Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → MEINUNGEN


STANDPUNKT/032: Warum Europa? (spw)


spw - Ausgabe 1/2017 - Heft 218
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Warum Europa?

von Gesine Schwan [1]


Bis vor drei, vier Jahren gab es prinzipielle Gegner der Europäischen Union nur auf der politischen Rechten. Der französische Front National gehörte prominent zu den Ablehnern und wurde zunehmend stärker, aber eigentlich glaubte wohl niemand aus dem Spektrum der demokratischen Parteien, dass er einmal durchschlagenden Erfolg haben und die EU auseinanderbringen könnte. Heute sorgen sich alle politischen Beobachter eben davor. Wie ist es dazu gekommen?

Inzwischen sind wir in einer Situation angelangt, in der erhebliche Zweifel am dauerhaften Bestand nicht nur der Eurozone, sondern der Europäischen Union insgesamt sich weiter verbreiten. Sie verbinden sich mit der Sorge vor den überwältigenden Folgen der ökonomischen Globalisierung, als deren Treiber die EU wahrgenommen wird, die soziale und ökonomische Unsicherheit für viele mit sich bringt und für sie politisch den Nationalstaat als letzte Sicherung und kulturell einen chauvinistischen Nationalismus wieder attraktiv macht.


Welches Europa soll angestrebt werden?

Dabei muss man unterscheiden: Wer den Euro zugunsten der Rückkehr in die nationale Währung oder in eine Währungsschlange, wie sie vor dem Euro bestanden hatte, ablehnt, will nicht notwendig die Europäische Union verlassen. Er will häufig - wie z.B. der Sozialdemokrat Fritz Scharpf - die nationalen sozialen Sicherungen und Mitbestimmungsrechte auch gegen eine als neoliberal wahrgenommene EU-Kommission erhalten und sich gegen eine "Schleifungspolitik" durch den Europäischen Gerichtshof wehren. So wird die EU - nicht nur auf der Linken, sondern auch in der politischen Mitte - wegen bestehender Demokratiedefizite inzwischen sehr kritisch gesehen.

Dahinter steht, z.B. bei Dieter Grimm der Gedanke, dass Demokratien eine gemeinsame politische Öffentlichkeit als kontrollierenden Kommunikationsraum brauchen, der in der EU schon wegen der unterschiedlichen Sprachen nicht bestehe. Danach sollte die EU sich auf eine kleine Zahl von gemeinsamen Institutionen und Handlungsfeldern beschränken und nicht deren Ausweitung durch eine Vertiefung der Integration der Nationalstaaten anstreben. Bei näherem Hinsehen gibt es also nicht nur verschiedene politische Haltungen gegenüber der EU, sondern auch verschiedene Vorstellungen von dieser EU wie sie jetzt ist und wie sie sein sollte. Kaum jemand glaubt noch, dass die EU und der Euro in ihrer gegenwärtigen institutionellen Verfassung und mit der bisher betriebenen Europapolitik der Mitglieder, insbesondere Deutschlands, erhalten werden kann. Die sog. Finalität der Union, die über Jahrzehnte undefiniert bleiben konnte, muss wieder thematisiert werden, auch wenn die nächsten pragmatischen Schritte sie sicher nicht erreichen können.

Die Frage: "Warum Europa?" lässt sich also nicht unabhängig von der Klärung der Frage, "welches Europa" wir anstreben, beantworten. Das Spektrum der Vorstellungen erstreckt sich von der Idee eines übernationalen europäischen Staatsgebildes bis zu einem lockeren Staatenbund mit einem gemeinsamen Markt, vielleicht einfach nur einer Freihandelszone, wie Präsident Trump sie gerade für Südostasien leicht aufkündigen konnte. Diese jüngste Erfahrung mit Trump, aber auch mit dem Brexit-Votum in Großbritannien erzwingt die Frage: Wie dauerhaft soll Europa als "Europäische Union" sein und welche Kompetenzen sollen gemeinsam ausgeübt werden?

Die Idee der Gründerväter zielte auf eine dauerhafte Union ohne Ausstiegsmöglichkeit. Das gilt auch für den Euro. Deshalb gibt es kein reguliertes Ausstiegsverfahren. Wenn dies erst einmal vorgesehen würde, so das Argument, könnte man das ganze Vorhaben gleich aufgeben, weil keine Verlässlichkeit entstehen könnte.

Unter dieser Bedingung heißt für mich "Europa" eine dauerhafte Vereinigung, die über den gemeinsamen Markt hinausgeht und langfristig auf die Integration zentraler politischer/ staatlicher Aufgaben zielt, allerdings nicht einfach durch eine kurzfristige konstitutionelle Übertragung weiterer Kompetenzen an Brüssel, d.h. eine top-down-Integration, sondern durch eine wirklich partnerschaftliche gemeinsame Beratung der Politiken in den drei europäischen Institutionen Parlament, Kommission und Rat.


Die hausgemachte Desintegrationskrise der EU

Wenn man prüft, weshalb die EU an den Rand der Desintegration geraten ist, muss man sowohl ihre Institutionen, als auch die laufende Politik der letzten Jahre vor dem Hintergrund weltweiter Entwicklungen betrachten. Dabei zeigt sich, dass es seit der Bankenkrise 2008 wesentliche Veränderungen gegeben hat. Heraus sticht dabei die Politik der deutschen Regierung, die maßgeblich war für die Umdefinition der Bankenkrise in eine Staatsschuldenkrise. Damit hat sie die gerade diskreditierte neoliberale Politik "rehabilitiert", der zufolge eine falsche staatliche Politik und nicht ein Fehlverhalten der Märkte und privater Akteure Grund für die Krise war. Dieselbe deutsche Politik hat in der Folge eine solidarische Lösung der massiven Wirtschaftsschwierigkeiten in den Nachbarländern bis heute konstant abgelehnt, eine Reihe von europäisch relevanten Entscheidungen (vor allem die Durchsetzung der neoliberalen Politik, z.B. der Schuldenbremse, aber auch der Energiewende) dominant betrieben oder quasi im Alleingang getroffen und damit den Zusammenhalt der EU ebenso wie solidarische Hilfe unterminiert.

Diese Politik hat die Probleme seit 2008 nicht gelöst, sondern immer wieder so aufgeschoben, dass sie sich nun stapeln. Dazu gehört das politische Regime, das den (im Wesentlichen durch die Bankenkrise) verschuldeten sogenannten Reformländern aufgezwungen wurde. Dies hat zu einem erheblichen institutionellen Wandel und zur Beschädigung der Demokratie in Europa geführt. Denn in den Reformländern wurde diese weitgehend außer Kraft gesetzt, weil die Troika eine Wirtschaftspolitik oktroyiert hat, mit weitgehenden Eingriffen in die Wirtschafts-, Sozial- und Tarifpolitik, die eigentlich keineswegs in der EU-Kompetenz liegen und die den sozialen Zusammenhalt in den Ländern schwer beeinträchtigt haben. Nach dem Motto: Wer zu hohe Schulden hat (wie immer sie entstanden sind), verliert den Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung.

Darüber hinaus hat in der Krise, die immer die Exekutive stärkt, der Europäische Rat faktisch die gesamte Entscheidungsmacht an sich gezogen. Und die neu installierte Eurogruppe konnte ohne rechtlich transparente Legitimationsbasis faktisch die entscheidenden Weichenstellungen im Umgang mit den "Reformländern", mit Auswirkung auf die gesamte Union vornehmen - auch wenn deren Letztentscheidung formal beim Europäischen Rat, letztlich bei den Regierungschefs, (faktisch bei Finanzminister Schäuble und Kanzlerin Merkel), blieb. Die damit oktroyierte neoliberale Politik hat in vielen Ländern die grassierende Arbeitslosigkeit und Misere der ärmeren Bevölkerungsschichten gesteigert.

Zusammengefasst: Mit der Umdeutung der Bankenkrise in die Staatsschuldenkrise in der Eurozone im Laufe des Jahres 2010, der damit einhergehenden ursächlichen Zuordnung der entstandenen Wirtschafts- und Finanzprobleme zum Haushaltsgebaren von Nationalstaaten statt zu den Handlungen von transnationalen privaten (oder auch öffentlichen) Banken und der Spekulation auf die Zahlungsunfähigkeit von Staaten durch die Finanzmärkte, begannen in der Europäischen Union im Bereich des Währungsverbundes erhebliche Zweifel am politischen Vorteil der Zugehörigkeit zu ihr zu sprießen. Vor allem mit den Programmen der Eurogruppe für die "Programmstaaten" (und später der Troika für Griechenland), die auf finanzielle Hilfen angewiesen waren, nahmen die Zweifel an den Vorzügen der EU, bzw. des Euroraums auch auf der Linken zu.


Ein soziales und demokratisches Europa ermöglicht ein Leben in Würde für alle Menschen

Vor dem Hintergrund einer deregulierten Globalisierung, die die Diskrepanz zwischen Arm und Reich überall massiv verschärft hat, wurde die EU so als politisches Instrument der sozialen Verunsicherung und des drohenden sozialen Abstiegs wahrgenommen, gegen die nun von der politischen Rechten der Nationalstaat als sicherer Hafen propagiert werden konnte. Welche wirtschafts-, klima- und sicherheitspolitischen Gründe für die Notwendigkeit der EU zur Selbstbehauptung der Europäer gegen "den Rest der Welt" auch immer angeführt wurden und werden - sie verfangen nicht angesichts der erfahrenen fundamentalen sozialen Verunsicherungen und Entwertungserfahrungen. So haben eine unsolidarische Politik der Staats- und Regierungschefs unter der Dominanz der deutschen Bundesregierung und institutionelle Veränderungen, die die Demokratie ausgehöhlt haben, die Europäische Union an den Rand des sozialen und politischen Zerfalls gebracht.

Warum also nun noch Europa und welches? Oder besser umgekehrt gefragt: welches Europa und warum dieses? Meine Antwort lautet: Wir brauchen ein soziales und demokratisches Europa, weil dies ein Leben aller Menschen in Würde am besten ermöglicht. Allein die Größe Europas - auch des gemeinsamen Marktes - bietet die Chance, diese Regierungs- und Lebensform in einer unsicheren Welt zu praktizieren und auch anderen Gesellschaften in anderen Kontinenten zu ermöglichen. Es geht also nicht um eine politische oder gar ökonomische Strategie gegen den Rest der Welt, sondern um eine, die global ein würdiges, freies, solidarisches und gerechtes Leben ermöglicht. Ermöglichen heißt noch nicht sichern. Denn zur Verwirklichung und Sicherung braucht es immer das konkrete Handeln der Bürgerinnen und Bürger. Wie kommen wir da hin?

Wie für die Ursachenanalyse müssen wir die laufende Politik und die Institutionen betrachten. Für die laufende Politik brauchen wir eine radikale Abkehr von der erzwungenen neoliberalen, angebotstheoretischen Politik ohne Solidarität und mit zunehmender sozialer Verunsicherung, hin zu nachhaltigen, gut durchdachten und transparenten Investitionen. Das geht nur mit einem Regierungswechsel in Deutschland. Eine alternative Wirtschaftspolitik zur Austerität in der EU muss vor allem zur Überwindung der Arbeitslosigkeit (z.B. in der Energieeffizienz, im klimaneutralen Bauen, in langfristig durchdachter Mobilität, in der Bildung, in verschiedenen Arten der Infrastrukturpolitik), aber auch zur sozialen Integration (Konfliktvermeidung, Stärkung von Kooperation, Kultur, Sport, kluge Freizeitangebote) und nicht zuletzt zu Innovationen (wieder: kreative Bildungskonzepte, Projektlernen) führen. Zudem brauchen wir in einer in sich immer weiter ausdifferenzierenteren Gesellschaft mehr interkulturelle Verständigung, nicht nur zwischen In- und Ausländern, sondern auch zwischen Generationen, Regionen, Berufen, oder im Geschlechterverhältnis, damit Unterschiede und Spannungen sich produktiv auswirken können.


Europa auf der kommunalen Ebene stärken

Für all das sind die Gemeinden vorzügliche Orte. Hier muss nicht, wie auf der Ebene der nationalen Regierungen, die Konkurrenz um politische Macht vorherrschen, hier können Probleme zwischen Politik, den Unternehmen und der organisierten Zivilgesellschaft (Gewerkschaften, Kirchen, Verbände, Bürgerinitiativen) verhandelt werden, für langfristige Lösungen in überschaubaren Räumen. Multi-Stakeholder-Kooperationen sollten die demokratische Beteiligung im vorstaatlichen Feld fördern. Hier bietet sich die Chance einer verstärkten Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit Europa durch eine intensivere Partizipation und Mitgestaltung ihrer Lebenswelt. Und die einer horizontalen europäischen Integration, ohne undemokratischen Zentralismus auf der einen und ohne Renationalisierung auf der anderen Seite.

Hier böte sich auch eine zukunftsweisende, humanitäre Antwort auf die Flüchtlingswanderungen nach Europa. Wenn die EU sich bereitfinden würde, einen Fond einzurichten, bei dem sich Gemeinden mit handhabbaren (!) Antrags- und Abrechnungsverfahren um die Finanzierung von Integration und zusätzlich um dieselbe Summe für nachhaltige, Arbeitsplätze schaffende Investitionsprojekte bewerben könnten, würden wir unter 500 Millionen Einwohnern genug Platz finden für eine menschenfreundliche und zugleich Kreativität und Produktivität fördernde Aufnahme von Flüchtlingen. Das wäre eine bürgernahe, nachhaltige Wachstumspolitik. Davon bleibt unbenommen die Notwendigkeit, die Fluchtursachen zu bekämpfen (auch systemisch, z.B. durch eine wirklich faire Handelspolitik) und die Flüchtlingslager in der Nähe der Fluchtorte besser zu unterstützen. Wir haben die Wahl: Wollen wir uns - psychoanalytisch gesprochen - in Europa regressiv abschotten, was nekrophil unsere Kreativität verkümmern lässt, oder wollen wir uns mutig für eine herausfordernde Zukunft öffnen, die zunächst anstrengend sein mag, uns aber Belohnungen für neue kreative Entwicklungen bereit hält? Hier lädt uns gerade die kommunale Ebene zur politischen Partizipation ein.

Aber wir brauchen auch auf der zentralen Ebene gerechter organisierte, gemeinsame Entscheidungen in Europa, um übergreifende Belange zu regeln und unserer Rolle in der Welt nachkommen zu können. Sie sollten sich an den 2015 verabschiedeten 17 Nachhaltigkeitszielen orientieren.


"Europa geht auch solidarisch"

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind nicht nur unsere Grundwerte, sondern auch die realpolitisch notwendigen Leitplanken, um hier langfristig voranzukommen. In der von Klaus Busch, Axel Troost, Frank Bsirske, Gesine Schwan u.a. veröffentlichten Streitschrift [2] "Europa geht auch solidarisch" haben wir sechs notwendige gemeinsame Schritte für die zukünftige Politik in der EU und in der Eurozone genannt: Wir brauchen eine expansive nachhaltige Wirtschafts- und Investitionspolitik, eine Ausgleichsunion gegen die großen Leistungsbilanzungleichgewichte in der Eurozone, eine gemeinsame Schuldenpolitik mit Eurobonds und einem Tilgungsfonds zum Abbau der Staatsschulden, eine Sozialunion für eine gemeinsame Beschäftigungs-, Lohn und Einkommenspolitik, eine harte Regulierung der Finanzmärkte und eine demokratisch gewählte und kontrollierte gemeinsame Wirtschaftsregierung, die die Währungsunion fiskalpolitisch komplettiert.

Dazu bietet sich an, den Stabilitäts- und Wachstumspakt um überprüfbare Sozialkriterien zu erweitern. Zudem sollte im "Europäischen Semester" das EU-Parlament, ergänzt durch Repräsentanten der nationalen Parlamente, eine aktivere Rolle spielen. Leitziele der jeweils anzustrebenden gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik müssten öffentlich kontrovers diskutiert und dem TINA-Prinzip ("there is no alternative") so ein Ende gesetzt werden. Das würde zugleich die von Dieter Grimm immer angemahnte europäische Öffentlichkeit fördern, denn die Beteiligung nationaler Parlamentarier am Europäischen Semester von Beginn an erlaubt die parallele und überschneidende Diskussion der Probleme in den verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten.

Zentral für die damit bezweckte Erneuerung und Stärkung der demokratischen Legitimation der EU ist vor allem Transparenz. Wer in der Eurogruppe, im Rat und in dessen beratenden Kommissionen für welche Politik gestimmt hat, muss endlich klar werden, damit sich die nationalen Vertreter nicht weiter verstecken und der EU den Schwarzen Peter für unliebsame Entscheidungen zuschieben können, die sie selbst getroffen haben.

Die Kernfrage wird lauten: Sind wir fähig und bereit, auf der Grundlage einer fairen Ursachenanalyse der europäischen Banken-, Wirtschafts- und Finanzkrise und der damit einhergehenden zunehmenden politischen Krise, in der die Legitimität der EU-Entscheidungen nun grundlegend infrage gestellt wird, in unseren nationalen Wählerschaften genügend Rationalität, politische Verantwortung, Teilhabe und grundlegend: Solidarität aufzubringen, um die wirtschaftliche, soziale und politische Genesung Europas zu schaffen? Sie ist für unser demokratisches Überleben unverzichtbar, auch ganz handfest, um durch öffentliche Investitionen nachhaltiges Wachstum in ganz Europa, Arbeitsplätze und Perspektiven insbesondere für die Jugend zu bieten, der politischen Rechten ihre Wähler wieder abzuwerben und uns gegen protektionistische Tendenzen in Großbritannien ebenso wie in den USA erfolgreich zu wehren.


Für eine Neuausrichtung der deutschen Europapolitik

Dazu gehören dann auch europäische Entwicklungsanleihen, die dem Grundsatz, dass gemeinsame Haftung gemeinsame Entscheidung und Verantwortung braucht, durchaus genügen würden. Denn sie würden ja nicht nationalen, sondern gemeinsam europäisch beschlossenen Investitionen dienen, im Grunde einer europäischen Industriepolitik für einen gemeinsamen Wirtschaftsaufschwung. Gerade als Exportland braucht Deutschland einen potenten europäischen Absatzmarkt gegen die zunehmenden Gefährdungen des globalen Freihandels. Dieser Markt ist auf Zusammenhalt zwischen den Ländern Europas angewiesen, die den Maastrichter "Standortwettbewerb" des Lohn- und Steuerdumpings beenden müssen. Im wohlverstandenen nationalen Interesse benötigen wir eine Ablösung der jahrelangen Kurzsichtigkeit in der deutschen Europapolitik.

Solidarität ist aber auch als letztlich sinnstiftende Kultur des Zusammenlebens unverzichtbar. Die berechnende und hoch kompetitive Kultur des Neoliberalismus entwurzelt und vereinzelt die Menschen, ängstigt sie, führt zu einer allgemeinen sozialen Feindseligkeit und zu Ressentiments. Sie zerstört den menschlichen Zusammenhalt. Solidarität auf der Basis von Gerechtigkeit führt Menschen zusammen und schenkt Sinn und Glück.

In seiner Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles die Haltung der Gerechtigkeit als höchste menschliche Tugend. Sie gipfelt und ankert gleichzeitig im "Gütigen", d.h. in der Fähigkeit und Bereitschaft der Menschen, die unvermeidlichen Unzulänglichkeiten der Gerechtigkeit durch großzügigen Verzicht der besser Gestellten auf etwas, was ihnen zustehen, aber Schwächere noch mehr schädigen würde, auszugleichen. Wir nennen das heute Solidarität. Ohne sie können sich weder Gerechtigkeit noch eine demokratische Europäische Union halten.

Wir wollen Europa, um Demokratie, also politische Freiheit, Gerechtigkeit und ein solidarisches Zusammenleben bei uns und weltweit zu stärken, auch in den USA, die in ihrer Unabhängigkeitserklärung bis heute gültig erklärt haben:

"Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten..." (Deutsche Übersetzung von 1776 [3]).

In Zeiten, da die USA in eine erhebliche soziale und politische Krise geraten sind, muss Europa sich zusammenfinden und umso ruhiger vorangehen.


Anmerkungen:

[1] Prof. Dr. Gesine Schwan ist Präsidentin und Mitgründerin der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform und leitet die SPD-Grundwertekommission.

[2] Klaus Busch/Axel Troost/Gesine Schwan/Frank Bsirske u.a. (2016): Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere EU, VSA: Hamburg.

[3] Im Original: "We hold these things to be self-evident: that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed..."

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2017, Heft 218, Seite 27-31
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Westfälische Str. 173, 44309 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
 
Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 7,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Euro 49,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang