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SCHULDEN/017: Solidarisches Miteinander statt ruinöser Wettbewerb (Sozialismus)


Sozialismus Heft 12/2011

Solidarisches Miteinander statt ruinöser Wettbewerb
Europäische Ausgleichsunion

Von Axel Troost und Philipp Hersel


Die Euro-Zone - und damit letztlich die EU - stehen am Scheideweg. Entweder gelingt es, einen neuen Prozess der europäischen Integration anzustoßen, oder das - in seiner Ausprägung durchaus ambivalente - Projekt verstärkter europäischer Nachbarschaft in der EU könnte zu Ende gehen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Die EU in den Verträgen von Maastricht und Lissabon verdient keineswegs kritiklose Unterstützung. Umgekehrt ist es aber brandgefährlich, mit der Euro-Krise die Hoffnung zu verbinden, das Ziel einer europäischen Annäherung und guten Nachbarschaft sei durch einen Kollaps der EU leichter zu bewerkstelligen.

Es mag zynisch klingen, aber die Euro-Krise hat - jenseits aller Probleme und konkreter Härten - in Deutschland immerhin für eine Bereicherung der Debatte über die wirtschaftliche Integration in Europa geführt. Nach sehr vielen Jahren konnte man in deutschen Massenmedien erstmals den Gedanken finden, dass die einseitig auf den Export ausgerichtete deutsche Wirtschaftsstruktur möglicherweise eine Belastung für andere Länder in Europa ist. Im März 2010 wies die damalige französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde darauf hin, die hohen hartnäckigen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands seien ein Teil des Ursachenbündels. Und es waren immer wieder vor allem französische und US-amerikanische Ökonomen, die die spezifisch deutsche Voreingenommenheit gegenüber jeglicher Form staatlicher Konjunkturprogramme scharf kritisierten.

Von dieser kurzzeitigen Belebung der ökonomischen Meinungsvielfalt ist in Deutschland leider nicht viel geblieben. Längst hat sich nicht nur in der Politik, sondern auch in den Leitmedien die Meinung durchgesetzt, dass Länder wie Griechenland, Portugal, Spanien oder Italien ausschließlich selbst schuld an ihrer Misere seien. Deutschland hingegen sei in seiner unglaublich großzügigen und nachsichtigen Hilfsbereitschaft gegenüber den »Pleite-Griechen« quasi eine historische Lichtgestalt. Oder, um es mit der hoffnungslosen Einfalt von Bundeswirtschaftsminister Rösler auszudrücken: »Ich bin bei Wirtschaftsministertreffen immer der einzige, der Exportüberschüsse gut findet.« (Süddeutsche vom 18.11.2011)

Es ist daher heute notwendiger denn je, dass Europa aus Deutschland auch andere Stimmen hört. Andernfalls verfestigt sich in Europa nicht nur der Eindruck, dass Deutschland gegenüber seinen Nachbarn rücksichtslos ignorant vorgeht. Sondern noch schlimmer: In Europa wächst rapide die Befürchtung vor einem wirtschafts-imperialen deutschen Chauvinismus, und dies weckt berechtigterweise sehr böse Erinnerungen. Wie berechtigt diese Befürchtungen sind, hat Volker Kauders überhebliche Äußerung, Europa spreche jetzt deutsch, beängstigend klar gemacht. Auch wenn es manchem übertrieben erscheinen mag: Die Überwindung der verhärteten deutschen Leistungsbilanzüberschüsse und damit ein Abbau der Europa dominierenden deutschen Gläubigerposition ist nicht nur ein Gebot ökonomischer Vernunft, sondern könnte zur Gretchenfrage einer friedlichen Zukunft des Kontinents werden.

Im Folgenden sollen daher konkrete Alternativen zur deutschen Kolonisierung Europas in Form von Austeritätspolitik, Schuldenbremse und Sozialabbau skizziert werden. Diese Alternativen sind daher im ökonomischen wie geo-politischen Sinne zu verstehen. Es geht um eine Europäische Ausgleichsunion.


Warum sind Leistungsbilanzüberschüsse ein Problem?

Die Leistungsbilanz eines Landes drückt im Wesentlichen aus, wie weit der Handel mit Gütern und Dienstleistungen gegenüber dem Ausland im Gleichgewicht ist.(1) Wenn die Exporte die Importe überwiegen, spricht man von einem Leistungsbilanzüberschuss, andernfalls von einem Leistungsbilanzdefizit. Wenn Deutschland einen Leistungsbilanzüberschuss hat, also mehr ins Ausland exportiert als von dort importiert, so haben seine Handelspartner - zusammen gerechnet - im selben Umfang ein Leistungsbilanzdefizit gegenüber Deutschland. In der Summe ergeben die Leistungsbilanzen aller Länder zusammengerechnet immer Null, denn die Exporte der einen sind unausweichlich die Importe der anderen.

Diese Einsicht ist vertrackter als gedacht. Sie produziert nämlich einen Zusammenhang, den wir aus unserem normalen Alltagsverstand nicht gewohnt sind. Natürlich kann jeder intuitiv nachvollziehen, dass ein Defizit, z.B. in der Haushaltskasse, auf die Dauer nicht gut ist, denn man verbraucht erst die Rücklagen und muss danach Schulden machen. Den umgekehrten Fall aber, dass in unserer Haushaltskasse am Monatsende regelmäßig etwas übrig ist, betrachten wir in der Regel als positiv, denn dieser Überschuss lässt sich als Ersparnis zurücklegen. Aus Sicht des einzelnen Haushalts ist diese Intuition richtig, gesamtwirtschaftlich funktioniert die Sache aber anders. Wir können nur deshalb Ersparnisse zur Bank bringen und dafür Zinsen bekommen, wenn die Bank jemanden findet, der bereit ist, sich zu verschulden. Im Inland sind es laut ökonomischem Lehrbuch die Unternehmen, die die Ersparnisse der Haushalte als Kredite bei der Bank aufnehmen und in Investitionen stecken. Im Außenhandel hingegen läuft der Kreislauf von Ersparnissen zur Kreditvergabe anders. Die Länder, die Leistungsbilanzdefizite haben, müssen offensichtlich mehr Geld für die importierten Güter zahlen, als sie aus dem Verkauf ihrer eigenen Exporte eingenommen haben. Die Differenz, also das Handelsbilanzdefizit, müssen sie über Kredite aus dem Ausland finanzieren. Länder mit hartnäckigen Leistungsbilanzdefiziten geraten daher unausweichlich immer tiefer in eine Schuldnerposition, die Überschussländer müssen im Gegenzug zu Gläubigern werden. Sobald die Überschussländer aufhören, als Gläubiger aufzutreten, können die Schuldnerländer ihre Importüberschüsse nicht mehr bezahlen - die Überschussländer müssen ihre Exportüberschüsse einstellen oder sie verschenken. Noch weitreichender: Wenn die Gläubiger jemals ihr Geld zurückbekommen wollen, dann müssen sie es irgendwann zulassen, dass die Schuldnerländer Leistungsbilanzüberschüsse erzielen. Denn nur dadurch bekommen diese einen außenwirtschaftlichen Einkommensüberschuss, den sie für die Tilgung der Auslandsschulden aufwenden können (siehe Tabelle 1).


Tabelle 1: Leistungsbilanzsalden ausgewählter Länder des Euroraums 2007 und 2010
Land

2007
in % des BIP
2007
Mrd. Euro
2010
in % des BIP
2010
Mrd. Euro
Luxemburg
Niederlande
Deutschland
Finnland
Österreich
Belgien
Frankreich
Italien
Irland
Portugal
Spanien
Griechenland
Eurozone
9,7
8,6
7,6
4,3
3,5
1,6
-1,0
-2,4
-5,3
-9,0
-10,0
-14,4
0,4
3,6
49,2
184,9
7,7
9,5
5,4
-19,0
-37,1
-10,0
-15,2
-105,4
-32,7
36,1
6,9
5,7
6,1
1,4
2,3
0,5
-1,8
-2,9
-2,7
-10,0
-5,2
-10,8
0,2
2,8
33,4
152,4
2,5
6,5
1,8
-35,1
-44,9
-4,2
-17,1
-54,7
-25,0
18,3

Quelle: MEMORANDUM 2011, S. 159


In der Euro-Zone stehen wir vor genau diesem Problem. Einige Länder, allen voran Deutschland, aber auch die Niederlande und Österreich, haben dramatische Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber anderen EU-Ländern aufgebaut. Allein in den Jahren 2006 bis 2010 betrug der deutsche Überschuss ca. 580 Mrd. Euro. Neben Frankreich und Italien haben auch Spanien, Portugal und Griechenland stets mehr aus Deutschland importiert, als sie hierzulande (auch in Form von Urlauben als Dienstleistungsimporte) verkaufen konnten. Die Folge ist eine wachsende Auslandsverschuldung, von der die ausländischen Gläubiger, heutzutage gern als »die Finanzmärkte« bezeichnet, nicht mehr sicher sind, ob diese Länder sie bedienen, geschweige denn jemals zurückzahlen können.

Dieser außenwirtschaftliche Erosionsprozess wurde durch die Finanz- und Wirtschaftskrise nochmals deutlich beschleunigt. Gleichzeitig sahen sich die Regierungen gezwungen, zur Stützung ihrer Bankensysteme und zur Verhinderung einer tiefen wirtschaftlichen Depression große Summen aufzuwenden und stark steigende Staatsschulden zuzulassen. Dadurch wurden erhebliche Teile vormals privater Auslandsschulden der spanischen, griechischen etc. Banken zu öffentlichen Auslandsschulden, was leider den Blick dafür versperrt hat, das wir es bei den Ursachen der Euro-Krise nicht primär mit einer Staatsschuldenkrise, sondern mit einer Auslandsschuldenkrise zu tun haben. Aufgrund dieser Zusammenhänge kann auch die Konsolidierung der Staatshaushalte für sich genommen keineswegs der Schlüssel zur Überwindung der Krise sein. Insbesondere können sogar überschüssige Staatshaushalte bei weiterhin andauernden Leistungsbilanzdefiziten nicht verhindern, dass sich schnell wieder krisenhaft hohe Auslandsschulden auftürmen.


Woher kommen die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse?

Zentraler Grund für die hohen deutschen Exportüberschüsse ist der im Vergleich zu den anderen Ländern der Euro-Zone langsamere Anstieg der Lohnstückkosten in Deutschland. Im Vergleich zu den Konkurrenten in der Euro-Zone sind deutsche Produkte schlicht relativ immer billiger geworden. Eine solche Entwicklung ist keineswegs neu und war schon in den 1980er und 1990er Jahren zu beobachten. Mit der Währungsunion ging aber das Instrument verloren, mit dem bis dahin eine regelmäßige Anpassung stattgefunden hat, nämlich eine Aufwertung der DM gegenüber den anderen europäischen Währungen. In einer Währungsunion gibt es aber keine nationalen Wechselkurse mehr, die sich anpassen ließen.

Seit dem Jahr 2000 lag die Entwicklung der deutschen Arbeitsproduktivität im europäischen Mittelfeld. Dagegen sind die Lohnstückkosten seit 2003 bis zum Beginn der krisenbedingten Kurzarbeit 2008 stetig gesunken. Die Löhne in Deutschland sind also, im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern und nicht zuletzt aufgrund der radikalen Einschnitte durch die »Arbeitsmarktreformen« der Agenda 2010, deutlich langsamer gestiegen als die Arbeitsproduktivität. Heute liegen die deutschen Lohnstückkosten nur sechs Prozent über dem Niveau von 2000, während sie im Euroraum seitdem durchschnittlich um knapp 20% gestiegen sind. Da ist es nicht verwunderlich, wenn die deutsche Exportwirtschaft boomt und andere Länder deindustrialisiert werden.

Neben der Stärkung der deutschen Exportfähigkeit ist für den Leistungsbilanzüberschuss aber ebenso die mangelnde Binnennachfrage, quasi ein Importdefizit, verantwortlich. Wer bedenkt, dass die Lohnzuwächse in den Exportbranchen, d.h. im Maschinenbau und in der Chemieindustrie, noch zu den höchsten in Deutschland gehören und die Reallöhne im Durchschnitt sogar gefallen sind, der kann leicht ermessen, wie sehr die Massenkaufkraft darunter gelitten hat. Die Ausbreitung von Leiharbeit, sonstiger prekärer Beschäftigung und des gesamten Niedriglohnsektors infolge der Agenda 2010, kombiniert mit einer realen Kürzung der Sozialtransfers und der Renten haben die Nachfrage auch nach Importkonsumgütern drastisch gesenkt (vgl. IG Metall 6/2010; DIW-Wochenbericht 45/2011).

Nun argumentieren manche, dass nicht die deutschen Löhne zu langsam, sondern die Löhne in den restlichen Ländern der Euro-Zone zu schnell gestiegen seien. Das lässt sich aber eindeutig zurückweisen. Die EZB hat das klar definierte Ziel, die Geldwertstabilität zu sichern. Ihrer eigenen Definition zufolge ist dieses Ziel erreicht, wenn die Inflation der Verbraucherpreise unter, aber nahe bei 2% liegt. Auch wenn das viele verwundern mag: Bei einer Inflation von unter einem Prozent verfehlt die EZB ihr Ziel der Geldwertstabilität also ebenso wie bei einer Inflation von über 3%. Für die Lohnentwicklung bedeutet das, dass die Löhne jährlich im Umfang des Produktivitätszuwachses zuzüglich 2% steigen müssen, wenn die Wettbewerbsfähigkeit des jeweiligen Landes in etwa gleich bleiben soll. Legt man diese Messlatte an, dann hat Deutschland diese »goldene Lohnregel« am stärksten missachtet. Die französische Lohnentwicklung hat sich sehr genau an diese Regel gehalten, die südlichen Euro-Länder lagen moderat darüber. Wenn sich die Länder einer Währungsunion auf ein Inflationsziel von 2% einigen, dann ist es schlicht ein Betrug an den Partnern im Währungsverbund, wenn eine einzelne Regierung die Inflation in ihrem Land - z.B. durch die Schwächung der Gewerkschaften und entsprechend niedrige Lohnzuwächse sowie durch die Kürzung von Transfereinkommen - auf unter 2% drücken will. Die Lektion ist einfach und trifft dennoch einmal mehr auf den intuitiven Widerstand des Alltagsverstands: Bei einem Inflationsziel von zwei Prozent in der Währungsunion sind 1,5% Inflation in Deutschland kein Gewinn, sondern ein Verlust für die BezieherInnen von Erwerbs- und Transfereinkommen. Denn sie könnten bei Verfolgung des Zwei-Prozent-Ziels deutlich höhere Einkommen bei nur geringfügig höheren Preisen haben.


Kurz- und langfristige Grenzwerte: ein Zahlenbeispiel

Ein Land A hat ein BIP von 100 Euro. Davon werden - ähnlich wie in Deutschland - 50%, also 50 Euro, für den Export produziert. Die kurzfristige Schwankungsbreite für Leistungsbilanzungleichgewichte beträgt also drei Euro, die langfristige Obergrenze entsprechend 50% von 50 Euro, also 25 Euro. Wenn dieses Land A nun über vier Jahre den maximal zulässigen jährlichen Leistungsbilanzüberschuss von drei Prozent erzielt, dann haben sich diese Überschüsse nach vier Jahren auf zwölf Euro, d.h. 12% des BIP bzw. 24% der jährlichen Exporterlöse addiert. Bei einer langfristigen Obergrenze von 50% der Exporterlöse dürfte klar sein, dass das Land A auf die Dauer so nicht weitermachen kann, weil es ansonsten im neunten Jahr diese Obergrenze verletzt.

Wie im derzeitigen Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU würde ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, wenn ein Land bestimmte Schwellenwerte überschreitet. Das Vertragsverletzungsverfahren würde beginnen, wenn ein Land die kurzfristige Grenze von 3% des BIP verletzt oder die langfristig zulässige Obergrenze von 50% der Exporterlöse zur Hälfte ausgeschöpft hat. In beiden Fällen würde die EU-Kommission einen »Blauen Brief« verschicken, der das Land verpflichtet, sich gegenüber dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament öffentlich dazu zu äußern, wie das Land die Ungleichgewichte abzubauen gedenkt.


Eine Europäische Ausgleichsunion statt deutscher Wirtschaftsimperialismus

Die wichtigste Lektion aus der aktuellen Krise ist, dass eine Währungsunion ohne ein Regime zur Bekämpfung außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte keine Zukunft haben kann und haben wird.

Der Vorschlag einer »Europäischen Ausgleichsunion« nimmt Elemente der aktuellen Debatte auf und kombiniert sie mit einem weiter gehenden, historisch bemerkenswerten Vorschlag aus den 1940er Jahren.(2)

Auch damals galt es, grundlegende Schlussfolgerung aus einer großen globalen Krise zu ziehen. Als Verhandlungsführer der britischen Regierung hat John Maynard Keynes in den 1940er Jahren bei den Verhandlungen über die Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit die Gründung einer International Clearing Union (ICU) inkl. eines Systems zum Ausgleich von Leistungsbilanzungleichgewichten vorgeschlagen.(3) Neben einer neutralen Weltreservewährung und einem Regime fester Wechselkurse und scharfer Kapitalverkehrskontrollen war der wohl bedeutsamste Bestandteil seines Plans, dass sowohl Defizit- als auch Überschussländer Schritte zum Gleichgewicht ergreifen müssen. Denn Keynes war klar, dass »mindestens so viel Druck zur Anpassung auf das Gläubigerland wie auf den Schuldner« ausgeübt werden muss. »Die Hauptsache ist, dem Gläubiger nicht zu erlauben, einfach passiv zu bleiben. Denn wenn er dies tut, wird dem Schuldner, der gerade aufgrund der Schulden in einer schwächeren Position ist, eine unerfüllbare Aufgabe auferlegt.« (Keynes 1941/1980: 49, Übersetzung d. Verf.)

Die ICU hätte die grenzüberschreitenden Zahlungsströme aller Länder erfasst. Länder mit Handelsbilanzüberschuss hätten entsprechend ein Guthaben, Länder mit Defizit ein Soll ausgewiesen. Statt aber ein Guthaben mit Habenzinsen und ein Soll mit Sollzinsen zu belegen, wären Überschüsse ebenso wie die Defizite durch eine progressive Strafsteuer entwertet worden, sodass im System eine Tendenz zum Gleichgewicht bestanden hätte. Es hätte darüber hinaus Obergrenzen für die Guthaben und Schulden bei der ICU gegeben. Darüber hinausgehende Guthaben wären automatisch enteignet und den Währungsreserven der ICU zugeführt worden. Extreme Gläubigerpositionen hätten so gar nicht erst entstehen können und die Summe der weltweiten Auslandsschulden (d.h. der Defizite bei der ICU) wäre zugleich begrenzt worden. Neben diesen finanziellen Sanktionen hatte Keynes ein Bündel von wirtschaftspolitischen Sanktionen vorgesehen. So hätte ein Überschussland z.B. durch expansive Fiskalpolitik und die Förderung höherer Lohnzuwächse die Gesamtnachfrage und damit auch die Nachfrage nach Importen steigern sollen.

Wenn der Euro eine Zukunft haben soll, dann muss die Verantwortung für die Herstellung und Einhaltung außenwirtschaftlicher Gleichgewichte in der EURO-Zone in Zukunft mindestens zur Hälfte bei den Ländern mit hohen strukturellen Leistungsbilanzüberschüssen liegen. Statt des bisherigen Wachstums- und Stabilitätspakts und seiner vorgesehenen Verschärfung z.B. mit nationalen Schuldenbremsen müssen Obergrenzen für Leistungsbilanzungleichgewichte in der Euro-Zone verbindlich festgelegt werden. Für kurzfristige konjunkturelle Schwankungen sollte - anknüpfend an den Vorschlag eines »außenwirtschaftlichen Stabilitätspakts« von Dullien/Schwarzer (2010) - eine Schwankungsbreite für außenwirtschaftliche Überschüsse bzw. Defizite von 3% des BIP pro Jahr des jeweiligen Landes gelten. In der langen Frist hingegen sollten die Leistungsbilanzen ausgeglichen sein. Dazu müsste neben der kurzfristigen Schwankungsbreite eine langfristige Obergrenze für kumulierte Ungleichgewichte in Höhe von 50% der durchschnittlichen jährlichen Exporterlöse gelten (siehe Kasten Zahlenbeispiel).

Als Teil des Vertragsverletzungsverfahren bieten sich darüber hinaus finanzielle Sanktionen an. So sollten Länder eine jährliche Strafgebühr von einem Prozent für den Teil ihrer kumulierten Ungleichgewichte zahlen müssen, der 15% der langfristigen Obergrenze übersteigt. Für die angesammelten Ungleichgewichte über 25% der langfristigen Obergrenze wären Strafgebühren von 2% fällig. Aufgrund der schon von Keynes dargestellten latent schwächeren Stellung der Schuldner würden weitere Erhöhungsstufen der Strafgebühren nur für akkumulierte Überschüsse gelten. Für Überschüsse über 50% der langfristigen Obergrenze würden demnach 4% Strafgebühr und für Überschüsse über 75% der Obergrenze 8% fällig. Die Strafgebühren würden einem Fonds zufließen, aus dem Projekte der europäischen Struktur- und Kohäsionsförderung finanziert werden könnten. Eine zentrale Aufgabe dieses Fonds wäre die Förderung eines auf den Ausgleich der Leistungsbilanzen gerichteten Strukturwandels in Überschuss- und Defizitländern.

Der beschriebene Sanktionsmechanismus ist nicht zuletzt als Drohkulisse zu verstehen. Wenn die Länder der Euro-Zone ihre Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Steuer- und Strukturpolitik sinnvoll und vorausschauend aufeinander abstimmen, sollte es kein Problem sein, die Grenzwerte der Europäischen Ausgleichsunion einzuhalten und die Notwendigkeit von Vertragsverletzungsverfahren frühzeitig abzuwenden.

Kommt es dennoch zum Vertragsverletzungsverfahren, sollten Überschuss- bzw. Defizitland dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament einen »außenwirtschaftlichen Ausgleichsplan« vorlegen müssen. Überschussländer sollten darin darlegen, wie sie z.B. durch eine Stimulierung des Konsums die Importnachfrage anregen wollen bzw. wieweit sie durch eine Verbesserung der arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen höhere Zuwächse bei den Löhnen erreichen wollen. Auch als Arbeitgeber haben die Regierungen der Überschussländer die Möglichkeit, das Lohnniveau insgesamt zu steigern.

Im Interesse einer außenwirtschaftlich stabileren Entwicklung in Europa ist es zweifellos notwendig, sich in Deutschland von der exzessiven Exportausrichtung in Richtung Binnennachfrage umzuorientieren. Dazu gehören sicherlich auch Verschiebungen hin zu gut bezahlten und sozial abgesicherten Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor. Es geht also um einen langfristigen Strukturwandel, der einen langen Atem, große Phantasie und sehr aktive Strukturpolitik erfordert. Da dieser Strukturwandel im Sinne eines sozial-ökologischen Umbaus nicht zuletzt aus Gründen des Klima- und Umweltschutzes not tut, ist gerade jetzt die richtige Gelegenheit, ihn durch die Neufassung eines makroökonomischen Regimes in Europa mit zu befördern. Statt das europäische Projekt durch die europaweite Durchsetzung der deutschen Schuldenbremse zum Stillstand zu bringen, bietet die Europäische Ausgleichsunion als quasi »außenwirtschaftliche Schuldenbremse« die Chance, das Auseinanderdriften Europas zu stoppen und es gesamtwirtschaftlich und solidarisch zusammenzuführen.


Axel Troost ist finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE und Mitglied im Vorstand des Institut Solidarische Moderne (ISM). Philipp Hersel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Axel Troost.


Anmerkungen:

(1) Die Leistungsbilanz setzt sich aus der Handels-, der Dienstleistungs- und der Übertragungsbilanz zusammen. Die Übertragungsbilanz erfasst den Zu- bzw. Abfluss von Erwerbs- bzw. Vermögenseinkommen und laufende Übertragungen wie z.B. Entwicklungshilfe. Im Fall Deutschlands wird - wie bei den meisten größeren Industrieländern - der Saldo der Leistungsbilanz im Wesentlichen vom Handel mit Gütern und Dienstleistungen bestimmt.

(2) Für eine detailliertere Darstellung des Vorschlags einer Europäischen Ausgleichsunion siehe Troost/Paus (2011).

(3) Keynes hat seine Pläne zwischen 1941 und 1944 mehrfach verändert (siehe Keynes 1980). In den abschließenden Verhandlungen in Bretton Woods 1944 unterlag Keynes leider den USA, sodass sein Modell eines Leistungsbilanzausgleichs nicht zum Zuge kam.


Literatur

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2011): MEMORANDUM 2011 - Strategien gegen Schuldenbremse, Exportwahn und Eurochaos, Köln

Brenke, Karl/Grabka, Markus M. (2011): Schwache Lohnentwicklung im letzten Jahrzehnt, DIW Wochenbericht Nr. 45/2011.

Dullien, Sebastian/Schwarzer, Daniela (2009): Die Eurozone braucht einen außenwirtschaftlichen Stabilitätspakt, SWP-Aktuell 27.

IG Metall (2010): Die Eurokrise und die deutschen Exportüberschüsse. Was ist dran an den Klagen über Lohndumping aus Deutschland?, Wirtschaftspolitische Informationen, Nr. 06/19. August 2010

Keynes, John Maynard (1941/1980): Activities 1940-1944: Shaping the Post-War World: The Clearing Union, in: The collected writings of John Maynard Keynes, Vol. XXV, Cambridge 1980.

Troost, Axel/Paus, Lisa (2011): Eine Europäische Ausgleichsunion - Die Währungsunion 2.0, Institut Solidarische Moderne, Denkanstöße Nr. 13, März 2011.


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Quelle:
Sozialismus Heft 12/2011, Seite 25 - 29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2012