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ITALIEN/270: Zusammenstoß mit Kreuzfahrtschiff - Bürger Venedigs fordern Verbannung der "Monster" (Gerhard Feldbauer)


Nach Zusammenstoß mit Kreuzfahrtschiff

Bürger Venedigs fordern die "Monster", aus der Lagunenstadt zu verbannen
Die Aussichten sind chancenlos

von Gerhard Feldbauer, 17. Juni 2019


Foto: Didier Descouens [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Lagunenstadt Venedig - Blick von der Rialtobrücke auf den Canal Grande
Foto: Didier Descouens [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]

Für einen vernünftig denkenden Menschen ist es unvorstellbar, dass Riesenkreuzfahrtschiffe dicht an den Wohnhäusern einer Großstadt vorbeifahren. In der Lagunenstadt Venedig ist das täglich der Fall. Dabei rammte am Sonntag, dem 2. Juni, das 275 Meter lange Kreuzfahrtschiff "MSC Opera" auf der Höhe des Terminals San Basilio-Zattere die Anlegestelle und dabei ein Touristenboot mit etwa 130 Menschen an Bord. Vier Touristen im Alter zwischen 67 und 72 Jahren wurden verletzt. Die Zeitung Nuova Venezia berichtete, dass Passagiere des Touristenbootes "aus Angst ins Wasser gesprungen", Menschen an Land "entsetzt davongelaufen" seien. Die Stadt sei knapp einer Katastrophe entkommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Kapitän wegen des Verdachts der Fahrlässigkeit und Mißachtung der Sicherheitsvorkehrungen.

Der Unfall hat die schon seit Jahrzehnten geführte Debatte, die Schiffskolosse völlig aus der Lagunenstadt verbannen, neu belebt. In anhaltenden Protesten fordern die Bürger, die Luxusliner aus der Lagunenstadt zu verbannen. "Raus mit den Monsterschiffen aus Venedig", lautete einer der Slogans, die an vielen Stellen zu sehen sind. Organisator der Proteste ist eine Bürgerbewegung "Comitato No Grandi Navi". "Jedes Kreuzfahrtschiff verpestet unsere Luft wie 14.000 Autos", heißt es in einer Erklärung. Der Untergrund der Stadt droht durch die Wellen der Schiffe weiter abzusinken. Die UNESCO warnte, die Stadt von der Liste der gefährdeten Kulturgüter zu nehmen, wenn "der Kreuzfahrtschiff-Streit" nicht gelöst werde.

In Venedig, das zu den größten Häfen für Kreuzfahrten Europas gehört, legten 2018 über 600 dieser Kolosse an, die mehr als 1,56 Millionen Touristen in die Stadt brachten. Insgesamt besuchen nach Angaben der Vereinigung für den Schutz der Güter der Kultur, Kunst und der Natur (Nostra ONLUS) jährlich mehr als 30 Millionen Touristen Venedig. Resultat, dass auf dem Canal Grande, der Hauptverkehrsader zwischen dem Bahnhof und dem Markusplatz, täglich mehr als 3000 Boote hin und herfahren, in Spitzenzeiten ein Drittel mehr. Die meisten Passagiere der Kreuzfahrt-Liner nehmen an einem extra für sie organisierten Stadtrundgang teil und zahlen dafür 250 Euro. Die Kosten für Anlegen und Aufenthalt bringen jährlich Milliarden Euro ein. Die Abhängigkeit vom Tourismus wird Segen und Fluch zugleich genannt. Segen für Unternehmer, Geschäftsleute und die Stadtverwaltung, die Milliarden einnehmen, Fluch für die Einwohner, die unter den katastrophalen Folgen leben müssen. Ein Anlegeverbot durchzusetzen, wird deshalb nahezu chancenlos gesehen.


Foto: Peter Haas [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)]

Kreuzfahrtschiff am Haken eines Schleppschiffes beim Verlassen Venedigs - im Hintergrund die Basilika Santa Maria della Salute
Foto: Peter Haas [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)]

Bürgermeister Luigi Brugnaro hat laut der Nachrichtenagentur ANSA nicht die Absicht, die Kreuzfahrtriesen aus der Lagunenstadt zu verbannen, er will sie nur nicht mehr im Kanal, sondern im Industrieviertel von Marghera anlegen lassen. Ernste Maßnahmen werden von dem Unternehmer, der 2015 von einer faschistischen Allianz der Forza Italia (FI) des Medien-Monopolisten und Ex-Premier Berlusconi, der von einflussreichen Unternehmern unterstützten Lega Matteo Salvinis und der Brüder Italiens (FdI) von Georgia Meloni gewählt wurde, nicht erwartet. Auch die Verlegung der Kreuzfahrt-Terminals nach Chioggia oder ans Lido wird als keine ernsthafte Alternative gesehen, denn von dort aus müssten die Passagiere mit kleineren Schiffe nach Venedig gebracht werden.

Venedig wurde in den zwölf Jahrhunderten seines Bestehens als die schönste Stadt der Welt besungen, als La Dominante, Königin der Meere, als Serenissima - die Durchlauchtigste. Zu ihrer Reinhaltung galten die strengsten Gesetze. Jedes Jahr, so erzählten es die Gondoliere in der Lagunenstadt, mussten sich die Dogen von neuem mit dem Meer vermählen. Sie warfen als Zeichen ihrer Treue einen Ring in den See, und wenn sie das Gelübde brachen, seien sie über brennenden Kesseln geblendet worden. Neunzehn von ihnen wurden verjagt, verbannt, verbrannt. Wer ohne Erlaubnis der Stadtväter, des "Großen Rates", einen Eichenpfahl in die Lagune trieb, wurde ins Gefängnis geworfen. Wer einen faulen Apfel in ihr Wasser warf, wurde ausgewiesen.

Vieles davon mag Legende gewesen sein. Jedoch stand eines fest. Der Schutz der Serenissima war über Jahrhunderte oberstes Gebot ihrer Einwohner. Das änderte sich, als die Herrschaft des Kapitals über Venedig begann. Schon während des Ersten Weltkrieges begann die Industrialisierung, entstanden in dem nur fünf Kilometer von Venedig entfernten Mestre auf dem Festland riesige Ölraffinerien, Chemieanlagen, Kraftwerke und Aluminiumfabriken, Hochöfen und Kokereien. Bei einer Rundfahrt auf dem Canale Grande ist heute beim genaueren Hinsehen zu erkennen, wie die Luftverschmutzung die jahrhundertealten Bauwerke zersetzt. Die Museen werden betroffen, die Bilder beschädigt.

Das Hafengebiet von Venedig wurde im Ergebnis dieser verantwortungslosen Form der Industrialisierung zu einem der größten Verkehrsknotenpunkte Italiens ausgebaut. Sieben Eisenbahnlinien, 13 Autobahnen und Staatsstraßen, sämtliche Binnenschifffahrtskanäle des Landes laufen hier zusammen. Damit Frachtschiffe und sogar große Tanker direkt in Venedig anlegen konnten, wurden ohne Rücksicht auf die seit Jahrhunderten gehüteten und geschützten Strömungsverhältnisse unter der Stadt 18 Kilometer Kanäle in einer Breite von 180 Metern und einer Tiefe von 15 Metern gebaut. Dazu gehören über 4 km Hafendämme, 60 km Hafenstraßen und 210 km Gleiskörper im Hafengelände. Um die Süsswasserquellen anzapfen zu können, wurden Hunderte von Adern bis zu 300 Meter tief ins Meer hinein erschlossen. Venedig, dessen Palazzi auf rund drei Millionen Eichenpfählen ruhen, versank dadurch tiefer ins Meer. Waren es im Laufe von Jahrhunderten nur einige Millimeter, wurden von 1908 bis 1942 5,5 Zentimeter gemessen. Bis 1961 waren es bereits 15 Zentimeter. Und sie stiegen weiter.

Hinzu kam die Störung der Gezeiten. Während die Flut, die den Strand von Lido umspült, vor einem halben Jahrhundert noch zweieinhalb Stunden brauchte, um Marghera zu erreichen, ist diese Zeit auf 40 Minuten und weniger zusammengeschrumpft. Die Überschwemmungen erreichen die Stadt in immer kürzeren Abständen. Bei starkem Regen steigt das Wasser heute bis zu 1,20 Meter an und überflutet den Markusplatz und alle Paläste auf gleicher Höhe. Tausende Wohnungen sind eigentlich unbewohnbar. Zahlreiche Bauwerke müssten saniert werden, denn Abgase zerfressen Statuen, Marmorfassaden und Bilder. Vor Jahren wurde bereits eingeschätzt, dass ein Drittel der venezianischen Kunstwerke beschädigt ist, Schmutzwasser das biologische Gleichgewicht der Lagune zerstört. Experten befürchteten schon seit langem, dass Venedig mit seinen über 400 Palästen, 22 Klöstern und 86 Kirchen eines Tages durch die ständige Überflutung weitgehend unbewohnbar werden könnte.

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2019

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