Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → MEINUNGEN


STANDPUNKT/088: Wer hat, dem wird gegeben (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 6. Mai 2020
german-foreign-policy.com

Wer hat, dem wird gegeben

Coronakrise und Corona-Hilfsmaßnahmen verstärken Ungleichheit und die Nord-Süd-Spaltung der EU. Deutschland baut seine Vormacht aus.


BERLIN - Deutsche Außenpolitik-Experten und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warnen vor einer weiter wachsenden ökonomischen Spaltung der Union durch die Brüsseler Corona-Hilfsmaßnahmen. Die bisherige Reaktion der EU auf die Coronakrise führe dazu, dass Unternehmen in wirtschaftsstärkeren Staaten mehr Unterstützung erhielten als ihre Konkurrenten in höher verschuldeten Ländern, heißt es in einer Kurzanalyse aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Deutsche Konzerne stünden dann nach der Krise vermutlich besser da als etwa ihre italienische Konkurrenz. Borrell urteilt, "die Nord-Süd-Spaltung" der Union, die zwar schon vor der Krise existiert habe, "könnte nach ihr noch ausgeprägter ausfallen". Die wachsende Ungleichheit bedrohe perspektivisch "das politische Projekt" der EU, heißt es bei der DGAP. In der EU-weiten Konkurrenz profitieren deutsche Unternehmen auch davon, dass bereits die nationalen Corona-Hilfsmaßnahmen sie in besonderem Maß begünstigen, indem sie die Umverteilung von unten nach oben forcieren - eine Entwicklung, die die Krise ohnehin verschärft.

Gesellschaftliche Ungleichheit

Die Coronakrise verstärkt schon an sich die bestehende soziale und ökonomische Ungleichheit in mehrfacher Hinsicht. So zeigen Untersuchungen, dass schlechter bezahlte Arbeitskräfte einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind als Wohlhabende: Sie sind bei vielen "systemrelevanten" Tätigkeiten, die während aller Phasen des Lockdowns ausgeübt wurden, überproportional vertreten - so etwa in der Pflege innerhalb wie außerhalb der Krankenhäuser oder im Supermarkt. Außerdem sind sie einem signifikant höheren Sterberisiko ausgesetzt, weil Vorerkrankungen sozial ungleich verteilt sind.[1] Hochbezahlte Berufstätigkeiten können oft in Heimarbeit fortgesetzt werden, während Millionen Empfänger niedriger Löhne, die häufig körperliche Arbeit verrichten, nur reduziertes Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld erhalten und empfindliche Einbußen erleiden.[2] Die gesellschaftliche Kluft wird dadurch weiter verschärft.

Umverteilung nach oben

Die Umverteilung von unten nach oben weiter zu forcieren drohen die Covid-19-Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung für die deutsche Wirtschaft. So werden umfangreiche staatliche Hilfen sowie Kurzarbeitergeld auch dann gewährt, wenn das betreffende Unternehmen seine Profite durch die Nutzung von Firmensitzen in Steueroasen oder Niedrigsteuerländern [3] mehrt, wenn es an seine Aktionäre trotz der Krise Dividenden ausschüttet oder wenn es Aktienrückkäufe tätigt, um seine Ausschüttungen auf eine geringere Zahl von Aktionären verteilen zu können und damit künftige Dividenden in die Höhe zu treiben. Andere Staaten, etwa Dänemark und Frankreich, weigern sich, Unternehmen in den genannten Fällen aus Finanznöten zu retten. Anders die Bundesregierung. Sie unterstützt zum Beispiel die Lufthansa, obwohl diese drei Tochterfirmen in Steueroasen und drei Dutzend weitere in Niedrigsteuerländern unterhält.[4] Sie hat etwa Adidas einen staatlich garantierten Kredit in Höhe von 2,4 Milliarden Euro gewährt, obwohl der Konzern seit 2018 mehr als zwei Milliarden Euro für Aktienrückkäufe ausgegeben hat; die bislang letzten tätigte er am 16. März.[5] Siemens kaufte im März und im April sogar Aktien im Wert von 1,2 Milliarden Euro zurück, schickte aber zugleich 3.000 Beschäftigte in staatlich finanzierte Kurzarbeit. Die Beispiele ließen sich zahlreich vermehren.

Deutschlands Vorsprung wächst

Hinzu kommt, dass die Coronakrise zu einer ungleichen Entwicklung auf EU-Ebene führt. Das zeigt exemplarisch ein Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich. Das französische Bruttoinlandsprodukt ist bereits im ersten Quartal um 5,8 Prozent eingebrochen - deutlich mehr als etwa in Italien (-4,7 Prozent) und in Deutschland, wo mit einer Schrumpfung zwischen 2 und 3 Prozent gerechnet wird. Der Lockdown in Frankreich zum Schutz der Bevölkerung ist härter als derjenige in Deutschland; die französische Ausgangssperre soll erst ab dem 11. Mai schrittweise gelockert werden - also später als diejenige in der Bundesrepublik. Ökonomen rechnen deshalb für das zweite Quartal ebenfalls mit einem deutlich höheren Wirtschaftseinbruch in Frankreich; von möglicherweise bis zu 25 Prozent ist die Rede.[6] Damit fällt Paris aller Voraussicht nach ökonomisch noch weiter hinter Berlin zurück; der deutsche Vorsprung wächst. Weiter zurückfallen wird voraussichtlich auch Italien. So prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF), der Deutschland für das Gesamtjahr 2020 einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um 7,0 Prozent voraussagt, Italien einen Absturz um sogar 9,1 Prozent.[7]

Wachsende Ungleichgewichte

Die sich ausweitende ökonomische Kluft in der Eurozone wird durch die spezifische Ausgestaltung der Corona-Hilfsmaßnahmen der EU wohl zusätzlich verstärkt. Darauf haben Ökonomen in einer von der Nachrichtenagentur Bloomberg publizierten Kurzanalyse schon Anfang April hingewiesen. Demnach werden finanzstarke Staaten, "insbesondere Deutschland", ihren Unternehmen wohl mit "robusten" Finanzhilfen unter die Arme greifen, die in der aktuellen Krise für zulässig erklärt wurden, während stärker verschuldete Staaten, etwa Italien, dazu nicht im selben Maße in der Lage sind.[8] Nach der Krise, heißt es in der Kurzanalyse weiter, werden sich Unternehmen aus Ländern wie Italien dann einer durch Staatshilfen wohl erheblich gestärkten Konkurrenz aus Ländern wie Deutschland gegenübersehen und größere Schwierigkeiten haben, sich zu behaupten; das werde die Ungleichgewichte in der Union noch weiter verstärken. Es sei sogar möglich, dass Unternehmen, die dank staatlicher Unterstützung - relativ - gestärkt aus der Krise gingen, in der Lage sein werden, "schwächere europäische Wettbewerber zu übernehmen", urteilen die Autoren. Sie sprechen vom "Ende des europäischen Traums".

"Politische Verbitterung"

Einschätzungen in diesem Sinne sind mittlerweile auch aus deutschen Think-Tanks zu vernehmen. So weist etwa Shahin Vallée vom Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) darauf hin, dass die krisenbedingte Aufhebung der Einschränkungen für Staatshilfen vor allem Firmen aus denjenigen Ländern zugute kommt, die die meisten Reserven dafür mobilisieren können. Das werde die Ungleichgewichte im Binnenmarkt verstärken, warnt Vallée.[9] Zudem müsse man in Rechnung stellen, dass auch die Mittel, die Arbeitslosen und privaten Haushalten zur Verfügung gestellt werden könnten, in der Bundesrepublik zumindest potenziell deutlich größer seien als "etwa in Italien oder in Spanien". Dass Berlin EU-Unterstützung für die Mitgliedstaaten bislang nur unter der Bedingung gewähren wolle, dass die Empfänger strikter politischer Kontrolle unterworfen würden, drohe sich "für Europa als ökonomisch und politisch destruktiv zu erweisen", warnt Vallée: "Es pflanzt die Samen wirtschaftlicher Schwäche und politischer Verbitterung". Verweigerten Berlin und Brüssel nun eine Kurswende, dann verliere "das politische Projekt" der EU "seine Seele".

"Gefahr für das europäische Projekt"

Mittlerweile hat sich sogar der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell öffentlich den Warnungen angeschlossen. Man müsse sicherstellen, heißt es in einer Stellungnahme Borrells für den European Council on Foreign Relations (ECFR), dass die nationalen Corona-Hilfsmaßnahmen nicht "den Binnenmarkt untergraben".[10] Unternehmen in wirtschaftsstärkeren Ländern, die von "robusteren" Unterstützungsprogrammen als ihre Konkurrenz in wirtschaftsschwächeren Ländern profitierten, könnten nach der Krise "einen entscheidenden Vorteil" haben; dies werde die Ungleichgewichte im Binnenmarkt unweigerlich verstärken. "Die Nord-Süd-Spaltung, die schon vor der Krise existierte, könnte nach ihr noch ausgeprägter ausfallen", warnt Borrell, der ausdrücklich darauf hinweist, die deutschen Corona-Hilfsprogramme seien viel umfangreicher als diejenigen in Italien oder in Spanien. "Obwohl die Ursprünge der Pandemie sie zu einer symmetrischen Krise machen, sind ihre Konsequenzen hochgradig asymmetrisch", konstatiert der EU-Außenbeauftragte, "und in sozialer und geographischer Hinsicht werden ihre immensen Kosten nicht gleichmäßig verteilt". Borrell folgert, das werde in Zukunft "unweigerlich die Unterstützung der Bevölkerung für das europäische Projekt beeinträchtigen".


Anmerkungen:

[1] Jan Paul Heisig, Christian König: Wie und warum die gesundheitlichen Folgen der Pandemie vom sozialen Status abhängen. wzb.eu 24.04.2020.

[2] Lenz Jacobsen, Parvin Sadigh: Hierarchie der Not. zeit.de 21.03.2020.

[3] Auf der EU-Liste der Steueroasen sind verzeichnet: American Samoa, Cayman Islands, Fischi, Guam, Oman, Palau, Panama, Samoa, Trinidad und Tobago, U.S. Virgin Islands, Vanuatu, die Seychellen. NGOs kritisieren weitere Niedrigsteuerländer, darunter Luxemburg, die Niederlande und die Schweiz.

[4] Frederik Obermaier, Klaus Ott: Erst im Steuerparadies, dann vom Staat gerettet? sueddeutsche.de 30.04.2020.

[5] Ulf Sommer: Trotz Corona-Einbußen: Dax-Konzerne ziehen Aktienrückkäufe für fünf Milliarden Euro durch. handelsblatt.com 28.04.2020.

[6] Schlusslicht Frankreich. Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.05.2020.

[7] Gita Gopinath: The Great Lockdown: Worst Economic Downturn Since the Great Depression. blogs.imf.org 14.04.2020.

[8] Elena Carletti, Marco Pagano, Loriana Pellizon, Marti G. Subrahmanyam: Germany Will Be a Post-Coronavirus Winner. bloomberg.com 09.04.2020.

[9] Shahin Vallée: Coronavirus Has Revealed the EU's Fatal Flaw. dgap.org 28.04.2020.

[10] Josep Borrell: The post-coronavirus world is already here. ecfr.eu 30.04.2020.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang