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OFFENER BRIEF/005: Stoppt Mercosur, solange Brasilien Menschenrechte verletzt, den Klimawandel leugnet und die Umwelt zerstört (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro München
Nachricht vom 22. Juni 2019

Offener Brief an die EU: stoppt Mercosur, solange Brasilien Menschenrechte verletzt, den Klimawandel leugnet und die Umwelt zerstört



Brandrodung im Urwald - Foto: Icaro Cooke Vieira / CIFOR cifor.org / CC BY-NC-ND 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/]

Foto: Icaro Cooke Vieira / CIFOR cifor.org / CC BY-NC-ND 2.0
https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

Über 340 nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen aus über 45 Ländern, darunter zahlreiche auch aus Deutschland und Österreich, fordern in einem gemeinsamen offenen Brief an die EU, die aktuell laufenden Verhandlungen zum Freihandelsabkommen der EU mit dem lateinamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur zu stoppen, zu dem auch Brasilien unter der neoliberalen Führung von Jair Bolsonaro gehört.

Grund: solange die brasilianische Regierung Klimaleugner in Ministerien beruft, Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt, indem sie lang etablierte soziale Bewegungen als Terroristen einstuft, die Rechte indigener Völker missachtet und Umweltverbrechen wie die Abholzung des Regenwaldes zugunsten von Agrarkonzernen begeht, muss die EU die Verhandlungen aussetzen.

Der offene Brief ist auch auf Englisch [1], Französisch [2], Spanisch [3], und Portugiesisch [4] verfügbar:



Sehr geehrter Präsident des Europäischen Rats,
sehr geehrter Präsident der Europäischen Kommission,
sehr geehrter Präsident des Europaparlaments,

wir, die unterzeichnenden zivilgesellschaftlichen Organisationen, fordern die Europäische Union auf, ihren Einfluss zu nutzen, um eine Verschlechterung der Menschenrechte und der Umweltsituation in Brasilien zu verhindern.

Im April forderten [5] mehr als 600 europäische Wissenschaftler*innen und zwei brasilianische Indigenen-Organisationen, die 300 brasilianische Indigenen-Gruppen vertreten, die EU auf, beim Schutz der Menschenrechte, der Menschenwürde und eines bewohnbaren Klimas weltweit eine führende Rolle zu übernehmen, indem sie Nachhaltigkeit zum Eckpfeiler ihrer Handelsverhandlungen mit Brasilien macht. Wir unterstützen diesen Aufruf voll und ganz.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben sich durch den Vertrag über die Europäische Union dazu verpflichtet, die Menschenrechte als übergreifendes Ziel in ihren Beziehungen zu anderen Ländern zu achten und zu fördern. Auch die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström hat hervorgehoben [6], dass neue EU-Handelsabkommen notwendig sind, um nachhaltige Entwicklung zu erreichen.

Seit dem Amtsantritt des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro im Januar 2019 haben wir zunehmende Menschenrechtsverletzungen sowie Angriffe auf Minderheiten, indigene Völker, LGBTQ und andere Traditionsgemeinschaften beobachtet. Darüber hinaus bedroht die Regierung weiterhin die grundlegende demokratische Funktionsweise der Zivilgesellschaft und leitet zugleich einen schweren Angriff auf einige der weltweit kostbarsten und ökologisch wertvollsten Regionen ein.

Wir sind über folgende Punkte tief besorgt:

- Die Grenzziehung indigener Gebiete wurde der Rechtshoheit des Landwirtschaftsministeriums [7] unterstellt. Dadurch wird mächtigen Vieh- und Soja-Agrarkonzernen [8] der Weg bereitet, ihren Marsch durch den Amazonas, den größten Tropenwald der Welt, und die Cerrado, die artenreichste Savanne der Welt, zu beschleunigen.

- Es gab einen dramatischen Anstieg der Angriffe auf indigene Völker, andere Traditionsgemeinschaften und ihre Gebiete. Im Februar gab es Berichte [9] über mindestens 14 geschützte indigene Gebiete, die von Eindringlingen angegriffen wurden. Darüber hinaus hat die Regierung mehr als 35 nationale Räte für soziale Teilhabe abgeschafft. Angriffe [10] auf Menschen, die ihr Gebiet oder ihre natürlichen Lebensgrundlagen verteidigen wollen, nehmen im ländlichen Brasilien zu. Diese führen vermehrt zu Tötungen von Gemeindevorsteher*innen, Landwirt* innen und Aktivist*innen.

- Bolsonaros Wahlversprechen, "jede Form von Aktivismus zu beenden" [11], wurde an seinem ersten Amtstag umgesetzt, indem er die Regierung befähigte, "die Aktivitäten und Aktionen internationaler Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen auf nationalem Gebiet zu kontrollieren, zu koordinieren, zu überwachen und zu beobachten".

- Sowohl das Umweltministerium [12] als auch das Außenministerium [13] werden nun von Leugner*innen der globalen Erwärmung angeführt, weshalb die für den Klimawandel zuständigen Abteilungen abgeschafft wurden. Auch wenn Brasilien weiterhin ein Unterzeichner des Pariser Klimawandelabkommens bleibt, ist es unwahrscheinlich, dass die Regierung die notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung des Abkommens ergreifen wird.

- Sozial-ökologische Gesetzgebung und politische Richtlinien wurden in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung dramatisch geschwächt. Das Waldgesetz wurde durch neue Maßnahmen untergraben, die eine Reduzierung der gesetzlichen Einschränkungen und eine flexiblere Frist für Landlegalisierung durch Landnehmer*innen vorschlagen. Im Januar 2019 soll [14] die Abholzung im Amazonasgebiet im Vergleich zum selben Zeitraum von 2018 um 54 Prozent gestiegen sein.

Akteur*innen der Zivilgesellschaft [15], Aktivist*innen, Landwirt*innen, Arbeiter*innen und Minderheiten sind von der aufhetzerischen Rhetorik der Bolsonaro-Regierung und ihrer Anhänger*innen extrem gefährdet. Dazu gehört auch, dass Mitglieder von Basisbewegungen wie der "Bewegung der landlosen Arbeiter*innen" und der "Bewegung der Obdachlosen" als "Terroristen" bezeichnet werden. Daher ist zu befürchten, dass das umstrittene Antiterrorgesetz Brasiliens zur Kriminalisierung von Sozialaktivist*innen eingesetzt werden wird.

Die EU ist weltweit der zweitgrößte Handelspartner Brasiliens, der zweitgrößte Importeur brasilianischen Sojas sowie ein wichtiger Importeur von brasilianischem Rindfleisch und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Die EU trägt daher die Verantwortung, sich mit den Menschenrechtsverletzungen und Umweltverbrechen zu befassen, die in Brasilien unter der Regierung Bolsonaros stattfinden. Sie muss ihren Einfluss nutzen, um die Zivilgesellschaft, die Menschenrechte und die Umwelt zu schützen.

Die EU ist dabei, ein weitreichendes Mercosur-Handelsabkommen zu verhandeln, das den Marktzugang und den Handel zwischen den beiden Regionen, zu denen Brasilien gehört, erweitern soll. Die EU muss jetzt Präsident Bolsonaro unbedingt die unmissverständliche Botschaft senden, dass sie sich Verhandlungen mit Brasilien über ein Handelsabkommen verweigert, wenn es nicht zu einem Ende der Menschenrechtsverletzungen, strengen Maßnahmen zur Beendigung weiterer Entwaldung und konkreten Verpflichtungen zur Umsetzung des Pariser Abkommens kommt.

In der Vergangenheit hat die EU Handelsbeziehungen mit Ländern ausgesetzt, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, so beispielsweise mit Myanmar und den Philippinen. Darüber hinaus hat die EU die Einfuhr von Produkten eingeschränkt, deren Produktion mit Menschenrechten bei Konfliktmineralien zusammenhängt. Es ist an der Zeit, dass die EU eine ähnliche harte Haltung einnimmt, um eine Verschlechterung der Menschenrechts- und Umweltsituation in Brasilien zu verhindern.

Wir fordern Sie daher auf,

1. die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen EU-Mercosur sofort zu unterbrechen.

2. zu gewährleisten, dass keine der in der EU verkauften brasilianischen Produkte oder der mit ihnen verbundenen Finanzmärkte zu einem Anstieg der Entwaldung, der Landnahme von Indigenen-Gebieten oder von Menschenrechtsverletzungen führen.

3. eine Erklärung mit stichhaltigen Belegen zu verlangen, dass die brasilianische Regierung ihre Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Abkommens über den Klimawandel erfüllen wird.

4. die Unterstützung der brasilianischen Zivilgesellschaft zu erhöhen, wie durch Umsetzung des EU-Aktionsplans für Menschenrechte und Demokratie sowie proaktive verstärkte Beratungen mit brasilianischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich mit den Menschenrechten und der demokratischen Funktionsweise der brasilianischen Zivilgesellschaft befassen.

5. mögliche Menschenrechtsverletzungen zu überwachen und zu reagieren - einschließlich der Untersuchung von Fällen seit der Wahl Bolsonaros - sowie Mechanismen zu stärken, die Menschenrechtsaktivist*innen schützen. Für die am stärksten gefährdeten Personen, einschließlich Indigenenvölkern und Umweltschützer* innen, sollte die EU, auch durch ihre politischen Vertretungen, bei Bedarf direkte und rasche Unterstützung leisten.

Mit freundlichen Grüßen

Die Unterzeichner können eingesehen werden unter [16]

Quelle: S2B Seattle to Brussels Network [17]


Anmerkungen:
[1] http://s2bnetwork.org/wp-content/uploads/2019/06/Joint-letter-Brazil-EU-Mercosur.pdf
[2] https://www.collectifstoptafta.org/actu/article/plus-de-340-organisations-appellent-l-union-europeenne-a-interrompre
[3] http://s2bnetwork.org/wp-content/uploads/2019/06/ESP-Carta-UE-Mercosur-Junio-2019.pdf
[4] http://s2bnetwork.org/wp-content/uploads/2019/06/Portuguese-Carta-EU-Mercosul-Junho-2019.pdf
[5] https://science.sciencemag.org/content/364/6438/341.1
[6] http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/index.cfm?id=1803
[7] https://www.nytimes.com/2019/01/02/world/americas/brazil-bolsonaro-president-indigenous-lands.html
[8] https://www.iatp.org/the-rise-of-big-meat
[9] https://reporterbrasil.org.br/2019/02/sob-ataque-pos-eleicao-terras-indigenas-estao-desprotegidas-com-desmonte-da-funai/
[10] https://news.mongabay.com/2019/04/3-massacres-in-12-days-rural-violence-escalates-in-brazilian-amazon/
[11] https://www.conectas.org/en/news/bolsonaros-measure-to-control-ngos-encroaches-on-freedom-of-association
[12] https://www1.folha.uol.com.br/ambiente/2018/12/vamos-preservar-o-ambiente-sem-ideologia-diz-futuro-ministro-de-bolsonaro.shtml
[13] https://www.valor.com.br/politica/5985233/novo-chanceler-diz-que-esquerda-criou-%3Fideologia-da-mudanca-climatica
[14] https://www.greenpeace.org/brasil/blog/desmatamento-cresce-no-primeiro-mes-de-2019/
[15] https://1bps6437gg8c169i0y1drtgz-wpengine.netdna-ssl.com/wp-content/uploads/2018/12/CSO-Statement-Brazil-2018.12.21.-EN-PT.pdf
[16] http://www.pressenza.com/de/2019/06/offener-brief-an-die-eu-stoppt-mercosur-solange-brasilien-menschenrechte-verletzt-den-klimawandel-leugnet-und-die-umwelt-zerstört
[17] https://s2bnetwork.org/letter-brasil-bolsonaro-eu-mercosur/


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

*

Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2019

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