Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → POLITIK


FRAGEN/027: Droht der krisengeschüttelten EU ein Italexit? Vladimiro Giacché im Gespräch (Gerhard Feldbauer)


Droht der krisengeschüttelten EU ein Italexit?

Vladimiro Giacché, Präsident der Centro Europa Ricerche (CER), im Gespräch: Nach einem "Italexit" gäbe es keinen Euro mehr

Interview von Gerhard Feldbauer, 25. Oktober 2018


Gerhard Feldbauer (GF): Rom befindet sich auf Konfrontationskurs mit Brüssel. Es hält an seiner Erhöhung der Verschuldung von 2,4 Prozent des BIP fest. Wie sehen Sie das?

Vladimiro Giacché (VG): Das von der italienischen Regierung für 2019 vorgesehene höhere Defizit kann ökonomisches Wachstum schaffen und damit die Senkung der Verschuldung ermöglichen. Man kann darüber andrer Meinung sein, aber eines steht fest: das beste Argument dafür sind die Folgen der entgegengesetzten Politik, die der Austerität. Unter der Regierung Mario Monti [1] wurde in Italien eine harte Sparpolitik verfolgt. Ergebnis: Einbruch des BIP und - als Folge - eine um 13 Prozent höhere Verschuldung zum BIP. Im Übrigen sind selbst die Berechnungen der Europäischen Kommission sehr fraglich. Beim Centro Europa Ricerche haben wir schon 2013 relevante Probleme dazu aufgezeigt. Heute schätzt die EK, dass in Italien das reale Wachstum 2019 sogar um 0,5 Prozent höher sein wird als das potenzielle Wachstum, das heißt, mehr als angemessen, und das, obwohl wir eine Arbeitslosigkeit von über zehn Prozent haben!

GF: Wie ernst ist der Streit zu nehmen? Droht der ohnehin krisengeschüttelten EU ein zweiter Brexit?

VG: Das weiß noch niemand. Die Absicht der EU-Behörden ist aber offensichtlich: Italien mit der griechischen "Kur" zu drohen, um die Dogmatik des Fiscal Compact (Fiskalpaktes) durchzusetzen. Diese Haltung wurde letzte Woche auch von David Folkerts-Landau, dem Chefvolkswirt der Deutschen Bank, sehr negativ beurteilt. Der Fiskalpakt gehört auf den Müll. Er war vom Anfang an "töricht", wie selbst die Financial Times damals schrieb. Auf dieser Torheit jetzt zu beharren, ist noch schlimmer.

GF: Brüssel hat bisher immer nachgegeben. Auch die jüngste Erklärung von EU-Kommissar Günther Oettinger deutet Kompromissbereitschaft an. Wie kann das enden?

VG: Es ist wahr, dass zu Matteo Renzis Zeiten [2] wiederholt ein höheres Defizit als das heutige geduldet wurde, dass Frankreich neun Jahre lang folgenlos ein exzessives Defizit hatte und dass 2016 Portugal und Spanien bestraft wurden... mit 0 Euro. (!) Diesmal scheint die Lage vorerst anders zu sein, und zwar aus politischen Gründen. Entweder wird eine Lösung gefunden, oder die folgende Krise wird die Grenzen Italiens überschreiten. Die "Ansteckung" wird nicht auf sich warten lassen. Sollte es einen "Italexit" geben, sollte man sich darüber im Klaren sein: ohne Italien gibt es keinen Euro mehr.

GF: Wie steht es um die Wahlversprechen der rechten Fünf-Sterne-Bewegung - Grundeinkommen, Verbesserungen für die Rentner, Steuererleichterungen? Sind sie überhaupt finanzierbar?

VG: Im Prinzip schon - sie setzen keine Revolutionierung der sozialen Verhältnisse voraus. Es geht aber darum, aus dem neoliberalen Rahmen der Europäischen Verträge herauszukommen. Es gibt einen Widerspruch zwischen den EU-Verträgen und unserer Costituzione. Die neoliberale EU hat überall die Rechte der Arbeiter zerstört, selbst gegen die nationalen Verfassungen.

GF: Wie reagiert die Linke auf den Konflikt mit der EU?

VG: Wie es derzeit aussieht, besteht der Hauptvorwurf der linken Opposition im Parlament [3] darin, dass die Regierung den Fiskalpakt nicht respektieren will. Eine Ausnahme macht hier aus meiner Sicht nur Stefano Fassina (LeU). Damit bereitet die italienische Linke ihre nächste Niederlage vor. Man muss ganz anders vorgehen: Abgelehnt werden müssen die falschen Inhalte des Haushaltsbilanzprojektes (z.B. die unzureichenden Investitionen). Aber nicht aus der Sicht der EK oder der EZB. Zur Wehr setzen muss man sich gegen die Lohndeflation, gegen die Altersarmut, gegen die auch in Italien wachsende Ungleichheit.

Das heißt, es geht nicht nur darum, "mehr Defizit zu wagen", sondern die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen zu verändern. Und dazu müssen die neoliberalen Regeln der Maastricht-EU abgeschafft werden. Eine EU, in der die Wettbewerbsfähigkeit nur darauf beruht, den Arbeitern weniger zu zahlen, ist der Vertreter der großen Konzerne und der Großbanken und damit unser Hauptfeind. Auch deswegen sollte die Linke nicht den Fehler begehen, sich mit dieser EU - wenn auch nur "taktisch" gegen eine unerwünschte Regierung - zu alliieren. Anders gesagt: man darf den Rechten - auch auf europäischer Ebene mit der Allianz Salvini-Le Pen an der Spitze - nicht den Kampf gegen diese EU überlassen.

Das Interview führte Gerhard Feldbauer


Anmerkungen:

[1] Nach dem Rücktritt Berlusconis im November 2011 eingesetzte Regierung unter dem früheren EU-Kommissar Monti

[2] Italienischer Premierminister von 2014 bis 2016

[3] Abgesehen von einer linken Minderheit der Demokratischen Partei ist die oppositionelle Linke im Parlament nur noch durch "Freie und Gleiche" (LeU) vertreten.


Vladimiro Giacché ist ein führender Wirtschaftsexperte Italiens, Autor zahlreicher Bücher, darunter auch zur Liquidierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand. Im Neue Impulse Verlag erscheint von ihm gerade "Lenins ökonomisches Denken nach der Oktoberrevolution".

*

Quelle:
© 2018 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang