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DILJA/008: Die EU rüstet auch "innerlich" auf - Repression gegen Radikalisierung (SB)


Der Legitimationsterminus "Terrorismus" wird überwachungstechnisch auf "Radikalisierung" ausgeweitet

Die EU stellt ihren Repressionsapparat auf die sich abzeichnenden Massenproteste ein


Nie zuvor hat es im Herrschaftsbereich der Europäischen Union so viele, so langanhaltende und immer mehr die nationalen Grenzen thematisch wie auch organisatorisch überschreitende Demonstrationen, Streiks und Massenproteste gegeben. Die EU-Offiziellen, die sich wie auch die nationalen politischen Verantwortungsträger darin einig sind, diese wachsenden Unmutsäußerungen auszusitzen und bestenfalls perspektivisch als eine Sicherheitsbedrohung aufzufassen, lassen jede Infragestellung ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik vermissen und stellen damit dem Konstrukt EU auch hinsichtlich der an dieses supranationale Gebilde zu stellenden Demokratieansprüche ein Armutszeugnis aus. Der EU-Skeptizismus, der im Zuge der gescheiterten Bestrebungen, eine EU-Verfassung als rechtfertigendes Grundlagenwerk in allen Einzelstaaten durchzusetzen, die dann als Reform der bestehenden EU-Verträge durchgeboxt werden konnte, in demagogischer Weise gegenüber den Nein-Sagern ins Feld geführt wurde, findet in der aktuellen Entwicklung nicht nur Bestätigung, sondern weitere Nahrung.

Sehr viele Menschen in allen Staaten der EU haben seit geraumer Zeit nicht nachvollziehen bzw. glauben können oder wollen, daß die Souveränitätsverluste, die das eigene Land im Zuge des stetigen Anwachsens der Europäischen Union sowie des breitgestreuten Ausfächerns der Regelungskompetenzen, die von den europäischen Hauptstädten nach Brüssel delegiert werden (mußten), tatsächlich zu einem Zugewinn an Lebensqualität und materiellem Wohlstand führen sollten. Wenn schon die Widerspruchslagen im eigenen Land, in traditionell linker Weise ausgedrückt als Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit, entgegen aller Versprechungen einer sozialstaatlich organisierten Klassenharmonisierung nicht aufgelöst werden konnten, wie soll dann durch einen weiteren, noch weitaus mehr Menschen, Ressourcen und Territorien umfassenden Zusammenschluß nur der einen Seite dieses ungleichgewichtigen und ungelösten Konflikts der versprochene Fortschritt erzielt werden können?

Umgekehrt wird weitaus eher ein Schuh draus, und in der Tat scheint das Modell Deutschland, wie die hierzulande bereits erfolgte Politik des Lohndrückens bei gleichzeitigem Sozialabbau (Hartz IV) genannt werden könnte und die im europäischen Vergleich allein aus Sicht der herrschenden Elite bzw. der durch sie repräsentierten Interessen Bestnoten verdient, ein Modell für Europa zu werden. Nicht von ungefähr tritt Berlin im europäischen Kontext als Initiator und Motor einer ebenso massiven wie systematisch organisierten Umverteilungspolitik von unten nach oben sowie, damit einhergehend, einer zunehmenden Entmachtung der nationalen Regierungen (selbstverständlich nur der schwächeren EU-Staaten) gegenüber der Brüsseler Administration in Erscheinung. Das neoliberale Credo, demzufolge durch staatliche Ausgaben- wie auch Lohnkürzungen sämtliche Probleme wie auch die vielbeschworene weltweite Wirtschaftskrise alternativlos zu bewältigen seien, steht scheinbar unhinterfragbar auf dem Sockel einer Berlin-Brüsseler fundamentalen Leitlinie.

Dabei sind ihre wirtschaftswissenschaftlichen Grundannahmen und Parameter nicht einmal unter Wirtschaftswissenschaftlern und konventionellen Wirtschaftspolitikern gänzlich unumstritten, da schon nicht plausibel gemacht werden kann, wie eine schlecht laufende und staatsdefizitäre Wirtschaft wie die Griechenlands gesunden oder auch nur in ihrem Negativtrend gebremst werden können soll, wenn den Menschen auch noch der letzte Notgroschen aus der Tasche gezogen wird. Noch in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hätte in solchen Problemlagen das Allheilmittel eher darin bestanden, durch staatliche Maßnahmen Kaufkraft und Nachfrage und damit auch die wirtschaftliche Gesamtentwicklung anzukurbeln, was konkret beispielsweise hätte heißen können, die Mehrwertsteuer zu senken, und nicht, wie es jetzt in vielen der von einem Staatsbankrott bedrohten südlichen wie auch östlichen EU-Staaten der Fall ist, sie auch noch weiter anzuheben.

Inzwischen hat jedoch längst eine Entwicklung gegriffen, deren Destruktionspotential gegenüber den vorwiegend nationalstaatlich organisierten Wirtschaftspolitiken früherer Zeiten noch unausgelotet zu sein scheint. Die Tendenzen einer aus dem fernen Brüssel gesteuerten Vereinnahmungspolitik sind jedoch so unübersehbar und unverkennbar, daß der Begriff des EU-Skeptizismus nicht mehr ausreicht. Schließlich wird in Griechenland, Spanien, Portugal und nicht zuletzt auch in Frankreich die EU-Mitgliedschaft dieser Länder nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems verstanden. Die protestierenden Bevölkerungen dieser vom Brüsseler Spardiktat direkt betroffenen Staaten haben nicht nur mit ihren eigenen Regierungen zu kämpfen, sondern zugleich auch gegen die von diesen, nicht ganz zu Unrecht, ins Feld geführten Sachzwänge, die ihren Ursprung in Brüssel und der dort verfügten sogenannten Sparpolitik haben.

Die jeweiligen Regierungen verfahren dabei nach ein und demselben Strickmuster mit bestenfalls marginalen landesspezifischen Modifikationen. Der Kern dessen läßt sich als umfassender Sozialabbau bezeichnen, der durchgesetzt bzw. verschärft wird oftmals durch ein Konglomerat staatlicher Maßnahmen, die von Sparmaßnahmen, Lohnkürzungen und Stellenabbau im öffentlichen Dienst, einer Anhebung des Renteneintrittsalters und faktischen Pensionskürzung, der Senkung bzw. Streichung des Arbeitslosengeldes und/oder weiterer sozialen Leistungen zu einer Erhöhung der Mehrwertsteuer und weiterer Abgaben (schlechterverdienender Menschen) reichen. Es hätte angesichts der buchstäblichen Ausweglosigkeit dieses systematischen und allumfassenden Sozialabbaus kaum ausbleiben können, daß sich in immer mehr von dieser Entwicklung bereits sehr stark betroffenen Ländern nicht nur Unmut, sondern ein mehr und mehr organisierter Protest regt.

In Frankreich, neben (oder nach?) Deutschland einer der dominierenden EU-Staaten, gingen im vergangenen Monat bereits zweimal Millionen Menschen gegen die Rentenreform der Regierung auf die Straßen. In Griechenland, dem in Brüssel zum Pleitekandidaten Nr. 1 erklärten EU-Partner, hat es zwischen Februar und Juni bereits sechs Generalstreiks gegeben. In Spanien zeichnet sich längst eine ähnliche Protestkultur ab, auch hier kam es wegen der von der Regierung beschlossenen harten Einschnitte in der Sozialpolitik, selbstverständlich begründet mit dem Bestreben, das Haushaltsdefizit bis 2013 unter die von Brüssel verlangten 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu bringen, zu Massenprotesten. Am 29. September erlebte Spanien den fünften Generalstreik seit dem Ende der Diktatur. Doch nicht nur in Griechenland, Spanien, Frankreich und weiteren EU-Staaten gingen die Menschen in bislang kaum gekannten Massen auf die Straßen, auch in Brüssel selbst kam es zu Demonstrationen gegen die EU-Politik, an denen - die Angaben schwanken - zwischen zehn- und hunderttausend Menschen teilgenommen haben.

Doch wie auch immer wer auch immer die Proteste in den EU-Staaten kleinzurechnen oder auch gänzlich zu ignorieren bestrebt sein mag - eines ist doch gewiß: Es gibt Kräfte oder Institutionen innerhalb dieses Molochs, die sehr genau darauf achten, wie sich das Protestverhalten der Menschen in den jeweiligen EU-Staaten entwickelt. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt blieb in diesem Zusammenhang die Ankündigung der von Spanien übernommenen EU-Ratspräsidentschaft über die geplante Einführung "eines "standardisierten, multidimensionalen semistrukturierten Instruments zur Erfassung von Daten und Informationen über die Radikalisierungsprozesse in der EU" [1]. Radikalisierung? Vom Begriff her bedeutet "radikal" in etwa "an die Wurzel gehend, von Grund auf, gründlich", so die etymologische Deutung des zugrundeliegenden spätlateinischen Lehnworts radicalis.

Als diese Pläne bekannt wurden, richtete die Linke eine Kleine Anfrage an die deutsche Bundesregierung, auf die sie allerdings nur eine ausweichende Antwort erhielt. Darin hieß es, daß die Bundesregierung nicht beabsichtige, dieses Instrument einzusetzen. Eine verbindliche Definition von "radikal" und "radikalisierend" gäbe es nicht, darauf seien die deutschen Sicherheitsbehörden, was immer dies heißen möge, auch nicht angewiesen. In Berlin hält man sich äußerst bedeckt, was dieses von der spanischen Ratspräsidentschaft publizierte Vorhaben betrifft. Da insbesondere Berlin darauf drängt, daß die "Defizitsünder" in der EU noch härter als bislang abgestraft und unter Druck gesetzt werden (können), ist die Annahme, daß die deutsche Regierung nicht gleichermaßen innovativ wird, wenn es darum geht, den für die Überwachung, Kontrolle und gegebenenfalls Bekämpfung der unschwer vorherzusagenden Protestbewegungen erforderlichen Repressionsapparat auszubauen und auf diese spezifischen Anforderungen hin zu modifizieren, wenig plausibel.

Aus Berlin hieß es in Beantwortung der Kleinen Anfrage jedoch, daß die deutsche Regierung auch mit dem Begriff "radikalisierende Botschaften" und deren "Übermittlung" nichts am Hut hätte. Was damit gemeint ist, geht weit über die bisherigen, unter Begriffe wie Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfung gefaßten Repressionsstrategien hinaus. Es wird eine EU-weite Datenbank eingerichtet, zu der Polizeien und Geheimdienste, aber auch Sicherheitsfirmen "beitragen" sollen. Konkret ist von einem "hochflexiblen Instrument, das sich leicht an das untersuchte Phänomen anpassen lässt" [1] die Rede. Es sollen Listen von Personen und Gruppen erstellt werden, die "an der Radikalisierung/Anwerbung oder Übermittlung von radikalisierenden Botschaften beteiligt sind" [1]. Daß all dies "präventiv" geschehen soll, versteht sich von selbst, da es sich längst nicht mehr um Strafverfolgung handelt, was eine begangene, konkrete Straftat voraussetzen würde, sondern um ein Ausmaß an politischer Kontrolle, das mit den demokratischen Wertmaßstäben eines demokratischen Rechtsstaates nicht zu vereinbaren sind.

Folgerichtig ist in diesem Zusammenhang von einer "Ideologie" die Rede. Unverhohlen wird zum Ausdruck gebracht, daß es um die Beobachtung, Erfassung und damit Kontrolle und Überwachung von Menschen und Organisationen geht, die "einer Ideologie folgen, die direkt Gewalt propagiert" [1]. Hier schließt sich der Kreis zur unverhohlenen politischen Diskreditierung und Verfolgung Andersdenkender, denn spezifiziert werden die unter dem Stigma der "Radikalisierung" systematisch erfaßten Menschen unter die Kategorien rechts- und linksextremistisch, islamistisch und nationalistisch. Eine weitere Kategorie - Anti-Globalisierung - ist bestens geeignet, auch den letzten Zweifler davon zu überzeugen, daß diese Datenerfassung und -sammlung ausschließlich ordnungspolitischen, wenn nicht gar polizeistaatlichen Zwecken dienen wird. Als Antiglobalisierer werden mit Leichtigkeit all die Menschen in der gesamten EU bezeichnet werden können, die sich dem neoliberalen Diktat aus Brüssel bzw. Berlin nicht zu beugen und den als "Sparpolitik" deklarierten Sozialabbau nicht wortlos hinzunehmen bereit sind.

Anmerkung

[1] EU will Datenbank zur Bekämpfung der "Radikalisierung" einrichten, Nicht nur Terroristen, sondern auch extreme Rechte und Linke und Globalisierungskritiker stehen im Visier. Von Florian Rötzer, telepolis, 26.08.2010

6. Oktober 2010