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SCHULDEN/014: Brüsseler Manifest zur Stabilisierung der Eurozone und der EU (idw)


Bergische Universität Wuppertal, Michael Kroemer, 07.12.2011 14:04

Brüsseler Manifest zur Stabilisierung der Eurozone und der EU


Auf der Welttagung der Jean Monet Professoren in Brüssel wurde ein Manifest beschlossen, das sich mit den aktuellen Problemen in der Eurozone befasst: EU bzw. Eurozone sähen sich einer globalen Verantwortung gegenüber, eine Krise von weltweitem Ausmaß zu vermeiden. Initiatoren des Brüsseler Manifestes sind Prof. Dr. Alberto Alemanno, Haute Ecole de Commerce de Paris (HEC), Prof. Dr. Sylvester Eijffinger, University of Tilburg, Prof. Dr. Cillian Ryan, European Research Institute, University of Birmingham, und Prof. Dr. Paul J.J. Welfens, Bergische Universität Wuppertal.


Etwa 70 Professoren, alle Inhaber von Jean Monnet Lehrstühlen aus ganz Europa, haben das Brüsseler Manifest unterzeichnet. Jean Monet Professoren kommen aus Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Geschichte. Ihr aus zehn Punkten bestehendes "Manifest zur Stabilisierung der Eurozone und der EU" hat folgenden Wortlaut:

"Die Eurozone ist durch große Instabilitäten gekennzeichnet. Die Wirtschaftspolitik hat bisher vor allem auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs - also als Europäischer Rat - wenig Fortschritte erreicht, ja teilweise die Probleme verschlimmert. Die Unterzeichner bringen ihr Vertrauen in die Gesamtstärke der Eurozone zum Ausdruck und rufen zugleich zu einem verbesserten EU-Krisen-Management sowie einer besseren Stabilitätspolitik auf.

1) Das erste Jahrzehnt der Euro-Integration war sehr erfolgreich, soweit man die erreichten niedrigen Inflationsraten und die erheblichen Wohlfahrtsgewinne betrachtet. Hier liegt der Bezugspunkt für eine erfolgreiche Währungsunion.

2) Die Eurozone als Ganzes zeigt unverändert ein starkes wirtschaftliches Profil mit einer staatlichen Schuldenquote von 85% und einer Relation Verschuldung zu Einkommen von 107%, einer Defizitquote von 6,6% und einem anhaltenden Wirtschaftswachstum von 1,6% in 2011. Es ist zwar richtig, dass die Aussichten für 2012 für eine Herausforderung stehen, aber die genannten statistischen Kennzahlen sind im Vergleich mit den USA, Japan und Großbritannien relativ günstig. Diese Länder haben alle höhere Relationen von Verschuldung zu Einkommen, höhere Budgetdefizite (rund 10% des Bruttoinlandsproduktes), niedrigeres Wachstum in 2011 und - mit Ausnahme Großbritanniens (79%) - eine Relation Staatsverschuldung zu Bruttoinlandsprodukt von über 100%. Die relative Stärke des Euros sollte man in dieser Perspektive sehen.

3) Gleichwohl und trotz der Stärke der Eurozone als Ganzes: Es gibt gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte in einer Reihe von Euro-Ländern, wobei die Ungleichgewichte dramatisch gewachsen sind, ohne dass hier eine vernünftige Disziplinierung durch den Markt oder eine rechtzeitige Intervention durch die Europäische Kommission eingetreten wäre.

4) Letztlich ist es in der Verantwortung von Käufern von Anleihen, die von Regierungen oder Finanzinstitutionen emittiert wurden, bei den jeweiligen Kreditnehmern die erforderliche sorgfältige Prüfung bei der Überwachung des finanziellen Gesundheitszustandes vorzunehmen. Unterlässt man jedoch seitens der Finanzmärkte, die notwendige Disziplin bei den Kreditnehmern zu realisieren, dann kann es nachfolgend zu Infektionseffekten bei anderen Mitgliedsländern kommen. Es gibt eine wesentliche Rolle, die die Europäische Kommission spielen sollte, wenn es darum geht, im Bereich der Haushaltspolitik und der finanziellen Gesamtposition die Mitgliedsländer zur Verantwortung zu ziehen.

5) Zukünftig ist eine striktere und weniger widersprüchliche Überwachung erforderlich, und Mitgliedsländer, die sich ihren vertragsmäßigen Pflichten entziehen - etwa durch Eingehen übergroßer Ungleichgewichte -, sollten öffentlich der Europäischen Kommission oder einem unabhängigen Sachverständigengremium berichten müssen.

6) In der ersten Dekade der Eurozone hat die Europäische Kommission es nicht geschafft, die Regeln der Eurozone durchzusetzen, die dieses politische Gebilde schützen sollen. Z.B. hätten die dauerhaft hohe Schuldenquote bei Italien und eine extrem hohe Defizitquote von 15% in 2009 in Griechenland und dessen hohe Schuldenquote Grundlage für die Entsendung einer Untersuchungskommission sein müssen. Keine Gemeinschaft und kein Integrationsclub können ohne Respekt für rechtsstaatliche Regeln leben. Allerdings sind sogar Überwachungen zu Verstößen gegen die ursprünglichen Kriterien des Maastrichter Vertrages unzureichend. Irland hatte deutliche Überschüsse über einen großen Teil des vergangenen Jahrzehntes, aber seine überschäumende Wirtschaft, insbesondere im Immobilienmarkt und bei der Steuerbasis, waren wesentlich auf inadäquate externe Finanzierungen irischer Banken zurückzuführen. Diese Entwicklungen hätte für die Europäische Kommission längst Anlass zur Besorgnis sein müssen, lange bevor Irlands Notbudget eine Defizitquote von fast 32% in 2010 verzeichnete.

7) Der Europäische Rat hat eine extreme und dabei kontroverse Entscheidung getroffen, als man einen 21%-"Haarschnitt" für private Gläubiger Griechenlands im Juli und dann 50% im Oktober 2011 verhängte. Wenn man Moral Hazard Probleme bei der Kreditvergabe vermeiden will, dann müssten Banken einerseits einsehen, dass die EU sie nicht heraushauen wird, wenn diese immer weiter unangemessene historisch hohe Schuldenstände oder Budgetdefizite in einzelnen Mitgliedsstaaten finanzieren. Allerdings muss man auf Seiten der Kommission eine Balance zwischen dem Ziel der Erhaltung des Marktvertrauens und einem gleichgültigen Umgang mit staatlichen Budgetprozessen halten. Es besteht kein Zweifel, dass Haarschnitte das Vertrauen in die Finanzprodukte der Eurozone unterminieren können. Daher sollten Haarschnitte nur das allerletzte Mittel sein. Die Alternative einer Privatisierung von Staatsvermögen verspricht demgegenüber eine sinnvollere Alternative zu sein, wenn es um Maßnahmen zur Stützung von Ländern mit Staatsrefinanzierungsproblemen geht.

8) Privatisierung kann nur eine mittelfristige Maßnahme sein. Es ist dringlich, dass die politischen Institutionen bzw. die Politiker Optionen beachten, die zur Stabilisierung der Haushalte in solchen Ländern führen, die unausgeglichene Haushalte haben. Da anders als in der Vergangenheit die (schädliche) Möglichkeit nicht mehr besteht, nationale Schulden weg zu inflationieren, ist es notwendig, die steuerlichen Einnahmenkapazitäten mit den Staatsausgaben wieder auf nationaler Ebene in Übereinstimmung zu bringen. Dies ist eine Grundvoraussetzung, um einen vernünftig funktionierenden Staat innerhalb der Währungsunion zu gewährleisten - unabhängig davon, ob man sich nun zu einer Fiskalunion oder gar einer vollen Politischen Union hin bewegt.

9) Die Mitteilung der Europäischen Kommission hinsichtlich der Möglichkeiten der Einführung von Stabilitätsbonds ist eine wichtige Option. Die zahlreichen betrachteten Optionen enthalten die Möglichkeit eines vollen Austausches nationaler Euro-Anleihen durch Stabilitätsanleihen, und zwar auf Basis mehrerer bzw. gemeinschaftlicher Garantien; auch ein teilweiser Austausch von nationalen Euro-Anleihen durch Stabilitätsanleihen im Rahmen eines ähnlichen Garantierahmens oder ein solcher Austausch mit mehreren Garantie-Akteuren ist denkbar. Diese Optionen stehen für unterschiedliche Abwägungserfordernisse mit Blick auf erwartete Vorteile und notwendige zu erbringende Vorbedingungen. Sie stehen für verschiedene Methoden kurzfristiger Finanzierung bei Ländern, die eigentlich fundamental gesehen als gesund gelten (unter Beachtung der Konjunkturlage), jedoch durch die aktuelle Krise über Ansteckungseffekte destabilisiert werden. Diese Maßnahmen könnten jedoch nicht als Ersatz bei haushaltspolitisch bislang unvorsichtigen Ländern gelten, die adäquate Korrekturmaßnahmen ergreifen sollten. In jedem Fall ist ein neuer Stabilitätspakt notwendig, der automatische Sanktionen für übermäßige Schulden und Defizite vorsieht, wobei mit Blick auf Boomphasen Überschussvorgaben nötig sind.

10) Das Europrojekt bedarf eines besseren Institutionengefüges und verträgt kein Übermaß an Improvisation. Die EZB sollte stärker flexibel mit Blick auf eine stabilisierende Rolle der Eurozone sein. Die EZB könnte nationale Eurobonds ankaufen, aber sie könnte auch selbst EZB-Bonds im Markt platzieren. Reformaktionen sollten schneller umgesetzt werden, Schuldenbegrenzungen - z.B. Anwendung der goldenen Regel - sollten in den nationalen Verfassungen aufgenommen werden. Die EU bzw. die Eurozone sieht sich heute einer globalen Verantwortung gegenüber, eine Krise von weltweitem Ausmaß zu vermeiden.



Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution650


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Bergische Universität Wuppertal, Michael Kroemer, 07.12.2011
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E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2011