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ITALIEN/167: Das Ende des Renzismus (spw)


spw - Ausgabe 1/2017 - Heft 218
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Italien: Das Ende des Renzismus

von Michael Braun


40,8 Prozent - es war dieses Resultat, das im Mai 2014 ganz Europa, vorneweg die Parteien links der Mitte aufmerken ließ. Quer durch den Kontinent waren die meisten Regierungsparteien bei den EP-Wahlen mehr oder minder stark abgestraft worden, quer durch Europa mussten sich die sozialdemokratischen Kräfte mit bescheidenen Resultaten zufriedengeben, während der Populismus boomte. Mit einer Ausnahme: Italien. Dort triumphierte die Partito Democratico (PD) unter Ministerpräsident Matteo Renzi mit 40,8 Prozent, obwohl die PD ein krisengebeuteltes Land regierte. Allen aber war klar, dass dieses sensationelle Ergebnis weniger der Partei als ihrem Frontmann geschuldet, dass ein Hoffnungsträger geboren war.

Gut zweieinhalb Jahre später, am 4. Dezember 2016, erreichte Renzi mit 41 Prozent ein fast identisches Resultat - doch diesmal stand es für eine schwere Niederlage, für das Scheitern seines Kernprojekts, der Verfassungsreform, die im Referendum von fast 60 Prozent der Italiener abgelehnt wurde. Und damit nicht genug: Im Januar 2017 verwarf das Verfassungsgericht Renzis zweites Kernprojekt - die Wahlrechtsreform, die der siegreichen Partei eine stabile Mehrheit im Parlament sichern sollte. Zudem spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen dem Renzi-Lager in der PD und den linken Minderheitsflügeln dramatisch zu, da die innerparteiliche Opposition immer offener Kurs in Richtung Parteispaltung nahm. Und jener Mann, der noch 2014 als Hoffnungsträger gegolten hatte, riskiert nun, zum - wenn auch unfreiwilligen - Totengräber der PD, wie wir sie bisher kannten, zu werden.

Renzis rasanter Aufstieg in den Jahren 2012-2014 ist nur vor dem Hintergrund der tiefen Krise Italiens ebenso wie der Krise der PD in jenen Jahren zu verstehen. Vom Sommer 2011 an traf die Eurokrise auch Italien mit voller Wucht; dies bildete sich im kontinuierlich steigenden Spread der italienischen gegenüber den deutschen Staatsanleihen ab, der im Herbst 2011 über die 5 Prozent-Marke kletterte. Die seit dem Wahlsieg der Rechtsallianz im Jahr 2008 amtierende Regierung Berlusconi zeigte sich dieser Entwicklung gegenüber machtlos und musste im November 2011 unter dem Druck der Märkte und der ausländischen Staatskanzleien - vorneweg Deutschlands und Frankreichs - schließlich zurücktreten. Unmittelbare Neuwahlen hätte die Linke unter Führung der PD klar gewonnen. Doch Staatspräsident Giorgio Napolitano verweigerte sich einer Auflösung des Parlaments und setzte eine Technikerregierung unter Führung des ehemaligen EU-Kommissars Mario Monti durch.

Diese Regierung amtierte bis zum regulären Ende der Legislaturperiode im Februar 2013 und stützte sich im Parlament auf das Vertrauen sowohl der rechten Forza Italia unter Silvio Berlusconi als auch der PD. Damit war die PD in der unbequemen Position, den harten Sparkurs der Regierung Monti mittragen zu müssen. Dennoch war ihr damaliger Parteichef Pierluigi Bersani überzeugt, die Wahlen im Februar 2013 gewinnen und dann mit der neu entstandenen Liste Mario Montis eine Mitte-Links-Regierung bilden zu können.

Vor der Wahl hatte allerdings schon Matteo Renzi seinen Hut in den Ring geworfen und Bersani Ende 2012 bei den Primaries zur Kür des Spitzenkandidaten herausgefordert. Renzi hatte seinen politischen Aufstieg in Florenz begonnen, wo der aus der Christdemokratie stammende Jungpolitiker - seinerzeit noch Mitglied der Mittepartei Margherita - im Jahr 2004 mit nur 29 Jahren als Anführer einer Mitte-Links-Allianz zum Präsidenten der Provinz Florenz gewählt worden war. Als die Margherita im Jahr 2007 mit den Democratici di Sinistra (DS - Linksdemokraten) zur neuen Partito Democratico fusionierte, stieß auch Renzi zur PD. Er gehörte dort allerdings zur Minderheit der früheren Christdemokraten, während es scheinbar ausgemacht war, dass die Parteiführung auf Dauer in den Händen der deutlich majoritären früheren (ihrerseits aus der früheren Kommunistischen Partei hervorgegangenen) Linksdemokraten liegen würde.

Dass Renzi sich mit solchen scheinbar eingespielten Gleichgewichten nicht abfinden wollte, demonstrierte er erstmals 2009 auf lokaler Ebene. Bei den Primaries zur Kür des Bürgermeisterkandidaten trat er gegen mehrere Kandidaten des Partei-Establishments an - und konnte sich deutlich durchsetzen. Anschließend gewann er auch die Bürgermeisterwahl klar. Doch schnell machte er deutlich, dass seine Ambitionen nicht auf die lokale Ebene beschränkt waren. Im November 2010 rief er erstmals eine Massenversammlung in dem alten Bahnhof Leopolda in Florenz ein, an der fast 7000 der Parteiführung der PD gegenüber kritische Anhänger teilnahmen. Renzi hatte sie mit der Forderung einer "Verschrottung ohne Abwrackprämie" der bisherigen Altvorderen der PD - von dem früheren Ministerpräsidenten Massimo D' Alema bis hin zum seit 2009 amtierenden PD-Chef Pierluigi Bersani - mobilisiert.


Kernpunkte seines Forderungskataloges waren
  • eine radikale Erneuerung der Partei auf einem Kurs, der den Vorbildern Bill Clinton und Tony Blair folgen sollte,
  • eine Neuaufstellung, die die PD im Geiste eines "Dritten Wegs" vor allem für Wähler der Mitte, ja auch der Berlusconi-Partei Forza Italia wählbar machen sollte,
  • das Abschneiden "alter" linker Zöpfe zum Beispiel bei der Arbeitsmarktpolitik
  • und ein weitgehender Austausch der Parteielite zugunsten junger "unverbrauchter" Vertreter. Dabei dachte Renzi ohne falsche Bescheidenheit vorneweg an sich selbst.

Damit war ein Programm formuliert, dass von der Parteiführung unter Bersani als Plan einer feindlichen Übernahme und "genetischen Veränderung" der PD empfunden wurde. Schon damals standen sich die beiden Lager mit völliger Unversöhnlichkeit gegenüber - ein Tatbestand, der die innerparteilichen Auseinandersetzungen bis heute prägen sollte.

Zunächst scheitere Renzis "Angriff auf das Hauptquartier" jedoch in den Primaries vom Dezember 2012, als er 39 Prozent, Bersani dagegen 61 Prozent erhielt. Doch die Parlamentswahlen vom Februar 2013 wurden für die PD zum Desaster. Die Partei, die mit einem Sieg gerechnet hatte, blieb bei 25 Prozent hängen. Und, schlimmer noch, die erstmals angetretene Protestliste Movimento 5 Stelle (M5S - 5-Sterne-Bewegung) unter dem Komiker Beppe Grillo erreichte ebenfalls sensationelle 25 Prozent.

Bersani scheitert in der Folge sowohl an der Regierungsbildung als auch daran, seine Kandidaten bei der Wahl des Staatspräsidenten im Parlament durchzusetzen. Zahlreiche Heckenschützen aus der PD torpedierten trotz auf dem Papier vorhandener numerischer Überzahl in der Wahlversammlung Bersanis Vorschläge; daraufhin trat er resigniert als Vorsitzender zurück und hinterließ eine Partei in tiefer Krise. Der mangels anderer mehrheitsfähiger Kandidaten wiedergewählte Staatspräsident Napolitano setzte erneut eine Regierung durch, deren Koalition von Forza Italia über kleine Mitteparteien bis hin zur PD reichte und die von dem PD-Politiker Enrico Letta geführt wurde. In ihrer Krisenpolitik stand diese Regierung in direkter Kontinuität zur Regierung Monti.

Damit hatte Matteo Renzis Stunde geschlagen. Bei den Urwahlen des neuen Parteichefs konnte er sich im Dezember 2013 überzeugend mit 67 Prozent durchsetzen - damit war deutlich, dass auch das Gros der früheren Anhänger der Linksdemokraten für ihn als einzigen verbliebenen Hoffnungsträger votiert hatte. Nur zwei Monate später stürzte er seinen Parteifreund Enrico Letta und übernahm selbst das Amt des Ministerpräsidenten.

Von Anfang an gab Renzi sich als Dezisionist, der durchregieren wollte. "Jeden Monat eine Reform" lautete sein Motto. Dieses Tempo konnte er zwar nicht halten, doch er schob ambitionierte Vorhaben an. Kern seines Programms war zum einen die Verfassungsreform, die am bisherigen Zweikammersystem rütteln sollte. In Italien sind das Abgeordnetenhaus und der Senat völlig gleichberechtigt, beide müssen der Regierung das Vertrauen aussprechen, den Haushalt sowie alle Gesetze verabschieden. Renzi wollte nun den Senat weitgehend entmachten, um die politischen Entscheidungsprozesse zu vereinfachen. Zudem legte er eine Wahlrechtsreform auf, nach der die siegreiche Partei im Abgeordnetenhaus automatisch die absolute Mehrheit von 340 der 630 Sitze erhalten sollte, damit "die Italiener am Abend der Wahl wissen, wer sie in den nächsten fünf Jahren regiert". Beide Reformen hatte Renzi mit Silvio Berlusconi ausgehandelt, um sich die Unterstützung auch von dessen Partei Forza Italia zu sichern.

Hinzu kamen die zügig verabschiedete Arbeitsmarktreform, die vor allem den Kündigungsschutz weitgehend lockerte, sowie eine Schulreform, die vom Gros der italienischen Lehrerschaft schon deshalb als negativ empfunden wurde, weil sie die Vollmachten der Schulleiter und deren Möglichkeiten, die Karrieren der Lehrer zu beeinflussen, ablehnte. Ebenso stießen diese Reformen auf starken innerparteilichen Dissens. Renzi demonstrierte jedoch seinen Willen, seine Reformen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Nachgerade symbolisch inszenierte er den Bruch mit "alten Ritualen"; so verweigerte er sich rundheraus einer Konzertierung seiner Arbeitsmarktpolitik mit den Gewerkschaften, mit denen er den Dialog weitgehend abbrach.

Parallel gewährte er jedoch als eine seiner ersten Amtshandlung allen Arbeitnehmern mit kleinen bis mittleren Einkommen einen Abschlag auf die Lohnsteuer von bis zu 80 Euro monatlich - eine Maßnahme, die etwa 10 Millionen Menschen zugute kam und verständlicherweise hochpopulär war. In den wenigen Wochen später stattfindenden EP-Wahlen triumphierte er im Mai 2014 denn auch mit 40,8 Prozent - ein von der PD nie zuvor erreichtes Resultat, das Renzi sowohl in Italien als auch in Europa eine starke Legitimierung verschaffte und seine innerparteilichen Gegner weiter schwächte.

In der Sache hart, gab Renzi sich im Ton zudem oft sarkastisch gegenüber seinen Gegnern in der Partei oder aus den "ewiggestrigen", "ideologiegeleiteten" Gewerkschaften, die - so Renzi - in der Vergangenheit verharrten und "glauben, dass man eine Telefonmünze ins Smartphone stecken muss", weil sie in analogen, nicht in den digitalen Zeiten zuhause seien.

Auch gegenüber populistischen Tönen war Renzi nicht abgeneigt. So begründete er seine Verfassungsreform damit, dass das Land dann endlich "weniger Politiker" haben werde. Hier trat er in einen direkten Wettbewerb mit den "Fünf Sternen", die er auch in der Europapolitik mit Angriffen auf das Brüssel der "Pfennigfuchser" einzuhegen suchte. Zugleich ging es ihm hier in der Sache darum, die äußerst geringen haushaltspolitischen Spielräume Italiens auszudehnen und sich höhere Flexibilitätsmargen zu ertrotzen.

An seine Grenzen stieß Renzis Projekt jedoch vor allem deshalb, weil sein konstant vorgetragener Optimismus, unter seiner Führung werde Italien endlich wieder ein dynamisches Land, mit der Realität zusammenstieß. Zwar erreichte Italien in den Jahren 2015-2016 endlich wieder ein Wirtschaftswachstum, das jedoch mit jeweils 0,8 bzw. 0,9 Prozent äußerst bescheiden blieb und vor allem die Situation am Arbeitsmarkt - drei Millionen Arbeitslose und eine Jugendarbeitslosigkeit von über 40 Prozent - so gut wie nichts bewegte.

Und so wurde Renzis Plan, das Verfassungsreferendum zur plebiszitären Bestätigung seiner Politik zu machen, zum Desaster. Mit dem Scheitern auch der Wahlrechtsreform am Verfassungsgericht wurde sein gesamtes politisches Projekt von einem Italien, das er dann effizient durchregieren könne, zur Makulatur. Italien wird bei den nächsten Wahlen voraussichtlich mit einem Proporzsystem wählen - starke Regierungen sind angesichts der Tatsache, dass Grillos M5S bei ca. 27-30 Prozent und die rechtspopulistische Lega Nord bei etwa 10 Prozent liegen, vorerst ausgeschlossen.

Doch Renzi will erstens schnelle Neuwahlen und zweitens auch einen vorgezogenen Parteitag, wiederum in einer Logik des Plebiszits, um seinen Führungsanspruch zu untermauern. Die innerparteiliche Opposition interpretierte diese Vorstöße Renzis jedoch vor allem als Versuch, die linken PD-Flügel endgültig zu marginalisieren, vorneweg durch die Zusammenstellung der Kandidatenlisten für das Parlament, aber auch durch die Zementierung von Renzis Vorherrschaft in der Partei. Ihr Vorwurf lautete, er wolle die PD in eine "PDR" - "in eine Partito di Renzi" - verwandeln, die nicht mehr gemäßigt links, sondern als Mittepartei ganz im Stile der alten Christdemokratie aufgestellt sei. Das Renzi-Lager wiederum zeigt sich überzeugt, dass die Parteilinke um jeden Preis auf den Bruch zusteuern wolle; als Beleg dient ihm zum Beispiel die Tatsache, dass es zunächst die Minderheitsflügel waren, die nach einem vorgezogenen Parteitag gerufen hatten.

Eine weitere Zuspitzung erfuhr der Konflikt mit der Sitzung der Assemblea nazionale, mit ihren 1000 Delegierten das höchste Organ zwischen den Parteitagen, am 19. Februar. Dort legte Renzi den Parteivorsitz nieder, um den Weg zu dem vorgezogenen Parteitag und auch der Urwahl des Vorsitzenden durch die Mitglieder und Anhänger der Partei zu öffnen. Die führenden Vertreter der Minderheit erklärten sich vor diesem Hintergrund zur Spaltung und zur Gründung einer neuen Partei links von der PD bereit. Renzi dürfte auf jeden Fall problemlos den Parteivorsitz wiedererobern. Dies jedoch ändert nichts daran, dass jenes Projekt, mit dem er vor drei Jahren die Partei ebenso wie die Regierung übernahm, an unüberwindbare Grenzen gestoßen ist: das Projekt, an der Spitze einer entscheidungsfähigen Exekutive ohne Koalitionszwänge zügig die in seinen Augen für das Land notwendigen Reformen umzusetzen. Renzi wird politisch wohl überleben, doch der "Renzismus" ist vorerst gescheitert.


Dr. Michael Braun, geboren 1957, Studium und Promotion in Politikwissenschaften, 1985-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Duisburg und Essen, lebt seit 1996 als Journalist in Rom. Er ist Korrespondent der taz, freier Mitarbeiter des WDR sowie Autor der italienischen Zeitschrift "Internazionale".

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2017, Heft 218, Seite 11-14
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2017

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