Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → FAKTEN


GRENZEN/129: Europas Wüstengrenze (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 16. Mai 2017
(german-foreign-policy.com)

Europas Wüstengrenze


BELIN/ROM/AGADEZ - Bundesinnenminister Thomas de Maizière verlangt die Entsendung einer EU-Grenzschutzmission an die Grenze zwischen Libyen und Niger. Weil die bisherigen Maßnahmen zur Abschottung dieser Grenze nicht die gewünschte Wirkung entfalteten, müsse man weitere Schritte ergreifen und "fact-finding missions" in die libysch-nigrische Wüste entsenden, heißt es in einem Schreiben, das de Maizière gemeinsam mit seinem Amtskollegen aus Italien in der vergangenen Woche an die EU-Kommission geschickt hat. Berlin und Brüssel sind schon seit geraumer Zeit bestrebt, die nigrischen Repressionsbehörden mit politischem Druck und mit Trainingsprogrammen zum Einschreiten gegen unerwünschte Migranten zu veranlassen. Zwar gelingt dies inzwischen; doch weichen die Migranten wie üblich auf gefährlichere Routen aus. Lokale Menschenrechtsorganisationen klagen, das sei eine direkte Folge europäischen Drucks und führe zu einem deutlichen Anstieg an Todesopfern beim Transit durch die Sahara. Wie Beobachter berichten, bietet die EU der verarmten Stadt Agadez als Ersatz für Einkommenseinbußen in der lukrativen Migrationsbranche unsinnigen Ersatz an: Landwirtschaftsprojekte mitten in der Wüste.

Die Hauptroute ans Mittelmeer

Die Grenze zwischen Libyen und Niger besitzt für die deutsch-europäischen Bemühungen um die Flüchtlingsabwehr gegenwärtig eine besondere Bedeutung: Über sie verläuft seit einiger Zeit die Hauptroute für Flüchtlinge aus Westafrika auf dem Weg an die libysche Mittelmeerküste. Wie das Institute for Security Studies (ISS), ein afrikanischer Think-Tank mit Büros in Pretoria, Nairobi, Addis Abeba und Dakar, in einer aktuellen Studie berichtet, wird die Strecke heute bevorzugt, da die westlich von Niger gelegene Route zum einen durch das gefährliche Kriegsgebiet Nordmalis, zum anderen durch Algerien führt; zur Einreise nach Algerien müssten Bürger westafrikanischer Staaten über ein Visum verfügen, weshalb eine Durchquerung dieses Landes noch zusätzliche Komplikationen mit sich bringt. Keine Visaprobleme verschafft die Route über das nordnigrische Agadez: Da Niger der Economic Community of West African States (ECOWAS) angehört, haben Bürger von deren Mitgliedstaaten das Recht, jederzeit bis unmittelbar vor die nigrisch-libysche Grenze zu reisen [1] - ganz wie die Bürger der Schengen-Mitgliedstaaten innerhalb von deren Hoheitsgebiet. Eine östliche Fluchtroute führt, wie das ISS berichtet, über Sudan nach Libyen; sie wird vor allem von Flüchtlingen aus dem östlichen Afrika genutzt.[2] Dort sind Deutschland und die EU mit gesonderten Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr aktiv (german-foreign-policy.com berichtete [3]).

Polizeiprogramme

Um die Abriegelung der nigrisch-libyschen Grenze sind Berlin und die EU bereits seit mehreren Jahren bemüht. Schon am 16. Juli 2012 hat die EU die Einrichtung von EUCAP Sahel Niger beschlossen, eine nichtmilitärische EU-Mission, die die nigrischen Repressionskräfte trainiert und berät - auf Druck Berlins inzwischen auch in der Migrationsabwehr. Die Mission, an der sich deutsche Beamte beteiligen, ist 2015 um eine Außenstelle in Agadez erweitert worden, jener Stadt im Norden des Landes, die als üblicher Ausgangspunkt für die Weiterreise nach Libyen fungiert. Seit 2013 unterhält die deutsche Entwicklungsorganisation GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) in Niger ein "Polizeiprogramm", das nicht zuletzt die Schulung der Grenzpolizei umfasst; das Programm soll mindestens bis 2018 laufen.[4] In Agadez betreibt darüber hinaus die International Organization for Migration (IOM), finanziert vom Auswärtigen Amt und von der EU, ein Zentrum, dessen Personal die Flüchtlinge von der Weiterreise abhalten und sie zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer motivieren soll; Abschiebungen von ECOWAS-Bürgern sind kaum möglich, da in der ECOWAS Personenfreizügigkeit gilt. Im Oktober 2016 hat Bundeskanzlerin Angela Merkel Niger bei einem Besuch in der Hauptstadt Niamey zehn Millionen Euro für Fahrzeuge und Kommunikationstechnik zur Kontrolle von illegalem Handel und Migration zugesagt.[5] Darüber hinaus wird die EU-Grenzbehörde Frontex noch in diesem Jahr ein Verbindungsbüro in Niamey eröffnen.

Europa tötet

Dabei erweisen sich die Maßnahmen schon jetzt als - vorsichtig formuliert - kontraproduktiv. Zwar greifen Polizei und Militär in Niger inzwischen tatsächlich härter gegen Migranten und gegen Fluchthelfer durch - auf der Basis eines "Gesetzes gegen Menschenhandel", das Niamey auf Druck der EU im Mai 2015 verabschiedet hat. Wie üblich stoppt die Repression die Migration aber nicht, sie verdrängt sie nur auf gefährlichere Routen: Wie das UN-Nachrichtenportal IRIN berichtet, sind mittlerweile beim Transit durch die Wüste deutlich mehr Todesopfer zu beklagen. Das "Gesetz gegen Menschenhandel" vom Mai 2015, ein "Ausfluss der europäischen Politik gegen illegale Migration", sei die Ursache dafür, dass immer mehr Migranten "enorme Risiken in Kauf nehmen und regelmäßig umkommen", urteilt etwa Hamadou Tchierno, ein Vertreter der örtlichen Menschenrechtsorganisation "Alternative Association Citizen Space".[6]

Die Ökonomie der Migration

Hinzu kommt, dass das - von Berlin und Brüssel erzwungene - Vorgehen gegen unerwünschte Migration die Wirtschaft der nordnigrischen Region schwer schädigt. Der Transport von Menschen bis an Nigers Nordgrenze sei Teil einer "breiteren politischen Ökonomie" gewesen, die es vielen Einwohnern von Agadez ermöglicht habe, mit Fahrdiensten, mit der Vermietung von Unterkünften, dem Verkauf von Nahrungsmitteln und Ähnlichem ihren Unterhalt zu verdienen, konstatiert Peter Tinti, ein Experte der "Global Initiative against Transnational Organized Crime". In einer ohnehin von Armut und politischer Instabilität geprägten Region könne eine massive politische Intervention wie das jüngste Einschreiten gegen Migration, warnt Tinti, leicht "Rückwirkungen haben, auf die wir nicht vorbereitet sind". "Bevor diese Hexenjagd auf Menschenschmuggler begann, hatten die jungen Leute von Agadez Arbeit", bestätigt exemplarisch der Präsident des Jugendrates der Region: "Sie fuhren Migranten nach Libyen oder Algerien und verdienten eine Menge Geld. Heute sitzen die meisten von ihnen im Gefängnis."[7] Die Stabilität des bitter armen Gebiets fördert das nicht.

Landwirtschaft in der Wüste

Die EU hat inzwischen erste Maßnahmen eingeleitet, um die ökonomischen Folgeschäden der von ihr oktroyierten Flüchtlingsabwehr zu lindern. Wie Sophia Wolpers, eine in Nord-Niger recherchierende Wissenschaftlerin von der Universität Amsterdam, berichtet, finanziert Brüssel landwirtschaftliche Projekte in der Region, um neue Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen. Allerdings sei die Wüstenbildung in der Region Agadez so weit vorangeschritten, dass eine Förderung der Landwirtschaft dort überhaupt keinen Sinn habe, hält Wolpers fest. Hinzu komme, dass Agadez als Wüstenstadt eine jahrhundertealte Handelstradition habe, welche die Einwohner tief präge: "Die Menschen dort aus Händlern in Landwirte umzuformen, das funktioniert einfach nicht."[8]

"Eine gute Idee"

Weil die Repression letztlich sogar nicht einmal ihren eigentlichen Zweck erfüllt und die Migration aus Niger nach Libyen weiterhin andauert - wenngleich auf gefährlicheren Routen -, schlägt der deutsche Innenminister Thomas de Maizière jetzt die Entsendung einer EU-Grenzschutzmission an die libysch-nigrische Grenze vor. "Die ersten Monate dieses Jahres haben gezeigt, dass unsere bisherigen Maßnahmen unzureichend sind", heißt es in einem Schreiben an die EU-Kommission, das de Maizière am 11. Mai gemeinsam mit seinem italienischen Amtskollegen Marco Minniti verfasst hat. Man müsse deshalb "fact-finding missions" an die libysch-nigrische Grenze schicken, um dort "schnellstmöglich eine EU-Mission ... aufzubauen".[9] Sämtliche EU-Staaten sollten einen Beitrag dazu leisten. Das Ansinnen sei, wie es in einem Bericht heißt, in Brüssel "grundsätzlich auf Zustimmung" gestoßen.[10] Am gestrigen Montag hat sich ihm die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini angeschlossen: EU-Grenzpatrouillen in der libysch-nigrischen Wüste seien, erklärte sie, "eine gute Idee".[11]


Anmerkungen:

[1] ECOWAS gehören folgende Staaten an: Benin, Burkina Faso, Cabo Verde, Côte d'Ivoire, Gambia, Ghana, Guinea, Guinea Bissau, Liberia, Mali, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone, Togo.

[2] Peter Tinti, Tom Westcott: The Niger-Libya corridor. Smugglers' perspectives. Institute for Security Studies: ISS Paper 299, November 2016.

[3] S. dazu Besetzen und abschotten (II)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59458

[4] S. dazu Polizeiprogramm Afrika
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59238
und S. dazu Besetzen und abschotten (I)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59456

[5] S. dazu Besetzen und abschotten (II)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59458

[6], [7], [8] Ibrahim Manzo Diallo: EU strategy stems migrant flow from Niger, but at what cost? www.irinnews.org 02.02.2017.

[9], [10] Manuel Bewarder, Christoph B. Schiltz: De Maizière fordert EU-Grenzschutzmission in Libyen. www.welt.de 14.05.2017.

[11] Niamh McIntyre: EU to conduct border patrols in Libya to stop migrants reaching Europe. www.independent.co.uk 15.05.2017.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
Herausgegeber: German News Informations Services GmbH
c/o Horst Teubert
Hartwichstr. 94, 50733 Köln
Fax: 01212 52 57 08 537
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang