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SCHULDEN/033: Europa am Scheideweg - Memorandum 2012 (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik)


Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Pressemitteilung vom 26.04.2012
MEMORANDUM 2012

Europa am Scheideweg - Solidarische Integration oder deutsches Spardiktat


Inhaltsverzeichnis

1. Konjunktur, Arbeitsmarkt und "Schuldenbremse": gravierende Fehlentwicklungen
    1.1 Zwischen Stagnation und Rezession
    1.2 Prekärer Aufschwung am Arbeitsmarkt
    1.3 "Schuldenbremse" führt zum Sparzwang
2. Zunehmende Verteilungsprobleme
3. Epizentrum Finanzmärkte und ungelöstes Eurochaos
4. Alternative Wirtschaftspolitik
    4.1 Öffentliches Investitions-, Beschäftigungs- und Umbauprogramm starten
    4.2 Öffentlichen Sektor stärken - Beispiele Bildung und soziale Dienstleistungen
    4.3 Gute Arbeit schaffen
    4.4 Finanzsektor regulieren und Ursachen der Finanzmarktkrise eindämmen
    4.5 Steuereinnahmen erhöhen - für eine nachhaltige Finanzierung öffentlicher Ausgaben

Im Zuge der Bewältigung der internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sind weltweit die Ausgaben der öffentlichen Haushalte gestiegen. Konjunkturprogramme und Maßnahmen zur Bankenrettung haben zwangsläufig zu einer deutlichen Steigerung der Staatsverschuldung beigetragen. Dabei sind die Spannungen im Finanzsektor weder in Deutschland noch auf der europäischen Ebene beseitigt.

Eine zentrale Ursache der derzeitigen Krise ist die seit über 30 Jahren weltweit betriebene Umverteilung von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen. In vielen Ländern verfielen die Lohnquoten und stiegen die Gewinnquoten. Bei zurückbleibender Nachfrage führte dies nicht zu vermehrten Investitionen in die Realwirtschaft, vielmehr speiste die überschüssige Liquidität die Finanzmärkte. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch eine starke Deregulierung der Finanzmärkte. Dadurch wurde es möglich, dass im Finanzsektor für Vermögende zeitweise Renditen erwirtschaftet werden konnten, die weit über den realwirtschaftlichen Zuwachsraten lagen.

All das hat sich auch nach der Krise kaum geändert. Daher bleibt der Finanzsektor das Epizentrum krisenhafter Entwicklungen. Durchgreifende Reformen wurden bislang vermieden. Vielmehr wird versucht, durch kleinere Reparaturen das Vorkrisensystem zu stabilisieren.

Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup kritisiert: "Das Problem der Ungleichgewichte im Euroraum wird damit nicht gelöst, im Gegenteil: Schon jetzt führt das rigorose Spardiktat die Krisenländer in die Rezession und zu sozialen Katastrophen." In Spanien und Griechenland z.B. liegt die Jugendarbeitslosigkeit mittlerweile bei 50 Prozent. Prof. Dr. Mechthild Schrooten hält fest: "Die Schuldenbremse zeigt die Mut- und Hilflosigkeit des europäischen Krisenmanagements. Die Politik beraubt sich ihres eigenen Instrumentariums. Der finanzpolitische Handlungsspielraum sinkt, während die strukturellen und verteilungspolitischen Probleme bleiben. Das ist eine gefährliche Mischung. Eine solidarische europäische Integration wäre die tragfähige Alternative."

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert in ihrem MEMORANDUM, den Finanzsektor stärker zu regulieren. Prof. Dr. Mechthild Schrooten: "Ein Schritt zur Euro-Rettung wäre die Finanzierung der Staatsschulden durch die Europäische Zentralbank - wie dies in den USA, Großbritannien oder Japan üblich ist. Alternativ könnte der Rettungsschirm mit einer Banklizenz ausgestattet werden." Um die Gewinner der Krise an den Folgen zu beteiligen, ist eine Steuerreform dringend notwendig. Neben der mittlerweile von vielen geforderten Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 53 Prozent und der Einführung der Finanzstransaktionssteuer müssen die Vermögenden - wie in anderen Ländern üblich - an der Finanzierung der Staatsausgaben stärker beteiligt werden. Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup "Die Vermögensteuer muss reaktiviert werden. Eine Familie mit zwei Kindern mit einem Vermögen von mehr als einer halben Million Euro wird eine Steuer von einem Prozent leicht verkraften. In der Summe bringt die Vermögensteuer aber rund 20 Milliarden Euro." Darüber hinaus fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik eine Vermögensabgabe für die Superreichen: Ab einer Million Euro sind über zehn Jahre jährlich zwei Prozent zu zahlen. Zehn Prozent unserer Bevölkerung verfügen mittlerweile über mehr als 60 Prozent unseres Vermögens - mit der Vermögensabgabe, die an Bund, Länder und Gemeinden gehen soll, beteiligen sie sich wieder angemessen an der Finanzierung unserer Zukunft.

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Kurzfassung

1. Konjunktur, Arbeitsmarkt und "Schuldenbremse": gravierende Fehlentwicklungen
1.1 Zwischen Stagnation und Rezession

Überrascht vom schnell einsetzenden und vor allem unerwartet kräftigen Aufschwung nach der Weltwirtschaftskrise, hatten die großen Wirtschaftsforschungsinstitute bis zur Mitte des vergangenen Jahres ihre zunächst pessimistischen Wachstumsprognosen revidiert. Am Ende beliefen sich die Wachstumsprognosen für 2011 auf bis zu vier Prozent. Auch 2012 sollte sich der Aufschwung nach den Prognosen der meisten Institute weiter fortsetzen. Für dieses Jahr wurde - etwa in der Gemeinschaftsdiagnose der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute vom Frühjahr 2011 - ein weiteres Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von zwei Prozent prognostiziert. Damit unterstützen die Institute die zweckoptimistische Einschätzung des ehemaligen Wirtschaftsministers Brüderle, der Deutschland bereits im Herbst 2010 einen anhaltenden XXL-Aufschwung bescheinigte.

Von der herrschenden Politik wurden derartige positive Zukunftseinschätzungen gerne aufgegriffen und weiter bestärkt, bestätigten sie doch die verfolgte Richtung eines grundsätzlichen "Weiter so!". So konnten auch Debatten um die Wachstumsschwäche Deutschlands in der Zeit von 2000 bis 2005, also vor der Krise, erstickt werden. Inzwischen deutet sich aber schon wieder eine gesamtwirtschaftliche Abkühlung an. Die Institute erwarten für 2012 nur noch eine Zunahme des BIP von 0,9 Prozent bis zu einer Abnahme von 0,1 Prozent. In Worst-Case-Szenarien wird auch ein noch erheblich stärkerer Einbruch nicht ausgeschlossen.

Die starke Exportorientierung macht die deutsche Ökonomie extrem abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung in anderen Ländern. Die Weltwirtschaftskrise 2009 hatte Deutschland deshalb besonders stark getroffen. Auch die schnelle Erholung nach der Krise ist nicht ohne die wirtschaftliche Belebung in vielen Staaten zu verstehen. Jetzt ist es vor allem die Krise in der Eurozone, die die wirtschaftlichen Aussichten für Deutschland eintrübt. Sogar eine Rezession ist nicht auszuschließen. Die zurückhaltende Reallohnentwicklung und die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland sind maßgeblich für die derzeitige Situation verantwortlich. In der Vergangenheit hatte beides erheblich zur Stärkung der Exportorientierung der deutschen Wirtschaft beigetragen; parallel dazu wurde die Binnenwirtschaft geschwächt.

Wie ausführlich in den MEMORANDEN der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik der letzten Jahre dargelegt, ist die Exportorientierung in Deutschland für die weltweite Finanzund Wirtschaftskrise mitverantwortlich. Zwischen 2000 und 2011 stieg der reale Warenexport Deutschlands um rund 78 Prozent. 2011 erreichte er ein Volumen von 1,06 Billionen Euro. Im gleichen Zeitraum legte das reale Bruttoinlandsprodukt nur um knapp 13 Prozent zu. Warenexporte sind dabei ein Merkmal zunehmender internationaler Arbeitsteilung und wachsender wirtschaftlicher Verflechtung. Sie sind für sich genommen noch kein Problem. Höchst problematisch wird es allerdings, wenn ein Land ständig mehr Waren und Dienstleistungen aus- als einführt. Einem solchen Exportüberschuss steht spiegelbildlich das gleich große Defizit anderer Staaten gegenüber. Seit der Einführung des Euro weist Deutschland einen erheblichen Überschuss auf, der sich seit 2002 in jedem Jahr auf mehr als 80 Milliarden Euro beläuft. 2011 betrug der Überschuss sogar ca. 133 Milliarden Euro. Dieser permanente Überschuss bedeutet, dass Deutschland über einen längeren Zeitraum gesamtwirtschaftlich nicht über, sondern unter seinen Verhältnissen gelebt hat.

Die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse bedingen eine Verschuldung der Staaten, gegenüber denen Deutschland Exportüberschüsse erzielt. So kommt es zwischen den Ländern zu wirtschaftlichen Ungleichgewichten. Die Staaten mit Importüberschüssen müssen sich immer stärker bei den Exportüberschussländern verschulden. Im Jahr 2010 betrugen allein die Nettoforderungen der deutschen Banken gegenüber dem Ausland (Banken und Nichtbanken) 960 Milliarden Euro.

Die Abkehr von der Exportorientierung und der damit verbundenen Erzielung hoher Leistungsbilanzüberschüsse ist eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung der europäischen Krise. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht dies aber dezidiert anders. Bereits im März 2009 formulierte sie die Leitlinien ihrer Politik, an denen sie bis heute festhält: "Ein generelles Umsteuern der deutschen Volkswirtschaft lehne ich ab. Mein Ziel ist, dass das Land Exportweltmeister bleibt."

Entsprechend der vorherrschenden Ideologie wurde die positive Entwicklung der Jahre 2010 und 2011 vor allem mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, der grundsätzlich "gesunden" wirtschaftlichen Basis und der Leistungsstärke der deutschen Ökonomie in Verbindung gebracht. Diese Interpretation verhindert, die Grenzen dieser Entwicklung zu erkennen. Die Wachstumsstärke der vergangenen beiden Jahre wäre ohne die nationalen wie internationalen Konjunkturprogramme undenkbar gewesen. Es wird langfristig auch kaum möglich sein, ständig wachsende Exportüberschüsse zu erzielen. Als Wachstumstreiber sind solche Überschüsse - wie die Krise 2009 gezeigt hat und wie die aktuelle Entwicklung zu zeigen droht - mit erheblichen Risiken behaftet. Eine Kompensation der außenwirtschaftlichen Impulse kann nur in einer Stärkung der Binnennachfrage liegen, da der Außenhandel als Wachstumstreiber aufgrund der international aufgelaufenen Verschuldungssituation tendenziell nicht mehr wie in der Zeit vor der Krise zur Verfügung steht.

Für eine derartige Kompensation wurden bislang allerdings nicht die richtigen Weichen gestellt. Statt Maßnahmen zu ergreifen, die die Binnennachfrage stärken, wurde über lange Zeit das Gegenteil getan. Statt etwa einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland einzuführen, den öffentlichen Dienst zur beispielgebenden "Lohnlokomotive" zu machen und die Lohnbremsen der Agenda 2010 zu korrigieren, wurden umfassende Kürzungspakete - euphemistisch als "Sparpakete" bezeichnet - geschnürt, die die Binnennachfrage weiter unter Druck setzen. Damit aber nicht genug: Die so ausgestaltete deutsche Wirtschaftspolitik wird inzwischen als Vorbild für die gesamte Europäische Union gepriesen.

Dies ist ein unverantwortliches und auch ökonomisch nicht haltbares Handeln. Sollte Deutschland als größte Volkswirtschaft in der EU weiter den Weg einer schwachen Lohnentwicklung gehen und damit hinsichtlich des Anstiegs der Lohnstückkosten das Schlusslicht innerhalb der Union bleiben, so würden die Länder mit Leistungsbilanzdefiziten wie Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und Frankreich dauerhaft nicht in der Lage sein, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Sie müssten dann, da in der Währungsunion keine Abwertungen zur Korrektur der Wechselkurse möglich sind, ihre Lohnstückkosten deutlich senken. Das ginge kurzfristig nur durch massive Lohnsenkungen. In der Folge würden dann aber die Binnennachfrage und das Wachstum weiter einbrechen. Zudem würden unter solchen Bedingungen notwendige strukturelle Reformen extrem erschwert.


1.2 Prekärer Aufschwung am Arbeitsmarkt

Der Arbeitsmarkt hat in Deutschland im Jahr 2011 von einer ungewöhnlichen Konstellation profitiert: Das Wirtschaftswachstum war für bundesdeutsche Verhältnisse mit drei Prozent ausgesprochen hoch; die Produktivitätsentwicklung je Erwerbstätigenstunde blieb dagegen mit 1,3 Prozent recht schwach. Nach dem kräftigen Einbruch in der Krise 2009 hat sich die Produktivität damit noch längst nicht wieder erholt, obwohl das Bruttoinlandsprodukt wieder das Vorkrisenniveau erreicht hat. Die Beschäftigungsschwelle liegt folglich relativ niedrig.

Angesichts der aus Beschäftigungssicht günstigen makroökonomischen Konstellation war der Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen um 541.000 (1,3 Prozent) auf 41,09 Millionen eher gering. Außer Kalendereffekten im Jahr 2011 war die verlängerte Arbeitszeit dafür verantwortlich. Das Arbeitsvolumen stieg um 1,6 Prozent. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist mit 2,4 Prozent sogar stärker gestiegen als die Zahl der Erwerbstätigen.

Die Arbeitslosenquote (der "registrierten Arbeitslosigkeit") bezogen auf die abhängigen zivilen Erwerbspersonen betrug 2011 7,9 Prozent (2010: 8,6 Prozent). Das ist im Vergleich zu den letzten Jahren zwar ein deutlicher Rückgang, aber an der seit Mitte der 1970er-Jahre bestehenden Massenarbeitslosigkeit ändert es nichts.

Auch die Unterbeschäftigung nach den Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist rückläufig. 2011 belief sie sich noch auf 4,152 Millionen Personen (ohne Kurzarbeit). Damit ist die Unterbeschäftigung stärker zurückgegangen als die "registrierte Arbeitslosigkeit". Grund dafür ist der weitere Abbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Diese entlastet den Arbeitsmarkt inzwischen kaum noch. Als Instrument zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit ist sie von der Politik inzwischen weitgehend aufgegeben worden.

Von einer Vollbeschäftigungssituation ist Deutschland mit 3,1 Millionen "registrierten Arbeitslosen" bzw. 4,1 Millionen Unterbeschäftigten im Januar 2012 weit entfernt. Arbeitslosigkeit bleibt der größte soziale Missstand in diesem Land, zumal auch in den höheren Zahlen der Unterbeschäftigung nicht die gesamte Beschäftigungslücke erfasst wird. So fehlen alle Personen, die sich in der so genannten "Stillen Reserve" befinden, sich also aus unterschiedlichen Gründen nicht als arbeitssuchend gemeldet haben, obwohl sie gerne arbeiten würden.

In der Zeit zwischen 2000 und 2011 hat es einen Anstieg der Erwerbstätigenzahlen (abhängig Beschäftigte plus Selbstständige) von 39,4 Millionen auf 41,1 Millionen, also um 1,7 Millionen Erwerbstätige oder um 4,3 Prozent gegeben. Das ist der höchste Stand in der Geschichte der Bundesrepublik. Möglich wurde diese scheinbare Erfolgsgeschichte aber nur durch eine Verkürzung der Arbeitzeit unter prekären Bedingungen, wie sie durch die Hartz-Reformen erreicht wurde. Die jahresdurchschnittliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigen ging von 1.471 Stunden (2000) auf 1.414 Stunden (2011) zurück, also um 3,9 Prozent.

Das gesamte Arbeitsvolumen aber nahm von 2000 bis 2011 nur marginal um 0,3 Prozent zu. So wurden im Jahr 2000 insgesamt 57,9 Milliarden Arbeitsstunden in Deutschland geleistet, 2011 waren es 58,1 Milliarden Stunden. Dahinter verbergen sich allerdings erhebliche konjunkturelle Bewegungen. Bis 2005 ging das Arbeitzeitvolumen massiv zurück und erreichte mit 55,8 Milliarden Stunden seinen bisher geringsten Wert. In den Aufschwungjahren 2006 bis 2008 und 2010/2011 stieg es dagegen an. Im Jahr 2011 war das Arbeitsvolumen erstmals größer als im Jahr 2000.

Die Prekarisierung der Erwerbsarbeit bleibt auch im Aufschwung das vorherrschende Problem auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Ein Aspekt ist dabei die wachsende Zahl von Teilzeitbeschäftigten. Von 2000 bis 2011 hat die Zahl der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von 25,7 Millionen auf 23,9 Millionen oder um 7,0 Prozent abgenommen. Dagegen hat die Zahl der Teilzeitbeschäftigten von 9,6 Millionen auf 12,6 Millionen oder um 31 Prozent zugenommen. Von den Teilzeitbeschäftigten suchen dabei rund zwei Millionen - zumeist Frauen - eine Vollzeitstelle, finden bzw. bekommen aber keine. Die Prekarisierung zeigt sich jedoch auch bei den inzwischen 7,4 Millionen Mini-Jobs, die häufig mit Niedrigst- und Armutslöhnen verbunden sind. Inzwischen arbeiten 6,5 Millionen abhängig Beschäftigte oder jede bzw. jeder Fünfte für Niedriglöhne unter 8,50 Euro brutto je Stunde. Gut eine Million Beschäftigte bekommen sogar einen Bruttostundenlohn von weniger als fünf Euro. Im Jahr 2010 gab es rund 1,4 Millionen Menschen in Deutschland, deren zu geringes Arbeitseinkommen durch Hartz IV aufgestockt werden musste. Das waren 4,4 Prozent mehr als 2009, 4,7 Prozent mehr als 2008 und 13,5 Prozent mehr als 2007. Zudem haben Leiharbeit, Werkverträge und Befristungen die Einkommen und Lebensperspektiven massiv verschlechtert. Jeder zweite neu abgeschlossene Arbeitsvertrag basiert inzwischen auf einem befristeten Arbeitsverhältnis.

Die stark ansteigende Zahl von Selbstständigen um mehr als zehn Prozent zwischen 2000 und 2011 ist wesentlich auf eine wachsende Zahl von Einzelunternehmern mit dem Status von "Scheinselbstständigen" zurückzuführen.

Obwohl der Arbeitsmarkt nach wie vor durch Massenarbeitslosigkeit geprägt ist, wird von Arbeitgeberseite mit Unterstützung aus Politik, Wissenschaft und Medien eine breite Debatte über fehlende Fachkräfte geführt. Ausgehend von Problemen der Arbeitgeber, in einzelnen Teilarbeitsmärkten (regional und nach Qualifikationen) freie Stellen zu besetzen, wird auf einen allgemeinen Fachkräftemangel geschlossen. Defizite auf Teilarbeitsmärkten lassen sich beispielsweise durch Qualifikationsmaßnahmen - hier sind klagende Unternehmen oft selbst in der Verantwortung - beheben. Für einen allgemeinen Fachkräftemangel gibt es dagegen keine wissenschaftlichen Befunde. So widerlegte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) empirisch die Behauptung, es gebe einen akuten und umfassenden Fachkräftemangel. Auch die Bundesagentur für Arbeit kommt zu einem negativen Ergebnis: "Die Entwicklung der Vakanzzeit und die Relation von Arbeitslosigkeit zu gemeldetem Stellenangebot in 2011 erlauben es nicht, von einem generellen Fachkräftemangel zu sprechen. Auf 100 gemeldete Stellen für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse kamen immer noch 689 Arbeitslose." Zudem weisen die Ergebnisse des IAB-Betriebspanels nicht auf einen besonderen Fachkräftemangel hin. Darüber hinaus spricht die aktuelle Lohnentwicklung eindeutig dagegen. Läge an den Arbeitsmärkten tatsächlich eine Verknappung vor, so müsste ein entsprechend starker Lohnanstieg festzustellen sein. Dies ist aber nicht der Fall.


1.3 "Schuldenbremse" führt zum Sparzwang

Die im Juni 2009 ins Grundgesetz geschriebene "Schuldenbremse" ist ein großer wirtschaftpolitischer Fehler. Diese "Schuldenbremse" zwingt den Bund und die Länder unter der Voraussetzung nicht steigender Steuereinnahmen zum Abbau von Staatsausgaben, insbesondere bei den Beschäftigten bzw. Personalaufwendungen und im Sozialbereich. Von einer solchen Kürzungspolitik sind auch die Kommunen betroffen. Der Bund muss bis 2016 das Ziel einer Begrenzung der öffentlichen Kreditaufnahme auf 0,35 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts erreicht haben. Den Bundesländern und in der Folge den Kommunen ist es darüber hinaus ab 2020 verboten, überhaupt noch Kredite aufzunehmen. Ein Stabilitätsrat aus Vertreterinnen und Vertretern des Bundes und der Länder soll die Einhaltung der Konsolidierungsregeln überwachen.

Eine über den Abbau von Staatsausgaben erfolgende Einhaltung der "Schuldenbremse" wird die binnenwirtschaftliche Nachfrage reduzieren. Der Einsatz der "Schuldenbremse" erwiese sich im Übrigen selbst unter dem Gesichtspunkt der Haushaltskonsolidierung als völlig ineffizient. Massive Sparmaßnahmen würden mittel- und unmittelbar erhebliche Nachfrage- und damit fiskalische Einnahmeverluste nach sich ziehen. Die in den Artikeln 109 und 115 des Grundgesetzes verankerten Ausnahmeregelungen von der "Schuldenbremse" würden permanent wirksam werden; die Ausnahme würde zur Regel. Letztlich lägen die realisierten staatlichen Defizitquoten trotz oder besser wegen der "Schuldenbremse" mittel- und langfristig höher als ohne sie. In der Folge und in Kombination mit dem erheblich niedrigeren Niveau des nominalen Bruttoinlandsprodukts wäre in diesem Fall auch mit einem erheblichen Anstieg der Bruttostaatsschuldenquote zu rechnen, die heute bei gut 80 Prozent liegt. Darüber hinaus verhindert die "Schuldenbremse" die Finanzierung langfristiger Zukunftsinvestitionen, die nachfolgenden Generationen zugute kommen. Die "Schuldenbremse" wird auch nicht dazu beitragen, über sinkende Zinssätze die privaten Investitionen zu stärken, im Gegenteil: Da durch den Abbau von Staatsausgaben die binnenwirtschaftliche Nachfrage reduziert wird, ist eher mit einem Rückgang der Investitionen zu rechnen. Auch wachsende Exportüberschüsse sind auf Dauer kein Ausweg.

Alles in allem ist die "Schuldenbremse" ökonomisch und fiskalisch unsinnig und schädlich. Sie ist letztlich nichts anderes als der Ausdruck des unveränderten neoliberalen Marktfundamentalismus. Ihre Einführung demonstriert, dass defizitfinanzierte Staatsausgaben nicht als ein reguläres und legitimes wirtschaftspolitisches Instrument akzeptiert werden.

Die im Grundgesetz implementierte "Schuldenbremse" ist härter ausgestaltet als die in der Vergangenheit von der Bundesrepublik mehrfach verfehlten EU-Stabilitätskriterien, die die Nettokreditaufnahme auf drei Prozent und die Gesamtschulden auf 60 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts begrenzen. Die in der Verfassung dabei vorgesehene konjunkturelle Komponente ist unpräzise und wirkt tendenziell prozyklisch. Im Abschwung verschlechtert die "Schuldenbremse" daher die Handlungsfähigkeit zum entschiedenen konjunkturellen Gegensteuern.

Um finanzschwachen Bundesländern in Deutschland die Anpassung an die Nullverschuldung zu erleichtern, werden zwischen 2011 und 2019 insgesamt 7,2 Milliarden Euro an Finanzmitteln (jährlich 800 Millionen Euro) zur Verfügung gestellt. Etliche Bundesländer werden nach Auslaufen dieser Hilfen im Jahr 2020 jedoch nicht in der Lage sein, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Vor diesem Hintergrund ist bereits heute abzusehen, dass das gesamte Vorhaben der "Schuldenbremse" kläglich scheitern, aber bis dahin viel Unheil anrichten wird.


2. Zunehmende Verteilungsprobleme

Die Fokussierung auf Wettbewerbsfähigkeit ist eine wesentliche Grundkonstante der deutschen (Wirtschafts-)Politik. Sie hatte bereits in den 1980er-Jahren mit der Standortdebatte ihren Ausgangspunkt. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, dem Maastricht-Vertrag, der Einführung des Euro und der Agenda 2010 wurde diese Grundausrichtung in den letzten Dekaden weiter verschärft. Instrumente dafür sind: die Senkung von Steuern und Abgaben, die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Zugleich wurden die Gewerkschaften von den einzelnen Regierungen mehr oder weniger deutlich dazu aufgefordert, auf erhebliche Lohnerhöhungen zu verzichten, um somit vermeintlich für mehr Beschäftigung zu sorgen. Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten wurden mit der Begründung eingeschränkt, mehr Flexibilität (für die Arbeitgeber) auf dem Arbeitsmarkt ermuntere die Unternehmer, mehr Arbeitsplätze zu schaffen.

Die politisch gewünschte Lohnmäßigung und das Mehr an Flexibilität (für die Unternehmer) hatte gravierende verteilungspolitische Folgen: Unternehmen sowie Gutverdienerinnen und Gutverdiener wurden begünstigt, Beschäftigte, Arbeitslose sowie Transferempfängerinnen und -empfänger wurden und werden weiter belastet. Die internationale Standortkonkurrenz und die Renditekonkurrenz der Finanzmärkte begünstigte weiter steigende Gewinne. Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen betrugen 644 Milliarden Euro im Jahr 2011.‍ ‍Sie sind damit seit dem Jahr 2000 um 49,9 Prozent gestiegen. Dagegen wuchsen die Arbeitsentgelte lediglich um 18,8 Prozent. Nach dem neoklassischen Lehrbuch müsste ein solcher Gewinnanstieg zu mehr Investitionen und damit zu Wachstum und Arbeitsplätzen führen. Tatsächlich ist der Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt von 21,5 Prozent im Jahr 2000 auf 18,2 Prozent im Jahr 2011 gesunken.

Die Verteilung des Volkseinkommens zwischen Kapital und Arbeit zeigt sich in der Entwicklung der Gewinn- und Lohnquoten. Von 2000 bis 2007 hat es einen dramatischen Absturz der Lohnquote gegeben. In der Krise stieg sie wieder etwas an - denn Gewinne "reagieren" schneller auf eine Krise als Löhne, was automatisch zu einem statistischen Anstieg der Lohnquote führt. Trotzdem blieb der Anteil der Gewinne am Volkseinkommen vergleichsweise groß: Auf dem Krisentiefpunkt 2009 lag er immer noch höher als 2003. Eine Trendumkehr bei der Verteilung ist deshalb aus der Entwicklung der Verteilungsrelation seit 2008 nicht zu erkennen.

Die schwache Entwicklung der Lohnquote hat verschiedene Ursachen. Da in die Quote die Lohnsumme einfließt, spielt erstens die Beschäftigungsentwicklung eine Rolle. Das über viele Jahre sinkende Arbeitsvolumen, das von 2000 bis 2011 faktisch stagnierte, hat den Anstieg der Lohnsumme begrenzt.

Zweitens ist es den Gewerkschaften unter den oben beschriebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen immer seltener gelungen, Tarifabschlüsse zu vereinbaren, die den kosten- und verteilungsneutralen Spielraum ausschöpfen. Dieser so genannte verteilungsneutrale Spielraum zeigt, um wie viel Prozent die Löhne steigen können, ohne die Verteilung des Volkseinkommens zwischen Kapital und Arbeit zu verändern. Der verteilungsneutrale Spielraum setzt sich aus dem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität und der Preisentwicklung der privaten Konsumausgaben zusammen. Im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2007 lagen die Tarifabschlüsse um 1,1 Prozent unter dem neutralen Verteilungsspielraum.

Der dritte Einflussfaktor sind die zurückbleibenden Effektivlöhne. Bei einer abnehmenden Tarifbindung der Beschäftigten und einer massiven Deregulierung und Prekarisierung des Arbeitsmarktes kommt es zu einer negativen Lohndrift. Die tatsächlich gezahlten Löhne und Gehälter weichen immer stärker von den tariflich vereinbarten ab. Sinkende bzw. stagnierende Löhne erhöhen aber auch die Gewinnspannen der Unternehmen.

Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sind jedoch nicht nur in der Primärverteilung zwischen Kapital und Arbeit die Gewinner. Im Gegensatz zu den Einkommen abhängig Beschäftigter wurden sie durch massive Steuersenkungen seit den 1990er-Jahren erheblich begünstigt. So profitieren sie zusätzlich bei der Sekundärverteilung. Insbesondere hohe Einkommen und große Vermögen wurden deutlich entlastet. Bis 1989 betrug der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer 56 Prozent, bis 1998‍ ‍noch 53 Prozent. Heute liegt er bei 42 Prozent (aktuell bei 45 Prozent für Einkommen ab 250.000 Euro pro Jahr) (jeweils zuzüglich Solidaritätszuschlag). Die Vermögensteuer wurde ausgesetzt, und Vergünstigungen bei der Erbschaftssteuer wurden eingeführt. Die Körperschaftsteuer, die von Kapitalgesellschaften zu entrichten ist, liegt jetzt nicht mehr bei 40, sondern bei 15 Prozent (zuzüglich Solidaritätszuschlag). Für Kapitaleinkünfte gilt nicht mehr der persönliche Steuersatz, sondern ein einheitlicher Satz von 25 Prozent, was faktisch dazu führt, dass Kapitaleinkünfte geringer besteuert werden als viele Arbeitseinkommen.

Aus Einkommen entsteht durch Sparen Vermögen. Aus hohen Einkommen entsteht Vermögen, welches wiederum Kapitaleinkommen generiert. Das Nettovermögen (Vermögen nach Abzug aller Schulden) der privaten Haushalte in Deutschland belief sich im Jahr 2009 auf 9,7 Billionen Euro. Dazu zählen das Geldvermögen, Immobilien und das Produktivkapital. Allein das Nettogeldvermögen betrug im Jahr 2010 fast 3,4 Billionen Euro. Dabei ist das Vermögen noch ungleicher verteilt als das Einkommen. Nach Erhebungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2007 besitzen die reichsten 30 Prozent der Deutschen (älter als 17 Jahre) über 90 Prozent des Gesamtvermögens und die reichsten zehn Prozent über 60 Prozent. Seit dem Jahr 2000 hat die ungleiche Verteilung der Vermögen weiter zugenommen.

Die wachsende Kluft bei der Vermögensverteilung zeigt sich auch bei der Entwicklung der Zahl der Euro-Vermögensmillionäre in Deutschland. Mit 829.000 Millionären wurde hier laut dem von der Liechtensteiner Valluga AG erstellten D.A.CH-Vermögensreport 2011 im Jahr 2010 ein neuer Rekord erreicht. Die Millionäre verfügten im Jahr 2010 über ein Gesamtvermögen in Höhe von rund 2.200 Milliarden Euro (ohne eigengenutzte Immobilien), was einem Anstieg um 8,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Im Schnitt konnten Millionäre in Deutschland seit 2003 ihr Vermögen um acht Prozent pro Jahr steigern, Milliardäre sogar um zehn Prozent. Die seit 2008 tobende Finanzkrise hat am Trend der immer reicher werdenden Superreichen nichts geändert, im Gegenteil: Sie hat ihn sogar beschleunigt.

Zur wachsenden Ungleichverteilung des Vermögens hat auch die steuerliche Privilegierung der Reichen beigetragen, nicht zuletzt durch die Aussetzung der Vermögensteuer seit 1997. Kaum ein Land erzielt bei den vermögensbezogenen Steuern (Grund-, Vermögen-, Erbschaft- und Schenkungs- sowie Vermögensverkehrsteuern) so geringe Einnahmen wie Deutschland - laut OECD betrug deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2009 lediglich 0,9 Prozent. Das ist gerade mal die Hälfte des damaligen Durchschnittswertes der OECD-Länder (1,8 Prozent) und rund ein Drittel des Durchschnittswertes der EU-27 Länder (2,6 Prozent). Die Auswirkungen der fatalen und wachsenden Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen werden im folgenden Abschnitt beschrieben.


3. Epizentrum Finanzmärkte und ungelöstes Eurochaos

Im Zuge der Bewältigung der internationalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sind weltweit die Ausgaben der öffentlichen Haushalte gestiegen. Alle Industrieländer haben Maßnahmen zur Rettung von Banken unternommen. Darüber hinaus wurden weltweit riesige Konjunkturprogramme aufgelegt, um den realwirtschaftlichen Einbruch abzumildern. Zwangsläufig haben Bankenrettungsschirme in vielen Ländern zu einer deutlichen Steigerung der Staatsverschuldung beigetragen. Eine weitere Bankenkrise nennenswerten Ausmaßes würde diese Probleme weiter verschärfen. Dabei sind die Spannungen im Finanzsektor weder in Deutschland noch auf der europäischen und schon gar nicht auf der internationalen Ebene beseitigt.

Eine zentrale Ursache ist die seit über 30 Jahren weltweit betriebene neoliberale Wirtschaftspolitik. Diese Politik führt zu einer Umverteilung der arbeitsteilig erwirtschafteten Wertschöpfungen von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen. Vor dieser Umverteilung warnt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik seit 1975, ihrem Gründungsjahr. In vielen Ländern verfielen unter dem neoliberalen Regime die Lohnquoten und stiegen die Gewinnquoten. Bei zurückbleibender Nachfrage führte dies nicht zu vermehrten Investitionen in die Realwirtschaft, vielmehr speiste die überschüssige Liquidität die Finanzmärkte. Die zunehmende Privatisierung der Altersvorsorge spülte weitere Milliarden auf den Finanzmarkt.

Verstärkt wurde diese Entwicklung durch eine starke Deregulierung der Finanzmärkte. Dadurch wurde es möglich, dass im Finanzsektor für Vermögende zeitweise Renditen erwirtschaftet werden konnten, die weit über den realwirtschaftlichen Zuwachsraten lagen. All das hat sich auch nach der Krise kaum geändert. Daher bleibt der Finanzsektor das Epizentrum krisenhafter Entwicklungen. Durchgreifende Reformen wurden bislang vermieden. Vielmehr wird versucht, durch kleinere Reparaturen das Vorkrisensystem zu stabilisieren. Der fehlende Veränderungswille im Finanzsektor zeigt sich auch bei der Besetzung von Vorstands- und Aufsichtsratsposten. Obwohl es hier im Zuge der Finanzmarktkrise zu massiven Neubesetzungen kam, wurde an der männlichen Monokultur in den Spitzengremien der Unternehmen festgehalten.

Auch heute kommt es bei bestimmten Anlagegütern wie Immobilien und Edelmetallen zu einer Vermögenspreisinflation. Der in der Ökonomie bekannte Herdentrieb ist nach wie vor zu beobachten. Finanzinvestoren spekulierten inzwischen auf die Pleite verschuldeter Euro-Länder. Für einzelne Euro-Staaten schießen die Zinsen für die Refinanzierungen der Staatsschulden in die Höhe. Zusätzlich angeheizt wird dies durch die Ratingagenturen, die schon bei der Entstehung der internationalen Finanzmarktkrise 2008/2009 eine unrühmliche Rolle gespielt haben. Seit dem Ausbruch der Krise erweist sich die Politik als unfähig, ihr Primat gegenüber den Finanzmärkten zur Geltung zu bringen. Folglich treiben entfesselte Finanzmärkte und die Ratingagenturen die Politik vor sich her. Dabei gilt: Ohne einen tief greifenden Umbau der Finanzmärkte ist auch die aktuelle Eurokrise nicht in den Griff zu bekommen.

Europa befindet sich in der größten Integrationskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Noch ist unklar, ob und wie der Euro als Gemeinschaftswährung von 17 Staaten diese Krise überleben wird. Die Fehlkonstruktion der europäischen Verträge erschwert ein sinnvolles Krisenmanagement. Die europäischen Staatschefs versuchen seit zwei Jahren ohne Erfolg, die Krise der Eurozone einzudämmen.

Seit das Desaster zu Beginn des Jahres 2010 mit der Verschärfung der Finanzierungsbedingungen für griechische Staatsanleihen seinen Anfang nahm, reiht sich ein Krisengipfel an den nächsten. Das Krisenmanagement war bisher zögerlich und zeigte keine klare Linie. Bislang beruhigten die Ergebnisse der einzelnen Gipfel die "Märkte" bestenfalls kurzfristig. Das Risiko von staatlichen Finanzierungskrisen und Staatsbankrotten steigt. Inzwischen sollen nach dem Willen der EU-Regierungschefs die europäischen Banken darauf vorbereitet werden, Abschreibungen auf Staatsanleihen der Krisenstaaten vornehmen zu können. Zu diesem Zweck sollen sie ihre Kernkapitalquote auf neun Prozent erhöhen. Dies erfordert einen zusätzlichen Kapitalbedarf von über 100 Milliarden Euro, was für einige Banken bedeutet, erneut auf öffentliche Finanzhilfen zurückgreifen zu müssen, um einer Pleite zu entgehen. Eine Stabilisierung der Märkte ist damit nicht verbunden. Hat schon das Krisenmanagement der EU die akuten Finanzierungsprobleme einiger Staaten bisher nicht lösen können, so geht die langfristige Strategie erst recht am Kern des Problems vorbei. Im Winter 2011 entwarfen Bundeskanzlerin Merkel und der französische Staatspräsident Sarkozy ein neues Regelwerk für die nationalen Finanzpolitiken im Euroraum. Von Griechenland bis Frankreich soll es nun nationale "Schuldenbremsen" geben. Das jährliche konjunkturbereinigte Staatsdefizit darf 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen. Dies stellt eine massive Verschärfung des Stabilitätspaktes von 1997 dar. Das neue Regelwerk zwingt die Eurostaaten zu hohen Ausgabenkürzungen und/oder Steuererhöhungen. Aus der geplanten Stabilitätsunion droht eine Stagnationsunion zu werden. Die zunächst in Deutschland implementierte "Schuldenbremse" ist damit zu einem neuen Exportprodukt geworden. Nur Großbritannien und Tschechien beteiligen sich innerhalb der EU-27 vorläufig nicht am Fiskalpakt. Irlands Regierung will noch prüfen lassen, ob die irische Bevölkerung diesem Abkommen in einem Referendum zustimmen muss.

Das Problem der Ungleichgewichte im Euroraum wird damit nicht gelöst, im Gegenteil: Schon jetzt führt das rigorose Spardiktat die Krisenländer in die Rezession und zu sozialen Katastrophen. In Spanien und Griechenland z.B. liegt die Jugendarbeitslosigkeit mittlerweile bei nahezu 50 Prozent. Mit zurückgehender Wirtschaftsleistung sinken auch die Steuern, während die Schulden steigen. In der Krise ist zudem die Chance gering, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer steigt. Zwar sinken die Löhne, aber auch die Investitionen gehen zurück.


4. Alternative Wirtschaftspolitik

Die Forderungen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik liegen seit Jahren vor. Zentrales Ziel ist die Überwindung der Arbeitslosigkeit, die weder von selbst noch durch die demografische Entwicklung verschwinden wird. Letztlich geht es aber um ein viel größeres gesellschaftliches Projekt ökonomischer Gestaltung, das die Bändigung der Finanzmärkte, die Überwindung der Eurokrise, einen leistungsfähigen und ausreichend finanzierten öffentlichen Sektor und den ökologischen Umbau der Gesellschaft beinhaltet, um nur einige Ziele zu nennen. Es geht also um einen anderen, sozial-ökologischen Entwicklungspfad jenseits eines neoliberal organisierten, finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Die Forderungen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sind deshalb unverändert aktuell. Im Detail wurden sie in verschiedenen MEMORANDEN ausgeführt.

Die Forderungen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik umfassen ein öffentliches Ausgaben- und Umbauprogramm, eine Arbeitszeitverkürzung, Regulierungen zur Eindämmung der Finanz- und Eurokrise, ein Steuerkonzept und die Demokratisierung der Wirtschaft.


4.1 Öffentliches Investitions-, Beschäftigungs- und Umbauprogramm starten

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert ein öffentliches Investitions-, Beschäftigungs-und Umbauprogramm im Umfang von 110 Milliarden Euro jährlich. 75 Milliarden Euro davon sind für öffentliche Investitionen vorgesehen. Schwerpunktinvestitionen sind: das Bildungssystem, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine Energiewende zur Stärkung alternativer Energiequellen, der Städtebau, das öffentliche Verkehrsnetz sowie die soziale Infrastruktur. Diese Ausgabenpolitik würde zwar dafür sorgen, dass die Staatsausgaben stärker wachsen als die Gesamtwirtschaft. Infrastrukturinvestitionen zugunsten ökologisch besserer Lebens- und Produktionsverhältnisse für künftige Generationen zahlen sich aber bereits heute aus. Außerdem werden die wirtschaftliche Entwicklung und die Lebensqualität nachhaltig gesteigert.

Diese Investitionen sollen gesellschaftliche Bedarfe decken. In der aktuellen Situation erfüllen sie aber auch eine konjunkturpolitische Funktion. Die derzeit labile Konjunkturentwicklung, die ohne aktives Gegensteuern zu einer Rezession führen kann, verlangt nach einer expansiven Finanzpolitik. Die Lehre aus den positiven Wirkungen einer aktiven Finanzpolitik zur Überwindung des weltweiten ökonomischen Absturzes im Jahr 2009 ist klar: Eine antizyklische Finanzpolitik ist dringend erforderlich.

Wie in früheren MEMORANDEN dargelegt ist der Aufbau zusätzlicher öffentlicher und öffentlich geförderter Arbeitsplätze nach wie vor dringend. Zum einen können so Mängel in der Daseinsvorsorge und an der Infrastruktur beseitigt sowie gesellschaftlich notwendige Investitionen realisiert werden. Zum anderen führt dies auch zu einer unmittelbaren Verringerung der Arbeitslosigkeit.

18‍ ‍Milliarden Euro sind für die öffentlich geförderte Beschäftigung, die Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Sektor und die Unterstützung von Arbeitszeitverkürzungen in der Privatwirtschaft bei kleinen und mittleren Unternehmen vorgesehen. In der neoliberalen Entwicklungslogik ist ein Rückbau des Staates das Ziel. Dazu gehört vor allem auch ein Abbau der öffentlichen Beschäftigung. Dieser Trend muss gestoppt und umgekehrt werden. Der reguläre öffentliche Dienst hat sich wieder an der Sicherstellung einer guten öffentlichen Daseinsvorsorge statt an einem Spardiktat zu orientieren. Zusätzlich muss ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor aufgebaut werden, in dem jenseits öffentlicher Verwaltungslogik Beiträge zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedarfe geleistet werden. Auch in diesem Bereich müssen ausschließlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mit einer existenzsichernden Entlohnung angeboten werden.

17‍ ‍Milliarden Euro werden für die Anhebung der Sätze für das Arbeitslosengeld II benötigt. Diese Anhebung verbessert in einem ersten Schritt die soziale Lage der Betroffenen und fördert den privaten Konsum. Darüber hinaus muss das System der sozialen Sicherung grundsätzlich reformiert werden.


4.2 Öffentlichen Sektor stärken - Beispiele Bildung und soziale Dienstleistungen

Wie erwähnt, muss der öffentliche Sektor in der Lohnpolitik eine Vorreiterrolle einnehmen. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat in der Vergangenheit immer wieder einzelne Bereiche dieses Sektors näher analysiert und dargelegt, welcher Handlungsbedarf und welche Reformen hier notwendig sind. Im diesjährigen MEMORANDUM wird ausführlich auf den Bereich der Bildungsfinanzierung und auf die sozialen Dienstleistungen eingegangen.

Bildungsausgaben erhöhen
Die jährliche Bloßstellung von Mängeln in der deutschen Bildungsfinanzierung durch die OECD führt zu einem immensen Handlungsdruck in der Innenpolitik. Eine Verbesserung der Bildungsfinanzierung bei gleichzeitigem neoliberalen Entstaatlichungsdruck ist aber eine nicht zu lösende Aufgabe. Wie wichtig Bildung dabei für eine Volkswirtschaft ist, hat die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik auch in der Vergangenheit immer wieder betont. Das Ziel ist "Gute Bildung für alle".

Bildung ist ein Instrument zur umfassenden individuellen Entfaltung, die Menschen zur gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Partizipation befähigt. Dieses Verständnis von Bildung reflektiert die Beziehung von Mensch und Gesellschaft in ihren verschiedenen Dimensionen (Demokratie, Gesellschaft, Ökonomie, persönliche Entwicklung). Bildung ist aber kein billiger Wachstumsgarant.

Bei schlechter werdenden ökonomischen Zukunftsaussichten setzen viele (in Politik, Lobbyismus und Wirtschaftswissenschaft) scheinbar auf Investitionen in die Bildung, um Armut und Arbeitslosigkeit zu verhindern ("Bildungsrepublik"). Viele der damit verbundenen Hoffnungen beruhen auf dem Konzept eines "vorsorgenden Sozialstaates". In diesen Vorstellungen werden Bildungsinvestitionen alternativ zu sozialstaatlichen Leistungen gesetzt. Es wird zudem die Hoffnung auf eine "demografische Rendite" genährt: Wenn trotz zurückgehender Schülerzahlen das Geld im Bildungssystem verbliebe, müssten keinerlei Mehrausgaben für Bildung vorgesehen werden, und wirtschaftliches Wachstum werde sich allein durch eine bessere Ausbildung einstellen.

Eine solche neoliberale Argumentation leitet sich hauptsächlich aus den neueren Wachstumstheorien ab. In diesen Weiterentwicklungen der neoklassischen Wachstumstheorie wird Bildung dem Humankapital gleichgesetzt und als Inputfaktor zur Steigerung der Produktivität interpretiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Arbeitsangebot auf eine entsprechende Nachfrage trifft. Das ist empirisch allerdings widerlegbar. Das Grundproblem einer auseinanderlaufenden Entwicklung von Arbeitsproduktivitäts- und Nachfragewachstum wird durch höhere Bildungsausgaben nicht aufgehoben. Auch das Hoffen auf die "demografische Rendite" zugunsten der öffentlichen Bildungsfinanzierung ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Festzuhalten ist: Um die im internationalen Vergleich allgemein anerkannte unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit und Unterfinanzierung des deutschen Bildungssystems zu überwinden, müssten jährlich über 50 Milliarden Euro Mehrausgaben getätigt werden. Die beispielsweise vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) berechnete "demografische Rendite" beträgt dagegen nur 8,8 Milliarden Euro.

Die international vergleichende politikwissenschaftliche Forschung zeigt: Wichtig für ein finanziell gut ausgestattetes Bildungssystems sind vor allem ein großer Steuerstaat, die Bevorzugung staatlicher Problemlösungsansätze sowie ein gut ausgebauter und frauenerwerbsfreundlicher Wohlfahrtsstaat.

In Deutschland ist die ausreichende Finanzierung des Bildungssektors trotz des im internationalen Vergleich hohen Bruttoinlandsprodukts nicht gesichert. Vielmehr haben die Bundesländer das Vorhaben der Bundeskanzlerin, die Bildungsausgaben auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, wegen Nichtfinanzierbarkeit abgelehnt. Stattdessen wird auf Privatisierung gesetzt. Folglich wird die Partizipation am Bildungssystem, die in Deutschland heute schon vergleichsweise stark an die Herkunft gekoppelt ist, noch mehr von der Einkommenssituation und damit von der sozialen Herkunft abhängig. Um dem zu begegnen, müssen der Privatisierungsdruck im Bildungsbereich gestoppt und das Sieben-Prozent-Ziel des Bildungsgipfels im Jahr 2008 aufrecht erhalten werden.

Soziale Dienstleistungen ausbauen
Eine dauerhafte Expansion und Aufwertung des Staates ist angesichts neuer Anforderungen an soziale Dienstleistungen in der Gesellschaft notwendig. Bislang hängen Umfang, Reichweite und Qualität der Leistungserbringung wie auch die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen der Beschäftigten von der staatlichen Bereitschaft ab, eine qualitativ hochstehende und für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen gut zugängliche Infrastruktur zu schaffen und die laufende Leistungserbringung dauerhaft zu finanzieren. Bereits im MEMORANDUM 2009‍ ‍hat die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ausgeführt, dass Deutschland bei sozialen Dienstleistungen nicht nur im Vergleich zu den skandinavischen Ländern, sondern verglichen mit den mitteleuropäischen und angelsächsischen Ländern im Rückstand ist.

Dabei tritt ein grundlegender Widerspruch zutage: Obwohl traditionelle Familienmodelle und geschlechtliche Rollenzuschreibungen in der Bevölkerung kaum noch Zuspruch finden, bestehen die darauf begründeten ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen fort. Statt durch eine umfassende öffentliche Infrastruktur der Pflege und Betreuung für Jung wie Alt die Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt aktiv zu fördern, gibt es eine gespaltene Agenda. So tritt im Bereich der Kinderbetreuung zwar ab Mitte des Jahres 2013 ein Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahres in Kraft. Da aber fast alle Kommunen unterfinanziert sind und die von Bund und Ländern bereitgestellten Mittel die Finanzlücke nicht schließen, hakt es bei der Umsetzung. Das Platzangebot reicht insbesondere in den westlichen Bundesländern nicht aus. Billiglösungen zulasten der Qualität sind daher vorprogrammiert.

Auch bei den geriatrischen Dienstleistungen der Pflege und sozialen Betreuung der Generation 65 plus fehlt es am politischen Willen, die öffentliche Finanzausstattung am gesellschaftlichen Bedarf auszurichten. Das von der Bundesregierung zum "Jahr der Pflege" ausgerufene Jahr 2011 endete als Flop. Der viel beschworene "Pflegenotstand" ist hausgemacht und trifft die in den Niedriglohnsektor abgedrängten Pflegebeschäftigten. Im deutschen Altenpflegesystem sind die Kosten überwiegend privatisiert. Informell Pflegende fungieren als Billigstpflegedienst, und die Erbringung formeller Pflegeleistungen erfolgt hochfragmentiert in zunehmend von privat-gewerblichen Trägern geprägten Strukturen.

Zugleich gilt eine engmaschig-bürokratische Leistungsregulierung. Diese ist nicht am individuellen Unterstützungsbedarf orientiert. Ganz im Gegenteil sorgt ein auf körperliche Defizite eingegrenzter Pflegebegriff für hohe Zugangshürden. Im EU- wie im OECD-Vergleich hat Deutschland nach Japan zwar die höchste Quote der Über-65-Jährigen, gleichwohl liegen die öffentlichen Ausgaben für die Pflege mit nur 0,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts um 0,3 BIP-Prozentpunkte unter dem OECD-Durchschnitt. In Ländern mit Pflegesystemen, die von der Bevölkerung wie von den Beschäftigten gleichermaßen gut bewertet werden, ist der öffentliche Mitteleinsatz wie auch die Beschäftigungsdichte um ein Vielfaches höher.

Daraus folgt: Nur mit einer Ausweitung des öffentlichen Finanzrahmens in Orientierung an den Ländern, die Maßstäbe setzen - außer den skandinavischen Ländern sind hier die Niederlande und Belgien zu nennen -, sind substanzielle Verbesserungen bei der Reichweite und Qualität der Versorgung wie auch bei den Arbeitsbedingungen der im häuslichen und institutionellen Bereich Beschäftigten möglich.


4.3 Gute Arbeit schaffen

Gegen die Prekarisierung des Arbeitsmarktes fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik eine umfassende Re-Regulierung: Die Einsatzdauer von Leiharbeitenden in einem Betrieb soll zeitlich eng befristet und sachlich begrenzt werden. Eine Mindestforderung ist die Gleichbehandlung und Gleichbezahlung der Leiharbeitskräfte im Betrieb ("equal pay"). Noch besser wäre entsprechend dem französischen Vorbild ein Flexibilitätszuschlag für Leiharbeitende. Außerdem sollen sie der uneingeschränkten Mitbestimmung im Entleihbetrieb unterliegen und der Anteil der Leiharbeitenden an der Gesamtbelegschaft im Entleihbetrieb soll mitbestimmungspflichtig werden. Das "Synchronisationsverbot" (Verbot der Koppelung des Arbeitsvertrags an Verleiheinsätze) muss wieder eingeführt werden. Außerdem müssen Leiharbeitende in verleihfreien Zeiten das Recht auf eine für sie kostenfreie Qualifikation erhalten.

Mini-Jobs müssen abgeschafft werden, das heißt: Für jede Arbeit ist ab dem ersten Euro der volle Beitrag zur Sozialversicherung zu entrichten. Weiter fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik nach wie vor die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes von zunächst zehn Euro je Stunde, um dem sich ausweitenden Lohndumping eine klare Grenze nach unten zu setzen.

Soll der unheilvolle Zustand der Massenarbeitslosigkeit überwunden werden, reicht ein Investitionsprogramm nicht aus. Eine wichtige Rolle spielt auch die Arbeitszeit. Bei einem langfristig sinkenden Arbeitsvolumen müssen auch die Arbeitszeiten zurückgehen. Die aktuelle Entwicklung verläuft allerdings völlig gegenläufig und kontraproduktiv. Eine Arbeitszeitverkürzung gibt es nur in prekärer Form wie Mini-Jobs und ungewollter Teilzeitbeschäftigung - oder in Form von Arbeitslosigkeit. Vollzeitarbeitskräfte hingegen arbeiten immer länger.

Problematisch ist insbesondere, dass tarifliche Regelungen zur Arbeitszeit häufig nicht greifen. Überlange Arbeitszeiten sind zu einem erheblichen Problem geworden. Sie führen zu außerordentlichen gesundheitlichen Belastungen, drücken den tatsächlichen Stundenlohn der Beschäftigten und ermöglichen den Einsatz von weniger Personal. Dieser Trend muss gestoppt werden. Der erste Schritt dazu ist die Durchsetzung der tariflichen Arbeitszeit als tatsächliche Arbeitszeit. Eine neue Regulierung der Arbeit muss auch Rahmenbedingungen setzen, um eine Eingrenzung der Arbeitszeiten besser durchsetzen zu können. Perspektivisch fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik eine "kurze Vollzeit für alle" in der Größenordnung von 30 Stunden pro Woche.

Dabei muss auch die Intensität der Arbeit berücksichtigt werden. Bei den Beschäftigten bestehen berechtigte Sorgen, dass die Verkürzung der Arbeitszeit mit einer weiteren Arbeitsverdichtung einhergeht. Das gilt längst nicht mehr nur für den industriellen Bereich; auch bei den Dienstleistungen ist es inzwischen ein dramatisches Problem. Tatsächliche Personalaufstockungen durchzusetzen muss mit Schritten zur Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung einhergehen.


4.4 Finanzsektor regulieren und Ursachen der Finanzmarktkrise eindämmen

Ein zukunftsfähiger Finanzsektor muss wieder auf seine ökonomische Dienstfunktion für Wirtschaft und Gesellschaft zurückgestutzt werden. Darüber hinaus muss der massiven Ungleichverteilung von Vermögen entgegengewirkt werden. Zur dauerhaften Überwindung der Finanzmarktkrise sind damit nicht nur einzelne regulatorische Schritte und eine Gläubigerbeteiligung erforderlich, sondern auch deutliche Eingriffe in die Vermögensverteilung.

Den zentralen Ansatzpunkt bei der Regulierung des Finanzsektors bietet die gesetzliche Beschränkung der Banken auf ihre Kernfunktionen. Dies bedeutet eine massive Schrumpfung des Finanzsektors und den Wegfall bestimmter Geschäftsbereiche (z. B. des Eigenhandels). Zudem ist eine Kontrolle des Finanzsystems durch intensive und demokratisch beschlossene Regulierung und durch die Mitsprache gesellschaftlicher Stakeholder in Finanzunternehmen (z. B. strukturpolitischer Branchenräte und gesellschaftlicher Beiräte) auszuweiten. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer Zurückdrängung der ausschließlich gewinnmaximierenden Eigentumsstrukturen in Form der Kapitalgesellschaften in der Finanzbranche. Die öffentlich-rechtlichen und die genossenschaftlichen Säulen des deutschen Bankensektors müssen dagegen an Bedeutung gewinnen (Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken). Zugleich ist die Macht einzelner Schlüsselakteure wie z. B. der Großbanken, Ratingagenturen und großen Versicherungsunternehmen zu brechen.

Im Bereich der Finanzprodukte gilt es, gefährliche Praktiken zu verbieten und zu verhindern. Geeignete Maßnahmen dazu sind das Verbot von Leerverkäufen und des Handels mit ungedeckten Kreditausfallversicherungen (CDS). Die vom EU-Parlament am 15. November 2011 beschlossenen Verbote von Kreditausfallversicherungen ohne zugrunde liegende Anleihe ("CDS-Wetten") sowie die beschlossene Einschränkung ungedeckter Leerverkäufe von Aktien gehen in die richtige Richtung. Notwendig ist darüber hinaus ein Verbot von Finanzgeschäften außerhalb von geregelten Handelsplattformen (d. h. ein Ende des Over-the-Counter-Marktes), ein Verbot hochkomplexer spekulativer Finanzinstrumente sowie Weiterverkaufseinschränkungen für einfache Derivate. Ebenso ist Finanzinstituten, die Niederlassungen in Steuer- und Regulierungsoasen unterhalten bzw. mit Schattenbanken zusammenarbeiten, die Lizenz zu entziehen.

Mit der Schaffung eines Finanz-TÜV wird auf der regulatorischen Ebene ein Paradigmenwechsel eingeleitet: Finanzdienstleistungen und Finanzinstrumente bleiben so lange verboten, wie sie nicht ausdrücklich zugelassen sind. Dadurch wird der Wildwuchs auf den Finanzmärkten beendet, dem der Gesetzgeber mit Regulierungsversuchen ansonsten hoffnungslos hinterherhinkt. Zugleich wird damit der finanzielle Verbraucherschutz ausgeweitet - unterstützt durch die Schaffung einer Finanz-Verbraucherschutzbehörde.

Die Einführung einer Finanztransaktionsteuer wird von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ohnehin seit langem gefordert. Steuervergünstigungen für die Finanzbranche sind zurücknehmen; stattdessen sind die Steuern für diese Branche zu erhöhen (Ende der Gewerbesteuerfreiheit von Private-Equity-Fonds, Einführung von Steuern auf Bonuszahlungen etc.). Eine wirkliche Bankenabgabe, gestaffelt nach Größe und gesamtwirtschaftlichem Risikopotenzial von Finanzinstituten, ist einzuführen. Die Einnahmen fließen in die öffentlichen Haushalte als Branchenbeitrag zur Deckung der Kosten der Finanzmarktkrise.

Der Eurokrise kann kurzfristig nur entgegengetreten werden, wenn die Abhängigkeit des Staates und der Gesellschaft von den Finanzmärkten durchbrochen wird. Zur Durchsetzung dieser Ziele fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Möglichkeiten der Staatsfinanzierung jenseits der Finanzmärkte (d. h. durch eine Europäische Bank für öffentliche Anleihen) einzuführen. Auch lässt sich die Macht der Finanzmärkte gegenüber einzelnen Staaten durch eine Solidarität zwischen Volkswirtschaften überwinden. Die Einführung von Eurobonds ist dringend geboten. Ebenso notwendig ist die Entwicklung eines fairen und transparenten Entschuldungsverfahrens für überschuldete Staaten, falls trotz der vorstehend genannten Maßnahmen ein einzelner Staat zahlungsunfähig werden sollte.

Wenn aber die tiefer liegenden Krisenursachen - die massiven Ungleichgewichte bei der Vermögens- und Einkommensverteilung und durch die Exportposition Deutschlands - nicht beseitigt werden, werden die kurzfristigen Maßnahmen ins Leere laufen.


4.5 Steuereinnahmen erhöhen - für eine nachhaltige Finanzierung öffentlicher Ausgaben

Die Tatsache, dass die Neuverschuldung des Bundes im vergangenen Jahr nicht wie geplant 48,4 Milliarden Euro betrug, sondern nur 17,3 Milliarden Euro, bestätigt wieder einmal, dass bei der Sanierung der öffentlichen Haushalte das Wirtschaftswachstum eine zentrale Rolle übernimmt. Wachstumsbedingte Steuermehreinnahmen lassen die Neuverschuldung schrumpfen. Für die Umsetzung der Forderungen der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftpolitik reichen diese Effekte aber nicht aus. Zwar wird der Einstieg in das Investitionsprogramm kreditfinanziert, wozu der Anpassungspfad an die Anforderungen der "Schuldenbremse" exzessiv auszureizen ist. Aber spätestens mit der vollständigen Wirkung der "Schuldenbremse" auf Bundesebene im Jahr 2016 ist unter den gegebenen Bedingungen nur noch die vollständige Steuerfinanzierung der Staatsausgaben möglich.

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik fordert deshalb Steuererhöhungen für Unternehmen sowie für die Bezieherinnen und Bezieher hoher Einkommen und eine grundlegende Reform des Einkommensteuertarifs. Dies nicht nur, weil konjunktur- und wachstumsbedingte Einnahmeeffekte nicht ausreichen, um die notwendigen Investitionen zu finanzieren, sondern auch aus Gründen einer größeren Steuergerechtigkeit. Dazu gehören im Einzelnen:

Der Spitzensteuersatz wird einheitlich auf 53 Prozent erhöht, und die Spitzenbesteuerung beginnt ab einem zu versteuernden Einkommen von 67.000/134.000 Euro (alleinstehend/verheiratet).

Der Eingangssteuersatz setzt mit 14 Prozent bei 8.500/17.000 Euro (alleinstehend/verheiratet) ein. Vom Eingangssteuersatz bis zum Spitzensteuersatz steigt die Steuerbelastung linear an. Dies führt dazu, dass beispielsweise alleinstehende Steuerpflichtige bis zu einem Bruttoeinkommen von 70.400 Euro entlastet werden; Steuerpflichtige mit einem höheren Bruttoeinkommen werden belastet.

Die derzeit geltende Abschlagsteuer auf Kapitaleinkünfte mit 25 Prozent wird abgeschafft und die Einkunftsart nach dem allgemeinen Einkommensteuertarif belastet. Für alle Zins- und Dividendenzahlungen aus dem In- und Ausland gibt es Kontrollmitteilungen an die zuständigen Finanzämter.

Das immer noch geltende Ehegattensplitting, das Alleinverdienerinnen bzw. Alleinverdiener innerhalb der Familie im Bereich des Spitzensteuersatzes bevorteilt, ist nach einer Einrichtung von Übergangsregeln schließlich abzuschaffen.

Weitere Maßnahmen des steuerpolitischen Konzepts der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sind:

• Der progressiv wirkende Solidaritätszuschlag von 5,5 Prozent auf die zu zahlende Einkommensteuer wird beibehalten.

• Der Körperschaftsteuersatz für die Kapitalgesellschaften wird von derzeit 15 auf 30 Prozent erhöht.

• Bei der Mehrwertsteuer sollen existenzwichtige Güter und Dienstleistungen (etwa Arztleistungen) nicht mehr oder lediglich mit sieben Prozent besteuert werden - statt mit dem Normalsteuersatz von 19‍ ‍Prozent wie bisher. Allerdings muss der Katalog zur Anwendung einer abweichenden Besteuerung gegenüber dem Normalsteuersatz überprüft und entsprechend reduziert werden. Das Steuerprivileg für das Übernachtungsgewerbe ist unverzüglich zurückzunehmen und damit wieder der Steuersatz von 19 Prozent anzuwenden.

• Die derzeitige Gewerbesteuer sollte als wichtigste autonome Einnahmequelle der Kommunen in eine aufkommensstarke und stabile Gemeindewirtschaftsteuer umgebaut werden. Alle erwerbswirtschaftlich Aktiven, also auch die Freiberuflerinnen und Freiberufler sowie die Selbstständigen, die vom kommunalen Leistungsangebot profitieren, zählen zu den zu besteuernden Unternehmen. Vorzusehen ist ein Freibetrag von 30.000 Euro, der bis zu einem Ertrag von 60.000 Euro wieder abgeschmolzen wird. Für Unternehmen und gewerbesteuerpflichtige Personen, die der Einkommensteuer unterliegen, reduziert sich die Einkommensteuerlast durch den Abzug der Gewerbesteuer bei der Ermittlung der Einkommensteuer. Damit werden die meisten einkommensteuerpflichtigen Unternehmen und Personen durch die Gemeindewirtschaftssteuer nicht zusätzlich belastet.

• Die durch die jetzige Bundesregierung durchgesetzten Änderungen bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer sind wieder rückgängig zu machen. Der Spitzensteuersatz soll erhöht werden; die Freibeträge sind zu kürzen. Die Kriterien für die Freistellung von der Steuer im Falle der Fortführung des Betriebs sind deutlich zu verschärfen.

• Die Besteuerung aller Finanztransaktionen muss endlich realisiert werden. Nach einer Berechnung im Auftrag der EU-Kommission wäre bei einem Steuersatz von nur 0,2 Prozent auf Anteile und Anleihen sowie von 0,02 Prozent auf Derivatkontrakte (wobei Verkäufer und Käufer jeweils die Hälfte der Steuersätze tragen) mit Einnahmen im Gebiet der EU im Umfang von 57 Milliarden Euro zu rechnen. Die Finanztransaktionsteuer muss jedoch mit Maßnahmen der Regulierung verbunden werden.

Einmalige Vermögensabgabe jetzt - Vermögensteuer auf Dauer
Während in Deutschland die Konzentration der Vermögen auf die Superreichen in den letzten 15 Jahren erheblich zugenommen hat, ist die darauf bezogene Besteuerung auch im internationalen Vergleich viel zu niedrig. Vermögende profitieren im Vergleich zu den relativ stark belasteten Lohnsteuerzahlerinnen und -zahlern von einer Bagatellbesteuerung. Zugleich nehmen die Aufgaben, die der Staat zu finanzieren hat, zu. Dabei ist die öffentliche Kreditaufnahme allein infolge der 2008 ausgebrochenen Wirtschafts- und Finanzkrise um über 300‍ ‍Milliarden Euro gestiegen. Durch die Last der dadurch erzeugten Zinszahlungen drohen weitere Kürzungen vor allem im Bereich der Infrastruktur, im Sozialbereich und im öffentlichen Dienst.

Seit Jahren fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik eine dauerhafte Vermögensteuer, die den Bundesländern zufließt. Diese Vermögensteuer ist ein wichtiger Bestandteil alternativer Steuerpolitik. Gegenüber den massiven Belastungen der öffentlichen Haushalte reicht die Vermögensteuer, die für die dauerhafte Finanzierung von Landesaufgaben vorgesehen ist, nicht aus. Erforderlich ist eine einmalige, spürbare Abgabe auf die Vermögen, die die Vermögenden über einen Zeitraum von zehn Jahren aufzubringen haben. Die Vermögensabgabe, die zu einer massiven Lastenumverteilung führen muss, unterscheidet sich wesentlich von einem Schuldenschnitt bei öffentlichen Anleihen. Denn beim Schuldenschnitt werden nur die Vermögenden getroffen, die als Gläubiger über Staatsschuldtitel verfügen. Die Vermögensabgabe hat den Vorteil, dass alle Arten des Geldvermögens sowie die Immobilien und die Betriebsvermögen zielgenau einbezogen werden können. Das Steuersubjekt ist die bzw. der Vermögende, die bzw. der wegen ihrer bzw. seiner vergleichsweise hohen ökonomischen Zahlungsfähigkeit zur Finanzierung verpflichtet wird. Das Aufkommen aus der Vermögensabgabe wird zum Abbau der Staatsschulden, von denen bisher die Vermögenden als Gläubiger auch profitiert haben, genutzt. Im Mittelpunkt steht eine massive Umverteilung: Durch die Abgabe der Vermögenden werden die Zinszahlungen im Bundeshaushalt, die überproportional durch die Massensteuern finanziert werden, reduziert.

Diese Vermögensabgabe ist mit der Abgabe im Rahmen des Lastenausgleichs von 1952 zu vergleichen. Die Bemessungsgrundlage war damals auch das Vermögen nach Abzug der Schulden (Nettovermögen). Das Aufkommen wurde zu diversen Entschädigungen für die Kriegsfolgen und Wideraufbauhilfen eingesetzt. Der Abgabensatz auf das resultierende abgabepflichtige Vermögen betrug 50 Prozent. Dazu gehörte auch das "Investitionshilfegesetz" von 1952. Die gewerbliche Wirtschaft hatte mit einer Abgabe von 3,5 Prozent auf den zu versteuernden Gewinn eine Milliarde DM aufgebracht. Die Einnahmen dienten der Finanzierung des Wiederaufbaus der Grundstoffindustrie (Kohle, Bergbau, eisenschaffende Industrie). Wichtig ist der Hinweis, dass das Bundesverfassungsgericht eine Klage gegen dieses Investitionshilfegesetz abgewehrt und es für verfassungskonform erklärt hat.

Eine einmalige Vermögensabgabe durch die Superreichen
Die außergewöhnliche Belastung der öffentlichen Haushalte durch die hohen Staatsschulden, die vor allem in der Finanzkrise sprunghaft angestiegen sind, verlangt einen Befreiungsschlag durch eine Vermögensabgabe. Dazu gehören die folgenden Elemente:

• Die hier vorgeschlagene Vermögensabgabe erbringt insgesamt ein Volumen von mindestens 300 Milliarden Euro. Das Aufkommen soll in einen Fonds fließen, aus dem ein Teil der öffentlichen Schulden des Bundes, der Länder sowie der Kommunen nach einem Schlüssel - der etwa der Verteilung bei der Einkommensteuer (42,5/42,5/15 Prozent) entspricht - getilgt werden kann.

• Die Erhebung der Vermögensabgabe erfolgt zum Stichtag 1.1.2010. Damit werden nachfolgende Ausweichreaktionen ausgeschlossen.

• Die Laufzeit der Erhebung der Vermögensabgabe wird auf zehn Jahre gestreckt.

• Der Steuersatz beträgt zwei Prozent auf die Bemessungsgrundlage der Vermögensabgabe.

• Die Bemessungsgrundlage ist das Vermögen nach Abzug der Schulden (Nettovermögen). Die Abgabe ist von privaten Personen sowie von Betrieben auf der Basis des Betriebsvermögens zu erbringen.

• Vorgesehen sind persönliche Freibeträge sowie Freibeträge für Kinder und das Betriebsvermögen. Bei einem persönlichen Freibetrag von einer Million Euro, einem Kinderfreibetrag über 250.000 Euro sowie einem Freibetrag auf das Betriebsvermögen von zwei Millionen Euro wäre mit einer Bemessungsgrundlage von ca. 1.840 Milliarden Euro zu rechnen.

• Bei einem Steuersatz von zwei Prozent, der über zehn Jahre jährlich erhoben wird, ist über die gesamte Laufzeit ein Barwert von ca. 300 Milliarden Euro zu erzielen. Durch eine Reduzierung der hier angenommenen hohen Freibeträge würde die Ergiebigkeit der Vermögensabgabe erhöht.

• Die Erhebungs- und Bürokratiekosten liegen deutlich unter fünf Prozent.

Dauerhafte Vermögensteuer reaktivieren
Mit dieser Vermögensabgabe werden in Deutschland die Reichsten einmalig in die Finanzierung des öffentlichen Sektors einbezogen. Dieser Befreiungsschlag muss durch die Einführung einer dauerhaften Vermögensteuer ergänzt werden. Die derzeit ruhende Vermögensteuer muss daher dringend reaktiviert werden. Die ökonomische Leistungsfähigkeit ist nicht nur von den laufenden Einkommen, sondern auch von den Vermögensbeständen abhängig. Dabei richtet sich die Vermögensteuer gegen die ungleiche Verteilung der Vermögen und damit gegen die Vermögenskonzentration. Die Einnahmen aus dieser Vermögensteuer fließen den Bundesländern zu und schaffen einen Finanzierungsspielraum beispielsweise für Bildungsausgaben. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1995 ist zu Recht die Bewertung des Immobilienvermögens (einschließlich Grund und Boden) als verfassungswidrig erklärt worden. Gegenüber den Marktwerten lag der Besteuerungsbetrag nach den Einheitswerten oftmals unter der Hälfte des Marktwertes. Dagegen wurde Geldvermögen zum Marktwert versteuert. Deshalb muss bei der Vermögensteuer statt der früher eingesetzten Einheitswerte jetzt eine marktnahe Bewertung der Immobilien sowie von Grund und Boden gesichert werden. Bei der ebenfalls erforderlichen Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer ist diese Veränderung bereits umgesetzt worden.

Die seit 1997 ruhende Vermögensteuer sollte für private Haushalte oberhalb eines Freibetrags umgehend reaktiviert werden. Dabei sind folgende Eckwerte zu berücksichtigen:

• Besteuert werden die privaten Haushalte.

• Dadurch induzierte Verlagerungen von Vermögen in die Betriebe sind zu verhindern.

• Der Steuersatz beträgt ein Prozent.

• Freibeträge sind vorzusehen.

• Selbstgenutztes Wohneigentum wird nicht der Besteuerung unterzogen.

• Der weitere Freibetrag beträgt für eine Familie mit vier Personen 500.000 Euro (Ehepaar 300.000 Euro, je Kind 100.000 Euro).

Bei den Einnahmen aus der Vermögensteuer werden jährlich bis zu 20 Milliarden Euro erwartet.


© Februar 2012,

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

Die Langfassung dieses Textes enthält ausführliche Erläuterungen und Begründungen zu den wichtigsten Aussagen. Das MEMORANDUM 2012, d. h. die Kurz- und Langfassung sowie die Liste der Unterstützerinnen und Unterstützer, erscheint Ende April 2012 als Buch.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Grafiken der Originalpublikation:

- Deutscher Exportüberschuß 1970 bis 2012
- Abhängig Beschäftigte in atypischen Erwerbsformen 2000 bis 2011
- Entwicklung der Lohnquote in Deutschland seit 2000

Die Kurzfassung des MEMORANDUM 2012 sowie Tabellen und Grafiken aus der Langfassung des MEMORANDUM 2012 sind auch online verfügbar:
http://www.alternative-wirtschaftspolitik.de/veroeffentlichungen_der_arbeitsgruppe/memorandum_2012/index.html

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Die Arbeitsgruppe legte erstmals im November 1975 (kurz nach Verabschiedung des 1. Haushaltsstrukturgesetzes, mit dem der Sozialabbau in der Bundesrepublik eingeleitet wurde) ein "Memorandum für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik" vor. Seit 1977 wird in jedem Jahr in der Woche vor dem 1. Mai ein weiteres Memorandum für eine alternative Wirtschaftspolitik veröffentlicht. Zusätzlich sind zahlreiche Stellungnahmen zu aktuellen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fragen erstellt worden. Mittlerweile gilt das Memorandum vielfach als "Gegengutachten" zum jährlichen Gutachten des "Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" (der "fünf Weisen").

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Quelle:
Pressemitteilung vom 26.04.2012 und Kurzfassung des Memorandum 2012
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Postfach 33 04 47, 28334 Bremen
Telefon: 069.26 02 49 50, Fax: 069.43 05 17 64
E-Mail: memorandum@t-online.de
Internet: www.alternative-wirtschaftspolitik.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2012