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GRENZEN/116: Lager für Europa - Teil 2 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 15. Juni 2016 (german-foreign-policy.com)

Lager für Europa (II)


BERLIN/TRIPOLIS/KHARTOUM - Die Kooperation der EU mit Libyen zur Flüchtlingsabwehr führt "direkt oder indirekt zu schockierenden Menschenrechtsverletzungen". Dies erklärt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in einem aktuellen Bericht zur Misshandlung von Flüchtlingen durch die libysche Küstenwache und in libyschen Haftzentren, in denen Flüchtlinge interniert werden. Brüssel unterstützt Libyens Küstenwache mit dem Ziel, sie in die Lage zu versetzen, eine weitaus größere Zahl an Flüchtlingen abzufangen; diese werden nach ihrer Festnahme gewöhnlich in Haftzentren verbracht. In den oft dramatisch überfüllten Lagern herrschen fürchterliche Lebensbedingungen. Amnesty hat jetzt außerdem zum wiederholten Male Fälle brutaler Misshandlungen von Flüchtlingen durch Lagerwachen bis hin zu kaltblütigem Mord dokumentiert. Der deutsche UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Martin Kobler, hat kürzlich ein libysches Flüchtlings-Haftzentrum besucht; er fordert, die Lage zu entschärfen, indem Flüchtlinge in größerer Zahl in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. Entsprechende Maßnahmen sind in Vorbereitung.


"Dann sterbt ihr halt"

Schwere Misshandlungen müssen Flüchtlinge, die nach dem Ablegen in Richtung Europa bereits in libyschen Küstengewässern aufgegriffen werden, laut Amnesty International schon von der libyschen Küstenwache befürchten. Zahlreiche Flüchtlinge haben Amnesty geschildert, wie sie von Angehörigen der Küstenwache verprügelt oder anderweitig gequält wurden. Beim Verlassen ihres Bootes seien sie mit Gummischläuchen geschlagen worden, berichtet etwa ein Eritreer; den letzten, der das Boot verlassen habe, hätten die Männer von der Küstenwache gefragt, ob er der Fahrer sei, und als er das verneint habe, hätten sie behauptet: "Das heißt, du bist der Fahrer", und ihm in den Fuß geschossen.[1] Ein anderer Eritreer schildert, wie ein Angehöriger der Küstenwache auf ihr Boot gestiegen sei, um es zur Küste zurückzufahren; als der Motor versagt habe, sei er wütend geworden, zurück auf sein eigenes Boot gegangen und mit den Worten davongefahren: "Wenn ihr sterbt, sterbt ihr halt." Bis heute nicht öffentlich aufgeklärt ist ein Großverbrechen vom Oktober 2013. Damals feuerte ein libysches Schiff auf ein Fischerboot mit Flüchtlingen, das gerade dabei war, libysche Gewässer zu verlassen. Es sank mit seinen rund 200 Passagieren. Laut Amnesty sind die Untersuchungsergebnisse dazu nie veröffentlicht worden. Einige Überlebende sind überzeugt, die Schüsse seien von der libyschen Küstenwache gekommen.


Von Milizen kontrolliert

Mutmaßlich Tausende, vielleicht Zehntausende sind von den Gewalttaten der Küstenwache betroffen. Diese hat allein vom 22. bis zum 28. Mai mindestens 3.500 Menschen in libyschen Küstengewässern aufgegriffen. Die Flüchtlinge werden anschließend stets in Haftzentren an verschiedenen Orten des Landes verbracht. Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR gibt es in Libyen gegenwärtig 24 derartige Lager; ein Bericht des UN-Informationsdienstes IRIN spricht sogar von 30.[2] Die Zahl der Flüchtlinge, die in ihnen festgehalten werden, variiert. Während für das Lager Abu Slim in Tripolis 450 Inhaftierte genannt werden, war das Lager in Al Zawiya, das regulär 1.200 Personen aufnehmen kann, Ende Mai laut IRIN mit mehr als 1.700 Flüchtlingen massiv überbelegt. Die Gesamtzahl der in den Haftzentren festgesetzten Flüchtlinge ist unbekannt; mit einigen Zehntausend ist wohl zu rechnen. Die Gesetzeslage in Libyen erlaubt es dabei, Menschen, die über keinen regulären Aufenthaltsstatus verfügen, zeitlich unbegrenzt einzusperren. Üblicherweise können die Inhaftierten keinerlei Kontakt zu ihren Familien, zu Rechtsanwälten oder zu Richtern aufnehmen; sie sind dem Lagerpersonal hilflos ausgeliefert. Dieses untersteht theoretisch einer Behörde mit dem Namen "Department to Combat Irregular Migration" (DCIM). Faktisch werden die Lager jedoch, wie Amnesty bestätigt, von Milizen kontrolliert.[3] Zumindest teilweise missbrauchen die Milizen inhaftierte Flüchtlinge, um sich Sonderprofite zu verschaffen - durch einfachen Raub von Geld und von Wertgegenständen, aber auch, indem sie Häftlinge zur unbezahlten Zwangsarbeit an Privatpersonen vermieten und eine Gebühr dafür kassieren.


Stockhiebe, Elektroschocks, Verbrühungen

Die Lebensverhältnisse in den Flüchtlingslagern sind erbärmlich. Mehrere IRIN-Berichte schildern eine dramatische Überbelegung, die es den Inhaftierten teilweise unmöglich macht, in den Schlafräumen einen Platz zu finden, um sich hinzulegen. Die sanitären Einrichtungen sind meist völlig unzulänglich; so gibt es etwa Berichten zufolge in Abu Slim für 100 Lagerinsassen lediglich zwei Toiletten.[4] In manchen Lagern müssen die Flüchtlinge offenbar im Freien ausharren, ohne Schutz gegen glühende Sonne oder - nachts - gegen beißende Kälte. Aus Abu Slim heißt es, dort besprühten die Lagerwachen zuweilen den Boden, auf den sich die Inhaftierten zum Schlafen legen müssten, mit Wasser, so dass sie in feuchter Kälte übernachteten.[5] Bei Überbelegung reicht die vorhandene Nahrung oft nicht aus. Aus Al Zawiya wird berichtet, schon bei Normalbelegung seien die Lebensmittel knapp; sei das Lager um 50 Prozent überbelegt - das war etwa Ende Mai der Fall -, dann spitze sich die Lage zu.[6] Hinzu kommt oft brutale Gewalt seitens der Lagerwachen. Letztes Jahr konnte ein IRIN-Reporter ein Lager besuchen und mit eingesperrten Flüchtlingen sprechen. Es gelang ihm, blutige Wunden zu dokumentieren, die wohl von Schlägen des Wachpersonals mit Stöcken, Gummischläuchen oder Ketten stammten.[7] Zudem wird von Auspeitschungen, von Elektroschocks und von gezieltem Verbrühen von Inhaftierten mit kochendem Wasser berichtet; ein ehemaliger Häftling schilderte, wie ihm von Wachen der Arm gebrochen wurde. Dabei werden auch Minderjährige in die Haftzentren gesperrt. Ein IRIN-Reporter konnte im Haftzentrum Krareem mit einem dort festgehaltenen zehnjährigen Malier sprechen.[8]


Morde

Zuweilen wird auch von kaltblütigen Morden berichtet. Ein Eritreer schilderte jetzt Amnesty, wie vor seinen Augen ohne erkennbaren Anlass ein Mann aus dem Tschad erschossen wurde. Ein anderer Eritreer musste mit ansehen, wie in Al Zawiya ein Flüchtling von den Lagerwachen zu Tode geprügelt, in eine Decke gewickelt und fortgeschleppt wurde. Einmal sollen Wachen in eine Zelle gestürmt und, weil die Insassen ihre arabischen Kommandos nicht verstanden, das Feuer auf sie eröffnet haben.[9] Im April wurden vier Inhaftierte beim Versuch, aus dem Lager Zawiya zu fliehen, erschossen (german-foreign-policy.com berichtete [10]).


Kobler in Abu Slim

Nichts davon ist in Berlin oder bei der EU unbekannt. Im Mai hat Martin Kobler, der deutsche UN-Sonderbeauftragte für Libyen, das Haftzentrum Abu Slim besucht. Journalisten, die ihn begleiteten, durften nicht mit den eingesperrten Flüchtlingen sprechen; ein Inhaftierter, der flüsternd um Hilfe flehte und die Situation in dem Lager "sehr, sehr schlecht" nannte, wurde von einer Wache zum Schweigen gebracht.[11] Kobler räumte anschließend ein, er sei "entsetzt" über die Lebensbedingungen in Abu Slim; allerdings zog er den Schluss, es sei "wirklich wichtig", dass "diese Leute" nicht "hier" blieben, "sondern dass sie in ihre Länder zurückgehen, in denen man sich um sie kümmert".[12]


Training für die Küstenwache

Während Menschenrechtsorganisationen wegen der katastrophalen Lage der Flüchtlinge in Libyen Sturm laufen, hat die EU am 23. Mai beschlossen, die Kooperation mit der libyschen Küstenwache auszubauen und die Mittelmeer-Operation "Sophia" mit entsprechenden Trainingsmaßnahmen zu beauftragen. "Die libysche Küstenwache ist die Grundlage, auf der wir Sicherheit in Libyens Küstengewässern aufbauen müssen", erklärte der britische Außenminister Philip Hammond: "Wir können Training, wir können Ausrüstung bereitstellen."[13] Die libysche Küstenwache soll zudem mit den notwendigen Informationen zum Abfangen in See stechender Flüchtlinge versorgt werden. Am 25. Mai wurde der Leiter der Operation "Sophia", Enrico Credendino, mit der Aussage zitiert, binnen 14 Wochen könnten die ersten hundert Libyer ausgebildet werden; zudem stünden acht Patrouillenboote bereit, die Italien schon vor dem Beginn des Bürgerkrieges Libyen habe zur Verfügung stellen wollen. Wird der Plan realisiert, dann wird die libysche Küstenwache in Zukunft Tausende Flüchtlinge mehr festsetzen können als jetzt, um sie in den berüchtigten Haftzentren des Landes zu internieren.


Hilfe zum Haftlagerbau

Unklar ist, was geschehen soll, wenn die Aufnahmekapazitäten der Haftzentren so weit überdehnt sind, dass tatsächlich keine Flüchtlinge mehr untergebracht werden können. Die niederländische Regierung hat vergangene Woche eine Vereinbarung mit der International Organization for Migration (IOM) geschlossen; demnach werden 1,5 Millionen Euro bereitgestellt, um nicht nur die libysche Küstenwache besser auszurüsten, sondern auch Flüchtlinge aus Libyen in ihre Herkunftsländer zurückzuschaffen.[14] Unklar ist, wie weit die Planungen der EU mittlerweile gediehen sind, Libyen bei der Errichtung neuer Flüchtlingslager zu unterstützen. Die Pläne waren Ende April bekanntgeworden; sie sahen vor, gemeinsam mit libyschen Behörden "vorübergehende Auffanglager für Migranten und Flüchtlinge" zu bauen. Dabei müsse man, hieß es explizit, "auch über Inhaftierungseinrichtungen nachdenken".[15]


Mehr zum Thema: Das Leiden des Anderen, Lagerland und Lager für Europa.


Anmerkungen:

[1] EU risks fuelling horrific abuse of refugees and migrants in Libya. www.amnesty.org 14.06.2016.
[2] Tom Westcott: All at sea: Libyan detention centres at crisis point. www.irinnews.com 01.06.2016.
[3] EU risks fuelling horrific abuse of refugees and migrants in Libya. www.amnesty.org 14.06.2016.
[4] Tom Westcott: Life inside Libya's detention centres. www.irinnews.com 27.05.2015.
Tom Westcott: All at sea: Libyan detention centres at crisis point. www.irinnews.com 01.06.2016.
[5] EU risks fuelling horrific abuse of refugees and migrants in Libya. www.amnesty.org 14.06.2016.
[6] Tom Westcott: All at sea: Libyan detention centres at crisis point. www.irinnews.com 01.06.2016.
[7], [8] Tom Westcott: Life inside Libya's detention centres. www.irinnews.com 27.05.2015.
[9] EU risks fuelling horrific abuse of refugees and migrants in Libya. www.amnesty.org 14.06.2016.
[10] S. dazu Von Lagern umgeben.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59342
[11], [12] Tom Westcott: All at sea: Libyan detention centres at crisis point. www.irinnews.com 01.06.2016.
[13] EU navies to help Libya coastguard stop migrants. euobserver.com 24.05.2016.
[14] Netherlands and IOM sign Euro 1.5 m agreement to build Libyan Coast Guard capacity. www.libyaherald.com 10.06.2016.
[15] Markus Becker, Matthias Gebauer: EU erwägt Migrantengefängnisse in Libyen. www.spiegel.de 29.04.2016.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2016

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