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DILJA/006: Rumänien - Erzwungene Verarmung verarmter Menschen bewirkt Kreditwürdigkeit (SB)


Rumänien in Schuldknechtschaft

Im zweitärmsten Land der EU wird die Armut der Menschen durch Kreditknebelbedingungen des Westens noch verschärft


Haushaltskonsolidierung um jeden Preis - so in etwa lautet das Credo neoliberaler Wirtschaftskonzepte, die der finanziellen Absicherung staatlicher Organe oberste, um nicht zu sagen alleinige Priorität einräumen. Da der Staat nicht pleite gehen darf, müssen in Zeiten wirtschaftlicher Not die Gürtel all seiner Bürger enger geschnallt werden und die der ohnehin ärmeren selbstverständlich noch enger. Dies erscheint logisch und nahezu zwangsläufig insbesondere dann, wenn man im Staatswesen den Garanten des Lebens und Überlebens all seiner Bewohner sieht, wird doch insbesondere in den westlichen Demokratien das Gewaltmonopol des Staates mit dessen Verpflichtung und seinem Daseinszweck, für das Wohl und Wehe der Bürger zu sorgen, in Verbindung gebracht. In dem früheren Ostblockstaat Rumänien, dem nun zweitärmsten Staat der EU, ist man längst im westlichen Neoliberalismus angekommen. Hier regiert nicht unbedingt die gewählte Regierung, sondern, ihren Handlungsrahmen erheblich einschränkend, eine inoffizielle Riege aus Experten und Repräsentanten der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds (IWF) und nicht zuletzt der Europäischen Union (EU).

Diese stehen selbstverständlich nicht gegenüber der Bevölkerung Rumäniens in der politischen Verantwortung, wiewohl ihr faktischer Einfluß auf Land und Leute, sprich auf die gesellschaftlichen Bedingungen des Lebens und Überlebens, größer sein dürfte als der der Regierung um Staatspräsident Traian Basescu. Diese befindet sich in der klassischen Zwickmühle marginalisierter Staaten, deren politische Führungen sich angesichts einer aus Schuldknechtschaft bzw. Kreditabhängigkeit gespeisten Zwangslage veranlaßt sehen, die ihnen von den westlichen Finanzagenturen gestellten Bedingungen zu erfüllen. Diese Bedingungen haben es in sich, beinhalten sie doch sozialen und damit auch politischen Sprengstoff. Sie bewirken, um nicht zu sagen erzwingen eine durch staatliche Eingriffe und Maßnahmen forcierte Armut, genannt "Sparpolitik" oder eben "Haushaltskonsolidierung".

In Rumänien hatten die durchgedrückten Kürzungen bereits vor Monaten zu massiven Protesten der Bevölkerung geführt. So hatten am 31. Mai rund 700.000 Staatsbedienstete einen Streikaufruf von 50 Gewerkschaften befolgt gegen die geplanten Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst. Die Regierung hatte eine 25prozentige Kürzung der Gehälter beschlossen, obwohl der IWF durch seinen Generaldirektor Dominique Strauss-Kahn ihr "nur" eine 20prozentige "empfohlen" hatte. Der rumänische Arbeitsminister Mihai Seitan gab zur Begründung an, die Sparmaßnahmen seien erforderlich, um den Haushalt zu konsolidieren. Im März vergangenen Jahres hatte Rumänien mit IWF, Weltbank und EU einen "Beistandskredit" in Höhe von 20 Milliarden Euro vereinbart, zahlbar in mehreren Tranchen, um das Budgetdefizit des südosteuropäischen Landes abzudecken. Gegen die Sparbeschlüsse der Regierung von Ministerpräsident Emil Boc hatten schon am 19. Mai 2010 rund 50.000 Menschen in der rumänischen Hauptstadt demonstriert, sie forderten den Rücktritt Bocs sowie von Präsident Basescu und kündigten, sollten die Sparbeschlüsse nicht zurückgenommen werden, für den 31. Mai einen Generalstreik an.

Diese Rücknahme geschah nicht und konnte nicht geschehen, da sich die rumänische Regierung in dem mit dem IWF geschlossenen Abkommen zu drastischen Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben verpflichtet hatte. Die Regierung um Ministerpräsident Boc von der Demokratisch-Liberalen Partei beschloß nicht nur die Kürzung der Gehälter im öffentlichen Dienst um 25 Prozent, sondern auch eine drastische Senkung etlicher sozialer Leistungen und staatlicher Subventionen. Dabei würde die Senkung der Renten und des Arbeitslosengeldes um 15 Prozent eine extreme soziale Katastrophe in einem Land darstellen, dessen verarmte Bevölkerung nicht die geringsten Reserven oder Puffer aufweist, um die angeblich notwendige "Sparpolitik" ihrer Regierung im täglichen Kampf ums Überleben irgendwie kompensieren zu können. So ist Rumänien mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 400 Euro eines der ärmsten Länder innerhalb der EU. Die Mindestrente, die nach den jüngsten Beschlüssen noch weiter - um 15 Prozent - gesenkt werden soll, beträgt gerade einmal 170 Euro.

Was unter Armut im heutigen Rumänien zu verstehen ist, läßt sich anhand einer Schilderung von Birgit Wittstock, einer früheren Redakteurin des österreichischen Standards, erahnen. Wittstock, heutige Mitarbeiterin des von dem Jesuitenpater Georg Sporschill gegründeten Sozialprojekts "Concordia", das als einzige in Rumänien tätige Hilfsorganisation nicht nur Straßenkinder, Waisen und Kinder aus sozial schwachen Familien, sondern auch bereits Volljährige aufnimmt, schilderte die Situation zweier junger Rumänen, Adrian und Alin, die in Bukarest auf der Straße leben (müssen) [1]:

Ihre Frauen und Babys haben die beiden 23-Jährigen bei den Eltern zurückgelassen. Täglich suchen sie in den Gratiszeitungen nach Jobinseraten. "Entweder, die Stellen sind schon vergeben, oder die Jobs sind Scheiße", sagt Adrian. Vor zwei Wochen hatten sie gemeinsam auf einer Baustelle angeheuert: 50 Lei am Tag, rund zehn Euro - deutlich über dem Durchschnittslohn, der bei monatlich rund 150 Euro liegt. Doch die gute Bezahlung hatte ihren Preis: Zwölf Stunden täglich mit einem Hammer und bloßen Händen einen Häuserblock niederreißen. Sechs Tage die Woche. Adrian schmiss den Job nach einem Tag, Alin hielt eine Woche durch: "Diese Arbeit bringt dich ins Grab", sagt er und zeigt seine Handflächen, die immer noch mit milimetertiefen Löchern übersät sind. Außerdem: "Du kaufst dir zwei Sandwichs, Zigaretten und eine Flasche Wasser und weg sind die 50 Lei, für die du zwölf Stunden lang gebuckelt hast, wie ein Pferd. Es bleibt nichts übrig", sagt Alin.

Da zum Beispiel auch die bisher gezahlten Heizkostenzuschüsse gestrichen wurden, werden viele Rumänen Kredite aufnehmen müssen, um im Winter nicht zu erfrieren. Die vielen und massiven Kürzungen im Sozialbereich haben eine Verteuerung der Lebenshaltungskosten in vielen Bereichen begünstigt, so daß die Kosten für Miete, Strom, Gas und Heizung geradezu explodiert sind. Für die Versorgung obdachloser Kinder bringt der Staat nur noch 79 Lei oder umgerechnet 20 Euro monatlich auf. Diese Minimalleistung wird nur für Kinder gezahlt, die vom Jugendamt an Hilfsorganisationen vermittelt werden konnten, was beileibe nicht auf alle zutrifft, und so leben im heutigen Rumänien auch viele Kinder auf der Straße. All dies geschieht unter der Maßgabe einer "Haushaltskonsolidierung", und es geschieht nicht nur mit dem Wissen der westlichen Kreditgeber, sondern ist das Resultat der von ihnen der Bukarester Regierung alternativlos gestellten Bedingungen.

Am Militärhaushalt wird allerdings nicht "gespart", obwohl Rumänien als einer der ärmsten EU-Staaten, der im Vergleich der sozialen Lage seiner verarmten Bevölkerung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland eine deutlich krassere Verelendung aufweist, mit zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) einen prozentual höheren Beitrag an der Bereitstellung militärischer Optionen sowie der aktiven Kriegsbeteiligung leistet als Deutschland. Rumänien erbringt seinen Beitrag an dem von einer internationalen Kriegsgemeinschaft geführten Besatzungskrieg in Afghanistan und ist dort mit 1400 Soldaten vertreten. Wer wollte da nicht argwöhnen, daß der osteuropäische Staat auf diese Weise seinen Blutzoll entrichtet und, auf welchen verschlungenen Pfaden politischer Abhängigkeit und Drangsalierung auch immer vereinbart, durch diese Kriegsbeteiligung seine "Schuld" abzuzahlen sich genötigt sieht? In den Vorschlägen des IWF an das durch die Weltwirtschaftskrise von 2008 an den Rand des Staatsbankrotts geschlidderte Land sucht man jedenfalls vergeblich nach einer drastischen Reduzierung der Kosten für das Militär und dessen Auslandseinsätze.

Auf welchen Wegen auch immer durchgeführt, richtet sich die Stoßrichtung des sogenannten "Sparkurses" stets gegen die ohnehin verarmte Bevölkerung Rumäniens. Im Land kam es nach den Sparbeschlüssen der Regierung schon im Mai zu den größten Massenprotesten seit dem Systemwechsel 1989. Am 15. Juni verteidigte Ministerpräsident Boc die einschneidenden Maßnahmen (25prozentige Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst sowie 15prozentige Rentenkürzungen) im Parlament mit dem Argument, sie seien notwendig, um die Bedingungen für das milliardenschwere Rettungspaket des IWF zu erfüllen. Doch was ist das für eine "Rettung"? Boc zufolge könnten die Renten sowie die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst absehbar überhaupt nicht mehr bezahlt werden, wenn Rumänien nicht die Sparmaßnahmen als das "kleinere Übel" [2] durchführe.

Nachdem die Regierung ungeachtet der massiven Proteste im ganzen Land an diesem Kurs festhielt, fällte das rumänische Verfassungsgericht am 25. Juni einen aus Sicht von Regierung, EU, IWF und Weltbank mit Sicherheit unerwarteten und unwillkommenen Beschluß. Das höchste Gericht Rumäniens beschied klipp und klar, daß die Sparbeschlüsse verfassungswidrig seien. Doch was war mit diesem eigentlich klaren Votum gewonnen? Es stellte zunächst einmal die Auszahlung der nächsten Tranche des IWF-Milliardenkredites in Frage. Die Regierung Boc suchte umgehend nach einem Plan B, um ihre Geldgeber nach dem Richterspruch auf andere Weise zufriedenzustellen, und verfiel alsbald auf die Idee, die Umlastung von unten nach oben auf dem Wege massiver Steuererhöhungen zu organisieren.

Tatsächlich wurde nur wenige Tage nach dem Spruch des Verfassungsgerichts die Überprüfung der Verhältnisse für die nächste IWF-Tranche gestoppt. Der zuständige IWF-Repräsentant Jeffrey Franks markierte die Position des Währungsfonds mit den Worten, man rechne mit "baldigen alternativen Vorschlägen" [3], um die Auszahlung der dringend benötigten Finanzspritze nicht zu gefährden. In solche Worte gekleidet, sieht sich die rumänische Regierung ihrer politischen Handlungsfähigkeit beraubt, denn da sie tatsächlich auf dieses Geld angewiesen ist, befindet sie sich in der Situation einer Schuldknechtschaft bzw. Kreditabhängigkeit, wie sie für einen Staat kaum fundamentaler sein könnte.

Ministerpräsident Boc von der Demokratisch-Liberalen Partei wartete bereits einen Tag nach der Gerichtsentscheidung mit einem Plan B auf. Um im Rahmen der IWF-Forderungen das Haushaltsdefizit unter 6,8 Prozent zu halten, wird nun die Mehrwertsteuer von 19 auf 25 Prozent angehoben. Daß dies die soziale Notlage, um nicht zu sagen Katastrophe ebenso verschärft wie die vom Verfassungsgericht beanstandeten Kürzungen, versteht sich nahezu von selbst. Noch wenige Wochen zuvor hatte sich der Regierungschef, wohlwissend, daß eine solche Maßnahme auch die Interessen von Unternehmen berührt, gegen eine Mehrwertsteuererhöhung ausgesprochen.

Das "Sparpaket" wurde nach dem Verfassungsgerichtsurteil lediglich umgeformt, doch keineswegs in seinem Sinngehalt verändert. Im Juni wurde bereits mit der Umsetzung begonnen. Die Kürzung der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst blieb ebenso bestehen wie die Senkung oder Abschaffung zahlreicher Subventionen. Anstelle der vom Gericht als verfassungswidrig bewerteten Rentenkürzung um 15 Prozent soll eine nun 25prozentige Mehrwertsteuer dafür sorgen, daß Rumänien sich krumm genug gemacht hat, um von den Experten des aus Weltbank, IWF und EU gebildeten Triumvirats des Schreckens als kreditwürdig eingestuft zu werden. Eben dies ist inzwischen geschehen. Nach zehn Tagen des Begutachtens und Bewertens in Bukarest befand eine von diesen Gremien beauftragte Expertenkommission, daß die rumänische Regierung die an die Auszahlung der insgesamt dritten Kredittranche in Höhe von 914 Millionen Euro geknüpften Bedingungen durch ihr Sparprogramm erfüllt habe.

Gänzlich zufriedengestellt zeigten sich die internationalen Finanzinstitute natürlich nicht. So mahnten sie eine Reform der für Beamtengehälter und Pensionen bestehenden gesetzlichen Regelungen ebenso an wie Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung - eigentlich klassische Bereiche hoheitlichen Handelns einer gewählten Regierung, die in demokratischen Staaten allein ihrer Wählerschaft, nicht jedoch ausländischen Institutionen verpflichtet sein dürfte. De facto kann davon schwerlich die Rede sein, so daß Rumänien - und nicht viel anders sieht es in vielen weiteren ost- und südeuropäischen EU-Staaten aus - so etwas wie ein unter die Kuratel einer in Brüssel sowie den Schaltzentralen von Weltbank und IWF zu verortenden Administration gestelltes Protektorat darstellt. Das will so deutlich natürlich niemand sagen, und so wurde der Regierung in Bukarest von EU und IWF attestiert, sie sei bei ihrem Schuldenabbau auf einem guten Weg.

An der Mär lediglich vorübergehender Finanzschwierigkeiten und in Aussicht stehender wirtschaftlicher Besserung strickte die rumänische Regierung ihrerseits kräftig mit. Nach der bitter herbeigesparten Entscheidung der Expertenkommission versicherte sie, ein weiteres Sparpaket sei nicht erforderlich, wiewohl nicht auszuschließen sei, daß Rumänien ab 2011 ein neues Abkommen mit dem IWF abschließen könnte inklusive eines neuen Notkredits [4]. Nicht wenige Menschen in Rumänien werden diese Andeutungen als Ankündigungen, um nicht zu sagen Androhungen weiterer Angriffe auf die Lebensverhältnisse der verarmten Bevölkerung zu bewerten wissen, die schon jetzt aufs dramatischste auf die Frage des nackten Überlebens zurückgeworfen ist. Ein Drama, das in keiner Weise das Interesse und damit die Berichterstattung westlicher Länder bzw. Medien auf sich zu ziehen vermag ganz so, als ob die Protagonisten dieser Gremien, Institutionen und Publikationsorgane sich vollauf darüber bewußt wären, daß die heutige Not der Rumänen einen Vorgeschmack auf die Verhältnisse in sämtlichen EU-Staaten zu liefern imstande wäre. Wie formulierte es doch gleich eine westliche Helferin in Bukarest [1]: Zum Sterben sind die Geldtaschen gerade noch voll genug.

Anmerkungen

[1] Armut in Rumänien. Fünf vor zwölf in Bukarest, von Birgit Wittstock. Der Standard, 08.08.2010,
http://derstandard.at/1280984167513/Armut-in-Rumaenien-Fuenf-vor-zwoelf-in-Bukarest

[2] Tausende drohen mit Sturm aufs Parlament. Rumänien: Protest gegen drastische Kürzung von Renten und Gehältern, junge Welt, 16.06.2010, S. 1

[3] Sozialkahlschlag verfassungswidrig. Rumänien: Gericht kippt Rentenkürzungen, Regierung erhöht nun Mehrwertsteuer, von Stefan Inführ, junge Welt, 29.06.2010, S. 6

[4] IWF, Weltbank und EU. Rumänien bekommt weiteren Notkredit. Der Standard, 04.08.2010,
http://derstandard.at/1277339608292/IWF-Weltbank-und-EU-Rumaenien-bekommt-weiteren-Notkredit

12. August 2010