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OFFENER BRIEF/001: Saharauische Menschenrechtler an den Präsidenten des EU-Parlaments (Stärke des Rechts)


Saharauische Menschenrechtler an den Präsidenten des EU-Parlaments

Offener Brief
9. September 2010

z. Hd. v. Herrn Jerzy Buzek
Präsident des Europäischen Parlaments


Sehr geehrter Herr Präsident

Wir sind saharauische Menschenrechtler. Wiederholt wurden wir wegen unserer freien Meinungsäußerungen, wegen unseres Engagements für die Menschenrechte und unserer gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Tätigkeiten festgenommen und inhaftiert. Als Anerkennung für unseren gerechten Kampf und für die Verteidigung der Menschenrechte in der besetzten Westsahara haben einige von uns bereits namhafte Menschenrechtspreise erhalten. Wir wenden uns an Sie, Herr Präsident, wegen der besorgniserregenden Situation und der ernsthaften Menschenrechtsverletzungen innerhalb des von Marokko besetzten Teils der Westsahara. Unsere Besorgnis gilt auch der fortgesetzten Plünderung der natürlichen Ressourcen des Gebiets.

Am 8. Oktober 2009 wurden wir bei unserer Rückkehr von einem Besuch der saharauischen Flüchtlingslager im Südwesten Algeriens im Terminal des Flughafens Mohammed V in Casablanca von der marokkanischen Kriminalpolizei im Beisein von anderen marokkanischen Geheimdienst- und Sicherheitskräften festgenommen. Wir waren acht Tage lang Verhören und vielerlei Misshandlungen ausgesetzt, die wir in diesem Schreiben nicht einzeln aufführen können. Anschließend wurden wir dem Untersuchungsrichter des marokkanischen Militärgerichtshofs in Rabat vorgeführt, ein für uns gefährlicher Schritt! Am 15. Oktober 2009 ordnete der marokkanische Richter unsere Untersuchungshaft im örtlichen Gefängnis von Salé an.

Sehr geehrter Herr Präsident, am 28. Januar 2010 wurde unsere Mitgefangene, Degia Lechgar, vorübergehend und unter Bedingungen freigelassen. Unter ähnlichen Bedingungen wurden nach einem gemeinsamen 41-tägigen Hungerstreik am 18. Mai 2010 weitere drei Mitgefangene - Yahdid Terrouzi, Saleh Lebeihi und Rachid Sghair - vorübergehend aus dem Gefängnis entlassen. Wir beendeten diesen Hungerstreik aufgrund der Verpflichtungserklärung der marokkanischen Behörden, unseren Fall einer Lösung zuzuführen.

Aber allen Aufrufen und Forderungen marokkanischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen, von Regierungen und Parlamenten für unsere bedingungslose Freilassung zum Trotz, hält uns die marokkanische Regierung weiterhin in Untersuchungshaft und zeigt keinerlei Bereitschaft, weder ein ordentliches Gerichtsverfahren einzuleiten, noch uns bedingungslos freizulassen.

Diese Haltung muss als gesetzeswidrig betrachtet werden, verstößt sie doch gegen das internationale Strafrecht (einschließlich der 4. Genfer Konvention, ihrer Zusatzprotokolle aus dem Jahre 1977 und des Internationalen Abkommens über zivile und politische Rechte), das den Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren in angemessener Frist garantiert.

Sehr geehrter Herr Präsident, elf Monate haben wir nun ohne jegliches Urteil im Gefängnis verbracht.

Sehr geehrter Herr Präsident, unser Besuch in den saharauischen Flüchtlingslagern, der gemäß internationaler Rechtsgrundlagen und Abkommen nur als Inanspruchnahme unseres Rechts auf Bewegungsfreiheit und friedliche Meinungsäußerung eingestuft werden kann, hat auf der Grundlage vager Anschuldigungen zu unserer Festnahme und zur fortgesetzten Inhaftierung geführt. Wir erachten es als eklatanten Versuch, von der wahrhaften Absicht abzulenken. Er deckt die repressiven Vorgehensweisen der marokkanischen Regierung auf, die einzig darauf abzielen, alle saharauischen Frauen und Männer zu unterdrücken, wenn sie durch politische Meinungsäußerungen nicht der Linie des marokkanischen Regimes in der Westsahara-Frage folgen. Unbegreiflich ist dabei auch, dass sechzig andere saharauische MenschenrechtlerInnen dieselbe Reise in die saharauischen Flüchtlingslager getan haben, ohne dass ihre Handlungsweise die gleichen rechtlichen Schritte und Verhöre ausgelöst hätte, obwohl auch sie bei ihrer Rückkehr allerlei Schikanen ausgesetzt waren. Dementsprechend glauben wir, dass dem marokkanischen Regime keinerlei weitere Argumente zur Verfügung stehen, um an unserer Inhaftierung festzuhalten.

Sehr geehrter Herr Präsident, die illegale Inhaftierung, der wir weiterhin ausgesetzt sind, ist ein sehr kleiner Verstoß im Vergleich zu der Art und Anzahl ungleich größerer Übergriffe, zu denen es in der Westsahara täglich kommt. Marokkanische und internationale Menschenrechtsorganisationen berichten über die massiven Menschenrechtsverletzungen, doch Marokko ignoriert diese Beschwerden und Proteste der internationalen Gemeinschaft völlig.

Rabat beweist in dieser Hinsicht keinerlei Respekt gegenüber seiner geopolitischen und wirtschaftlichen Partnerin, der EU, die doch für ihre ständige Verfechtung für die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte weltweit bekannt ist. Selbst die "fortgeschrittene Partnerschaft mit der EU", der sich Marokko erfreut, kann Rabat nicht davon überzeugen, seine repressive Politik zu beenden; sie hat auch nicht erreicht, dass das Land sich der Linie europäischer Normen und hoher Standards in Sachen Menschenrechten annähert. Stattdessen wird diese Statusänderung von den marokkanischen Behörden dazu missbraucht, fortgesetzte und eklatante Menschenrechtsverletzungen zu verschleiern.

Es ist beunruhigend, dass die EU ihr Ansehen durch Marokko in Gefahr bringen lässt. Am offensichtlichsten zeigt sich dies im Fischerei-Partnerschaftsabkommen aus dem Jahre 2007, womit sich die Europäische Union zu einer Komplizin beim illegalen Raub der Naturressourcen der saharauischen Bevölkerung gemacht hat. Wie aus dem Rechtsgutachten der Vereinten Nationen zu dieser Frage aus dem Jahre 2002 hervorgeht und im Rechtsgutachten des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 2009 wiederholt festgestellt ist, darf die Ausbeute der natürlichen Ressourcen der Westsahara nur im Einvernehmen mit den Wünschen und Interessen der saharauischen Bevölkerung betrieben werden. Sehr geehrter Herr Präsident, wir sind nie angefragt worden und konnten zu diesem Kapitel nie Stellung nehmen. Das einzige Ergebnis aus dem Fischereiabkommen, das unser Volk wahrgenommen hat, ist, dass unsere Stimmen noch weiter unterdrückt werden, weil sich Marokko durch die EU in seinem illegalen und unbegründetem Anspruch auf unser Heimatland bestärkt fühlt.

Da die saharauische Bevölkerung - wie es das Völkerrecht verlangt - zum Abkommen weder die Zustimmung gegeben hat noch daraus einen Nutzen zieht, bitten wir, jeden europäischen Fischfang in den Gewässern der Westsahara unverzüglich einzustellen.

Wir ersuchen sie abschließend, Herr Präsident, die Regierung Marokkos dazu aufzufordern, uns unverzüglich in einem gerechten Verfahren und unter Anwesenheit internationaler Beobachter vor Gericht zu stellen oder uns zusammen mit allen saharauischen MenschenrechtlerInnen und politischen Gefangenen in den marokkanischen Gefängnissen freizulassen.

Wir versichern Ihnen, Herr Präsident, unsere vorzügliche Hochachtung.

Die drei saharauischen Menschenrechtler und politischen Gefangenen

Ali Salem Tamek, Brahim Dahane und Hamadi Naciri


Kopien an:

Herrn Christopher Ross, Persönlicher Beauftragter des UN-Generalsekretärs für die Westsahara

Frau Catherine Ashton, Baroness Ashton of Upholland, PC, Oberste Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik


Das Dokument ist von den Gefangenen an die internationale Solidarität geschickt worden und wurde dann in verschiedene Sprachen übersetzt. Der deutsche Text wird über die Initiative "Stärke des Rechts" der Kritischen Ökologie / ifak e.V. verbreitet:
http://www.ifak-goettingen.de/ifak/index.php?option=com_content&task=view&id=95&Itemid=120


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
zum Thema siehe im Schattenblick auch unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Europool -> Meinungen -> Stellungnahme ->
STELLUNGNAHME/001: Gerechtes Verfahren für drei saharauische Menschenrechtsaktivisten (Stärke des Rechts)


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Quelle:
Offener Brief saharauischer Gefangener vom 9. September 2010
Initiative "Stärke des Rechts"
Axel Goldau, Kritische Ökologie / ifak e.V. - Redaktionsbüro -
Malteserstr. 99k, D-12249 Berlin
Telefon: +49 (0)30/76 70 34-98
E-Mail: redaktion@kritische-oekologie.de
Internet: www.ifak-goettingen.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2010