräfte und Regierungen (zum Beispiel der Regierung Schröder-Fischer), die dem unerhörten amerikanischen politischen Druck und der schwersten Krise der atlantischen Beziehungen im Namen des Multilateralismus, gegen den Clash der Zivilisationen, den präventiven Krieg, den Unilateralismus stand gehalten haben.

Zweitens: Es geht darum festzuhalten, dass die EU für die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise sicher weniger verantwortlich zu machen ist als die USA, denn sie hat die 30-jährige Deregulierungskultur von Reagan-Bush, der Schule der Chicago Boys, nicht mitgemacht, wonach der Staat und die öffentliche Gewalt Teil des Problems und nicht der Lösung sind. Auch dank des Sozialstaats, seiner technischen Kapazität und der gemeinsamen "Strategie von Lissabon" für die Modernisierung (2000-2010) hat sich Europa bewusst für eine ausgewogene Vision des technologischen Wettbewerbs entschieden - eines Wettbewerb, der die Werte des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht in Frage stellt, eine Reform des Sozialstaats im Rahmen der Globalisierung, die diesen Sozialstaat nicht demontiert (siehe Rodrigues: Europe, globalization and the Lisbon Agenda, 2009). Folglich hat das soziale europäische Modell in den euphorischen Jahren der Deregulierung standgehalten und wird heute, im Brennpunkt der Krise, von Amerikanern und Chinesen mit Interesse beobachtet. Die Euro-Zone bildet eine beneidenswerte Insel der Stabilität. Es ist beachtlich, dass die Region Europa im Rahmen der Globalisierung nicht nur dynamisch überlebt hat, sondern, ohne besonders arrogant zu sein, anderen regionalen Organisationen den Weg weist, auch wenn diese ihren eigenen Weg gehen: Mercosur/Unasur; ASEAN, Afrikanische Union etc.

Drittens: Dieses Europa, "das Skandinavien der Welt", ist durchaus kein Verfechter einer "pax bruxellesis" nach der pax americana und pax britannica. Es gehört zur Avantgarde des Dialogs und neuer - internationaler Kooperationssysteme: Es übernimmt die leadership im Kyoto-Prozess (besonders nach der deutschen Präsidentschaft von 2007 und dem Treffen von Bali), verteidigt die Menschenrechte auf globaler Ebene, stößt den Internationalen Strafgerichtshof an, bildet eine Streitmacht für Frieden und Zusammenarbeit, ein Modell für die Konfliktprävention, übernimmt die Initiative für den Waffenstillstand zwischen Russland und Georgien und lanciert das Projekt der G20 auf dem Treffen von Washington von November 2008.

Ohne die Hegemonie der USA ersetzen zu wollen, ist die EU de facto eine Vorreiterin für ein schwieriges aber mögliches Erneuerungsprojekt.

Also alles in Ordnung? Keinesfalls: denn wir haben es mit einer globalen und beispiellosen Krise und politisch gefährlich instabilen Welt zu tun. Um auf dem europäischen Weg weiterzukommen, müssen zwei Bedingungen gegeben sein, eine äußere und eine innere:

Die äußere ist, dass weiterhin die europäische Fähigkeit gefragt ist, nicht nur die USA, sondern auch andere große global player in das Spiel multilateraler Kooperation und die Stärkung einer gerechteren governance einzubeziehen; Amerikaner, Chinesen, Inder, Brasilianer etc. weiter von der Möglichkeit eines neuen Multilateralismus zu überzeugen - eines posthegemonialen Multilateralismus auf der Basis gemeinsamer leadership und einer Stärkung regionaler und globaler Institutionen von breiter Repräsentanz und Wirksamkeit. Die Konsolidierung der G20, die Reform des Internationaler Währungsfonds, die Reform der Vereinten Nationen und die Kohärenz der Institutionen globaler governance gegen ökonomische Krisen, Armut, globale Erwärmung, lokale Konflikte werden die Bewährungsprobe sein.

Die innere Bedingung ist, dass die Europäische Union sowohl als Modell (im wertfreien Sinne Max Webers) als auch als glaubwürdiger Akteur auf die anderen noch immer überzeugend wirkt. Und dass sie daher den kurzfristigen Kampf gegen die Krise mit den mittel- und längerfristigen Strukturreformen für eine Wissensgesellschaft, welche die anderen Modelle nicht einfach kopiert, in Einklang bringen kann; die vom Lissaboner Vertrag vorgesehene institutionelle Reform als notwendige Voraussetzung für zusätzliche Erweiterungen zu Ende führt; und ein praktisches Modell im Kampf gegen die Erderwärmung und für eine nachhaltige Entwicklung darstellt.


Mehr kulturelle Autonomie - mehr Mut

Die Herausforderungen sind von beängstigender Schwierigkeit,jedoch durchaus zu bewältigen, wenn man die Macht und das Gewicht Europas, die Wirtschafts-, Handels- und Finanzkraft der Kooperation, des Wissens bedenkt. Es geht um ein europäisches Projekt, das den Verstand und auch die Herzen der Bürger ansprechen, Hoffnung wecken und der europäischen Integration einen neuen Sinn geben kann. Um aber die Interessen und Ideale der Europäischen Union behaupten zu können, ist etwas mehr kulturelle Autonomie und auch mehr Mut nötig, um gegen diejenigen vorzugehen, die den epochalen Umbruch nicht wahrhaben wollen, aber auch gegen diejenigen, die - im Unterschied zur Aufbruchstimmung so vieler Amerikaner, Inder, Chinesen und Brasilianer - nichts anderes tun, als Nihilismus zu verbreiten: die verschiedenen Experten der Verzweiflung, die nostalgischen Spenglerianer des Untergangs Europas, die Vertreter der romantischen Theologie der Krise, seien sie nun konservativ oder linksextrem.

(Aus dem Italienischen von Rüdiger Hentschel.)


Mario Telo (* 1950) ist Präsident des Institute for European Studies (IEE) der Freien Universität Brüssel und Herausgeber von The EU and global governance, erschienen bei Routledge, London 2009.
mtelo@ulb.ac.be


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Erstaunliche Entwicklung: Auf der Kongokonferenz 1884/85 in Berlin teilten auf Einladung Bismarcks die europäischen Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent noch rücksichtslos unter sich auf (Zeitgenössische französische Karikatur). Heute ist Europa Avantgarde des Dialogs und neuer internationaler Kooperationssysteme.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009, S. 14-17
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2009