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GRENZEN/123: Familienzusammenführung - Zerrissen und im Ungewissen (medico international)


medico international - 19. Dezember 2016

Familienzusammenführung
Zerrissen und im Ungewissen

Familien, die auf der Flucht getrennt wurden, darf das Recht auf Zusammenleben nicht länger verwehrt werden.


"Meine Tochter nennt mich Onkel und will nicht mehr mit mir sprechen", berichtet Ahmed und schafft es nur mit Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Seit einem Jahr und zwei Monaten ist der Syrer von seiner Frau und seiner zweijährigen Tochter getrennt. Inzwischen weiß die Kleine nicht mehr, dass Ahmed ihr Vater ist, dass sie überhaupt einen Vater hat. Zwar ist Ahmed in Deutschland in Sicherheit, doch das Warten auf seine Familie und die zunehmende Entfremdung von seiner kleinen Tochter, die gemeinsam mit der Mutter in Griechenland auf Familienzusammenführung wartet, zermürbt ihn.

Die zehnjährige Tasnim ist vor einem Jahr mit ihrem Onkel nach Deutschland gekommen. Ihre Mutter Amani ist noch in Griechenland. Zusammen sind auch sie vor dem Krieg in Syrien geflohen. Bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland hatten sie sich verloren. Nun sind sie nur wenige Flugstunden voneinander entfernt, können aber nicht zusammenkommen. Der Trennungsschmerz der beiden ist groß und die Ungewissheit, wann und ob überhaupt sie sich wiedersehen werden, kaum auszuhalten.

Endlose Bürokratie

So wie diesen beiden Familien geht es vielen der rund 60.000 Flüchtlinge, die momentan in Griechenland festsitzen*. Oft ist ein Familienmitglied bereits in Deutschland oder anderen Ländern Europas, aber den in Griechenland verbliebenen Angehörigen wird das Recht auf Familienzusammenführung vorenthalten. Einfach indem man sie warten lässt oder mit schwer erfüllbaren bürokratischen Anforderungen überhäuft. Allein die für alle weiteren Anträge erforderliche Registrierung in Griechenland kann Monate dauern. Weitere Monate können vergehen, bis man einen Termin bei der deutschen Botschaft in Athen bekommt, um einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen. Wenn dann noch die Geburts- oder Heiratsurkunde fehlt, weil viele Dokumente auf der Flucht verlorengehen, ist ein Ende der Wartezeit kaum absehbar. Aber selbst wenn alle Dokumente vorliegen und der Antrag ordnungsgemäß eingereicht wurde, wissen die Betroffenen nicht, ob und wann ihrem Antrag stattgegeben wird und sie wieder mit ihren Liebsten zusammenkommen.

Diese Situation und ihre brutalen Auswirkungen sind offenbar politisch gewollt. Allein durch die enormen Wartezeiten werden Fakten geschaffen. Familien werden zerstört oder denken über eine gemeinsame Rückkehr in die Kriegsgebiete nach, aus denen sie kommen. Lieber zusammen sterben, als getrennt leben. Für Minderjährige ist die Situation besonders schwer. Sie haben Krieg und Gewalt erlebt und viel zu früh große Verlusterfahrungen gemacht. Ihnen das Zusammenleben mit ihren nächsten Angehörigen zu verweigern, wirkt retraumatisierend.

Abgesehen von der Taktik des Hinhaltens, der viele Flüchtlinge ausgeliefert sind, haben nicht nur die deutsche Botschaft in Athen, sondern auch die Botschaften in Beirut oder Ankara ihren Kurs in Sachen Familienzusammenführung verschärft. Was zuvor als "außergewöhnliche Härte" galt und im Sinne der Familien entschieden wurde, wird nun zum Ablehnungsgrund. So dürfen Eltern zwar zu ihren anerkannten minderjährigen Kindern ziehen (wenn denn ihr Antrag irgendwann bewilligt wurde), minderjährigen Geschwistern wird dies jedoch zunehmend verweigert, was Eltern mehrerer Kinder vor unzumutbare Entscheidungen stellt (Pro Asyl vom 9.11.2016).

Nur noch subsidiärer Schutz

Mit dem Asylpaket II und der immer selteneren Gewährung des vollen Flüchtlingsschutzes wird der Familiennachzug zusätzlich erschwert. Das betrifft auch Menschen, die aus Syrien geflohen sind. So bekommen etwa siebzig Prozent von ihnen nur noch den so genannten "subsidiären Schutz". Das bedeutet, dass sie für die nächsten zwei Jahre keinen Anspruch auf Familienzusammenführung haben. Was danach sein wird, ist vollkommen ungewiss. (Pro Asyl vom 29.9.2016)

Menschen, die im Zuge des Familiennachzugs aus Griechenland oder der Türkei eigentlich ganz legal nach Deutschland einreisen sollten, werden durch diese Praktiken gezwungen, illegalisierte und gefährliche Fluchtrouten in Kauf zu nehmen, um zu ihren Angehörigen zu kommen.

Mit verschiedenen Maßnahmen wird also nach und nach ausgehöhlt, was national oder international verbrieftes Recht ist: Der besondere Schutz der Familie nach dem deutschen Grundgesetz und der europäischen Menschenrechtskonvention ebenso wie das Recht auf Zusammenleben von Kindern und Eltern laut UN-Kinderrechtskonvention.

Diese Restriktionen und ihre beabsichtigten Konsequenzen sind Teil einer EU-weiten Abschreckungspolitik. Mit aller Gewalt wird versucht, die Fluchtbewegungen nach Europa wieder einzudämmen, bzw. sie außen vor zu halten. Dem gilt es zu widersprechen und sich zu widersetzen: für ein offenes Europa, für das Recht zu kommen und zu bleiben, für gleiche Rechte für Alle.


Zwei neue Filmclips von Moving Europe und medico international zum Thema siehe unter:
https://www.medico.de/zerrissen-und-im-ungewissen-16683/

Bei aller Ungewissheit haben die beiden Familien in den Filmclips noch "Glück" gehabt. Sie haben eine Bleibe in dem seit April 2016 besetzten City Plaza Hotel in Athen gefunden und müssen daher nicht monatelang in einem der menschenunwürdigen griechischen Lager ausharren.

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Quelle:
medico international - Mitteilung vom 19. Dezember 2016
https://www.medico.de/zerrissen-und-im-ungewissen-16683/
Herausgeber: medico international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2016

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