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STANDPUNKT/089: Wer das Recht spricht (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 7. Mai 2020
german-foreign-policy.com

Wer das Recht spricht

Bundesverfassungsgericht widerspricht EuGH-Urteil und stellt Maßnahmen zur Stabilisierung der EU in Frage.


KARLSRUHE - Mit Entsetzen haben Ökonomen und Politiker außerhalb Deutschlands auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Staatsanleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) reagiert. Das Gericht hatte am Dienstag die Anleihekäufe als "teilweise verfassungswidrig" eingestuft und dabei ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für unrechtmäßig erklärt - obwohl dessen Rechtsprechung über nationalem Recht steht. Darüber hinaus hat es die Unabhängigkeit der EZB attackiert, sie deutschen Vorgaben zu unterwerfen versucht sowie ein zentrales Instrument zur finanziellen Stabilisierung der EU, den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB, in Frage gestellt. Während Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire warnt, das Urteil gefährde die "Stabilität" der EU, wird Enrico Letta, ein ehemaliger Ministerpräsident Italiens, mit der Äußerung zitiert, der Gerichtsentscheid bedeute "Die Deutschen zuerst". Tatsächlich erhöht das Urteil den wirtschaftlichen Druck auf Italien - zu einer Zeit, zu der in dem Land der Unmut über Deutschland rasch wächst.

"Nicht mehr nachvollziehbar"

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von diesem Dienstag hat in zweierlei Hinsicht äußerst weitreichende Bedeutung. Zum einen betrifft es die Rechtsordnung innerhalb der EU. Das Verfassungsgericht hatte mit Beschluss vom 18. Juli 2017 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen zu Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Das war nichts Ungewöhnliches: Zu den Aufgaben des EuGH gehört es unter anderem, die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Anwendung von EU-Recht zu unterstützen; das Bundesverfassungsgericht war mit deutschen Klagen gegen den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB befasst, die EU-Recht zu befolgen hat. Der EuGH kam der Bitte aus Karlsruhe mit einem Urteil vom 11. Dezember 2018 nach.[1] Darin erklärte er, das von der EZB am 4. März 2015 aufgelegte Public Sector Purchase Programme (PSPP), das den Kauf von Staatsanleihen vorsieht, entspreche in jeder Hinsicht den Normen der EU; es gebe an ihm also nichts zu beanstanden. Das nun wiederum akzeptiert das Bundesverfassungsgericht nicht. In seinem Urteil vom Dienstag widerspricht es dem EuGH-Beschluss vom Dezember 2018 in ungewöhnlich scharfen Worten - "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar" -, und es verpflichtet darüber hinaus die Bundesbank zu praktischen Konsequenzen, nämlich zur Einstellung der Mitwirkung am PSPP, sollte die EZB seinen Forderungen nicht entsprechen. Damit stellt es - präzedenzlos - seine Entscheidungen gegebenenfalls über diejenigen des EuGH.

Ein Land ist gleicher

Das Karlsruher Urteil ist bei der EU-Kommission umgehend auf offenen Widerspruch gestoßen. "Wir bekräftigen den Vorrang des EU-Rechts und die Tatsache, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle nationalen Gerichtshöfe bindend sind", teilte EU-Kommissionssprecher Eric Mamer mit.[2] Dass das Bundesverfassungsgericht nachgeben wird, ist unwahrscheinlich. Klar ist damit, dass sich von nun an Gerichte anderer Mitgliedstaaten ihrerseits auf den deutschen Präzedenzfall berufen können, sollten sie in Widerspruch zum EuGH geraten. Schon jetzt wird damit gerechnet, dass Gerichte aus Polen und aus Ungarn das tun; gegen beide Länder hat die EU, nicht zuletzt auf Betreiben der Bundesregierung, Rechtsstaatsverfahren eröffnet. Freilich läuft es den Vorstellungen Berlins zuwider, dass Warschau und Budapest gleichfalls nationales Recht über EU-Recht stellen könnten. Entsprechend erklärt das Bundesverfassungsgericht, die von ihm praktizierte Aushebelung von EU-Recht sei nur in engen Grenzen zulässig - und zwar dann, wenn ein "ausbrechender Rechtsakt" einer EU-Institution vorliege.[3] Karlsruhe ist offensichtlich der Ansicht, zur Feststellung eines solchen Rechtsakts berechtigt zu sein. Dafür, dass nach deutscher Auffassung auch Polen oder Ungarn dies beanspruchen dürften, liegen keine Hinweise vor.

EZB-Unabhängigkeit ausgehöhlt

Weitreichende Bedeutung hat das Urteil auch in ökonomischer Hinsicht. Zwar lehnt das Bundesverfassungsgericht den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB nicht prinzipiell ab; es verlangt aber, solche Käufe müssten "verhältnismäßig" sein - insbesondere im Verhältnis zu ihren Folgen für die Sparer, die Immobilienmärkte und den Bankensektor. Die EZB müsse nun einen Bericht vorlegen, in dem sie die "Verhältnismäßigkeit" ihrer Schritte sorgsam begründe. Damit schwingt sich das Bundesverfassungsgericht zum Befehlsgeber für die offiziell unabhängige EZB auf. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung angekündigt hat, bei der EZB auf die umfassende Prüfung der Anleihekäufe zu dringen.[4] Dass ausgerechnet Berlin jetzt die EZB-Unabhängigkeit aushöhlt, die es bislang stets eingefordert hat, ruft in der Finanzwelt außerhalb Deutschlands konsternierte Reaktionen hervor. Druckmittel zur Durchsetzung ist Karlsruhes Beschluss, komme die EZB seinen Forderungen nicht nach, dann müsse sich die Bundesbank von den Käufen von Staatsanleihen zurückziehen. Damit wäre das EZB-Programm kaum aufrechtzuhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat der EZB für die Erfüllung seiner Forderungen eine Frist von drei Monaten gesetzt.

"Schmerzstillende Mittel"

Darüber hinaus stellt das Bundesverfassungsgericht mit den EZB-Anleihekäufen ein Instrument in Frage, das in den vergangenen Jahren eine zentrale Rolle beim Erhalt der Stabilität der Eurozone gespielt hat. Die Eurozone leidet unverändert strukturell daran, dass der Euro den ökonomisch schwächeren Ländern die Möglichkeit nimmt, ihre unzureichende Schlagkraft vor allem gegenüber der übermächtigen deutschen Exportindustrie durch Abwertung ihrer Währung auszugleichen. Da Berlin jeden anderen Ausgleich - etwa durch ein Eurobudget oder durch Eurobonds - unerbittlich ablehnt, ist die EZB in der Krise mit dem systematischen Kauf von Staatsanleihen eingesprungen: quasi "als Apotheke für schmerzstillende Mittel" für die südlichen Eurostaaten, urteilt der emeritierte Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Wolfgang Streeck - damit "der Schmerz" in jenen Ländern "so weit gelindert werden" kann, "dass ihre politische Klasse 'proeuropäisch' bleib[t]".[5] Karlsruhe stellt dieses Modell nun in Frage. Insbesondere begrenzt das Urteil vom Dienstag "die Spielräume ... für den Kauf italienischer Staatsanleihen", urteilt Clemens Fuest, Präsident des Münchner ifo-Instituts.[6]

"Die Deutschen zuerst!"

Während das EZB-Direktorium seit Dienstag Abend Krisenvideokonferenzen abhält, äußern sich zahlreiche Ökonomen und Politiker jenseits der deutschen Grenzen entsetzt. Das Karlsruher Urteil sei eine "Kriegserklärung an den EuGH", urteilt der Ökonom Guntram Wolff, Leiter des Brüsseler Think-Tanks Bruegel.[7] Die Londoner Financial Times prangert in einer redaktionellen Stellungnahme an, die EZB sei "von fehlgeleitetem, aber unbarmherzigem juristischen Druck aus Deutschland zur Geisel genommen" worden.[8] Das Karlsruher Urteil sei "kein stabilisierendes Element", erklärt mit höflicher Untertreibung Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire.[9] Scharfe Kritik wird vor allem in Italien laut, dessen ökonomische Stabilität von dem Karlsruher Urteil ernsthaft gefährdet wird. "Es kommt keinem Verfassungsgericht zu, zu entscheiden, was die EZB machen kann oder nicht", erklärte Ministerpräsident Giuseppe Conte gestern in einem Interview; "auch Deutschland" habe die Unabhängigkeit der Bank anerkannt.[10] In italienischen Finanzkreisen heißt es, das Bundesverfassungsgericht habe "von Conte bis Prodi alle" im Land gegen sich aufgebracht; Italiens ehemaliger Premierminister Enrico Letta wird mit der Feststellung zitiert: "Die Deutschen haben "Die Deutschen zuerst!" gesagt."[11]

Als "Feind" eingestuft

Das Urteil erhöht den ökonomischen Druck auf Italien zu einer Zeit, zu der im Land ohnehin der Unmut über Deutschland rasch wächst. Auslöser waren zuletzt die Weigerung, Italien in der Covid-19-Pandemie zu Hilfe zu kommen, die Schließung der Grenzen sowie die Verhinderung jeder Art von "Coronabonds", mit denen sich Rom über die Krise retten wollte.[12] Eine Umfrage zeigte vor kurzem, dass knapp die Hälfte der Bevölkerung Deutschland als "Feind" einstuft - mehr als jedes andere Land.[13] Heftiger Unmut über die Bundesrepublik hat dabei auch linksliberale, traditionell Deutschland und der EU gegenüber positiv eingestellte Milieus in den italienischen Eliten erreicht.[14]


Anmerkungen:

[1] Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig. Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 32/2020 vom 5. Mai 2020.

[2] Eszter Zalan: German court questions bond-buying and EU legal regime. euobserver.com 06.05.2020.

[3] Corinna Budras: Auf dem Höhepunkt des Argwohns. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.05.2020.

[4] Staatsanleihenkäufe der EZB teilweise verfassungswidrig. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.05.2020.

[5] Die Zeitbombe ist der Verfall Italiens. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.05.2020.

[6] Christian Siedenbiedel: EZB-Urteil lässt die Märkte kalt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.05.2020.

[7] Eszter Zalan: German court questions bond-buying and EU legal regime. euobserver.com 06.05.2020.

[8] A misguided court judgment in Germany. ft.com 05.05.2020.

[9] BCE: la décision de la justice allemande «n'est pas un élément de stabilité», réagit Le Maire. lefigaro.fr 06.05.2020.

[10] Maddalena Oliva, Marco Travaglio: Coronavirus, Conte al Fatto: "Se gli italiani continuano così, il contagio non risale. Ma la crisi sarà dolorosa". ilfattoquotidiano.it 06.05.2020.

[11] Laura Naka Antonelli: Bce è indipendente: da Conte a Prodi tutti contro Karlsruhe. Letta: Germania ha detto "prima i tedeschi". finanzaonline.com 06.05.2020.

[12] S. dazu Wer die Regeln setzt
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8233/
und Germany First (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8238/

[13] S. dazu Die Verdächtigungskampagne
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8250/

[14] S. dazu Die Solidarität der EU (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8220/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2020

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