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GRENZEN/011: Migration und Flucht sind Folgen von Hunger, Krieg und Verfolgung (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 9 vom 4. März 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Der Kessel kocht über!
Migration und Flucht sind Folgen von Hunger, Krieg und Verfolgung

Von Udo Paulus


Den Widerstand der arabischen Bevölkerung auf den Ruf nach Freiheit und Demokratie zu reduzieren, verschleiert die unerträgliche soziale Situation. So hat sich das Pro-Kopf-Einkommen Ägyptens im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt, gleichzeitig ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gesunken. Die Entwicklungen in den anderen Staaten der arabischen Welt, des afrikanischen und weiterer Teile des asiatischen Kontinents verliefen ähnlich. Die Strippenzieher sitzen in Washington, London, Berlin oder Paris. Sie geraten nun zunehmend in Panik, da sich die geschundenen Opfer nicht erst seit gestern und heute auf den Weg in die "gelobten Länder" begeben, um ihrer unmenschlichen Lage zu entfliehen.

Seit mehreren Wochen befinden sich knapp 300 Einwanderer in Griechenland im Hungerstreik, mit dem sie die Rechtmäßigkeit der im Lande lebenden Migranten durchsetzen wollen. Die griechische Regierung ignoriert die existentiellen Interessen hunderttausender Migranten/innen für ein menschenwürdiges Leben mit Wohnrecht, Arbeit und sozialer Absicherung.

Der EU fällt angesichts der "Zuwanderströme" aus Nordafrika nichts anderes ein, als der Appell sich zu wappnen und Frontex zu verstärken, um Boote vor den Küsten Europas aufzuspüren und die Küsten Spaniens, Italiens, Maltas oder Griechenlands vor dem Flüchtlingsstrom abzuschotten entgegen aller humanitärer Grundprinzipien. Schwerbewaffnet in vollem militärischem Wichs suchen die Grenzsoldaten mit Schnellbooten, Radaranlagen und üblicherweise mit Flugzeug- und Hubschraubereinsätzen die Konfrontation mit den morschen und wackligen Booten der Flüchtlinge. Je enger sie das Nadelöhr schließen, umso lukrativer das Geschäft der Menschenhändler und Schleuser. Zurzeit steht der Preis pro Person bei 10.000 Dollar. Die Umstände gleichen einem Himmelfahrtskommando, sind doch vor einigen Wochen vor Korfu mindestens 30 Afghanen ertrunken, deren Schiff, mit 260 Menschen völlig überladen, kenterte.

"Die Europäische Union hat nunmehr die Chance, sich auf die Seite der Demokratiebewegung in Nordafrika und der Menschenrechte zu stellen, nachdem man jahrelang korrupte Diktatoren in Tunesien, Ägypten und anderswo bei der menschenverachtenden Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer hofiert hat", mahnt Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL. Einfacher und ungefährlicher schafften in der jüngsten Vergangenheit die meisten Migranten/innen die Flucht nach Europa über die schmale Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland am Grenzfluss Evros. Auf etwa zwölf Kilometern entfernt sich die Grenze vom Flussufer, so dass die Flüchtlinge trockenen Fußes EU-Boden erreichen können, nachdem sie zuvor in der türkischen Stadt auf einer der beiden Brücken den Fluss überquert haben. Obwohl die Türkei mit Griechenland ein Abkommen zur Rücknahme "illegaler" Einwanderer abgeschlossen hat, steht die Praxis dem entgegen: Von fast 77.000 Flüchtlingen konnten griechische Behörden nur 2500 Personen abschieben. Seitdem die Türkei die Visumspflicht für Marokkaner und Algerier aufhob, nahm der Ansturm an Einwanderern aus Nordafrika ständig zu. Damit soll allerdings umgehend Schluss sein. Mit dem Frontex-Programm Rabit (Rapid Border Intervention Teams) hat auch Deutschland 40 Beamte in das mehr als 200 Mann starke Abfang-Kontingent delegiert. Zudem soll bis Ende April ein drei Meter hoher und zwölfeinhalb Kilometer langer EU-Grenzzaun mit Wärmebildkameras und Bewegungsmeldern die Unüberwindlichkeit sichern. Georgios Salamangas, der Polizeichef der Region Orestiada im Nordosten Griechenlands glaubt: "Wir werden mit dem Zaun dieses 12,5 km breite Tor schließen ..., durch das in einem Jahr 36.000 Menschen illegal zu uns gekommen sind." Pro Asyl mutmaßt, dass die Schleuser neue Wege finden werden, den Zaun zu umgehen, auch auf die Gefahr hin, dass Flüchtlinge panikartig die Minenfelder betreten, die noch aus den Jahren griechisch-türkischer Konfrontation stammen. Nach offiziellen Angaben starben hier zwischen 2000 und 2006 100 Flüchtlinge, 41 ertranken beim Durchqueren des Evros. Die Dunkelziffer Ertrunkener und im Minenfeld Zerfetzter, so wird vermutet, liegt deutlich höher. In einem sogenannten Screening ermitteln die Frontex-Militärs in den mit Stacheldrahtzaun gefängnismäßig abgeschirmten Auffanglagern diesseits der Grenze die Herkunft der Flüchtlinge, um sie möglichst schnell wieder aus dem EU-Raum abschieben zu können - mit durchaus beachtlicher "Erfolgsquote": So konnte die Anzahl der ankommenden Flüchtlinge bis zum Jahresende 2010 um 44 Prozent auf 140 Personen pro Tag reduziert werden, während noch vor wenigen Monaten täglich 250 bis 300 Migranten/innen Orestiada erreichten. Das waren vor dem jüngsten "Exodus" in Nordafrika immerhin 90 Prozent aller Grenzübertritte in die EU. Die Aufnahmelager in Griechenland sind wie in Lampedusa und anderswo völlig überfüllt. Die Enge ermöglicht es nicht einmal allen Eingepferchten sich zum Schlafen hinlegen zu können. Es mangelt an Toiletten; medizinische Hilfe, anwaltliche Beratung, Dolmetscher - Fehlanzeige. Das UN-Flüchtlingskommissariat spricht von einer "humanitären Krisensituation".

Allein in Athen leben schätzungsweise mehr als 300.000 Migranten/innen ohne Aufenthaltserlaubnis. Nur etwa zwei Prozent der zigtausend Asylanträge werden vielleicht Erfolg haben, wenn sie denn überhaupt nach vielen Monaten Wartezeit bearbeitet werden. Viele suchen die Flucht nach vorne, wollen weiter, über die Hafenstadt Patras als blinde Passagiere mit einem Fährboot nach Italien, deren Hafenstädte Ancona oder Bari zu Bollwerken gegen die Einwanderung ausgebaut werden. "Wenn du erst mal in Italien bist, dann hast du es wirklich geschafft", meint einer der Migranten aus Somalia. Das Bundesverfassungsgericht prüft derzeit, ob ein kurdischer Asylbewerber aus dem Irak, der über Griechenland nach Deutschland gelangte, entsprechend dem Dublin-II-Abkommen nach Griechenland als Ersteinwanderungsland abgeschoben werden darf, obwohl der Europäische Gerichtshof die katastrophalen Zustände in den griechischen Auffanglagern und das griechische Asylsystem insgesamt verurteilt hat. Gerichte in England, Norwegen oder Niederlande verweigern mittlerweile dem Dublin-I-Abkommen die Gefolgschaft und schieben aus humanitären Gründen keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland ab. Der UNHCR kritisiert die griechischen Regierungen seit vielen Jahren. Ganze Stadtteile verslumen in der Metropole Athen mit den sattsam bekannten Folgen wachsender Kriminalität, des Drogenhandels und der Prostitution. Der UNHCR fürchtet mittlerweile die Zunahme rassistischer Gewalt. In verschiedenen Stadtteilen kam es bereits mehrfach zu Übergriffen gegenüber Migranten/innen aus Afrika und Asien, die in Abbruchhäusern oder Rohbauten, häufig unter freiem Himmel in Parks unter katastrophalen hygienischen Bedingungen hausen.

Natürlich werden diese Abfangmaßnahmen den Flüchtlingsstrom nicht aufhalten, sie werden ihn nur verlagern, von Griechenland vielleicht nach Bulgarien. Personen, die vor Krieg, Gewalt oder auch extremer Armut fliehen, werden sich kaum abschrecken lassen.

Schon titelt die konservative Tageszeitung Kathimerini: "Die griechischen Behörden sind nach den Unruhen in Ägypten aufgeschreckt. Sie fürchten eine Einwanderungswelle aus Nordafrika". Zehntausende Flüchtlinge, die in Griechenland leben und arbeiten sind praktisch Geiseln, warten auf ihre rosa Karte und haben Angst, dass mit dem neuen Asylsystem der sozialdemokratischen PASOK-Regierung ihre Rechte auf Asyl weiterhin abgelehnt werden, was Schwarzarbeit, Entlohnung für ein Stück Brot, Geiselnahme durch Arbeitgeber sowie kriminelle Ringe zwangsläufig nach sich zieht.

Die KKE (Kommunistische Partei Griechenlands) erneuert ihre Position, die sie seit vielen Jahren hinsichtlich der Migration vertritt: "Solange die Bedingungen, die Migration und Flucht bedingen, bestehen, werden Menschen durch Migration versuchen, ihr Leben vor Hunger, Krieg und Verfolgung zu retten. Ursachen sind die imperialistische Aggressivität, die Kriege, die Interventionen, die von den USA, der NATO und der EU unter Teilnahme der griechischen Regierungen provozierten Bürgerkriege, die Plünderungen durch die Monopole. Der Überlebenskampf dieser ohne eigenes Verschulden in Not geratenen Menschen ist nicht nur gerecht, sondern richtet sich demonstrativ gegen jede Unterdrückung. Keine FRONTEX, kein Zaun, kein Konzentrationslager wird sie aufhalten können. Wir fordern:

1. Kündigung des Dublin-II-Abkommens, das Millionen Migranten in Geiselhaft nimmt, die in ein anderes Land der EU wechseln wollen: Legale Papiere für alle Migranten!

2. Sofortiges Asyl oder andere Formen des internationalen Schutzes für die Opfer der imperialistischen Kriege und Interventionen (z.B. Afghanistan, Irak, Palästina, Somalia).

3. Entkoppelung der Aufenthaltserlaubnis von Sozialbeiträgen und Arbeitsvertrag; soziale Absicherung auch für Arbeitslose!

4. Erleichterung der Familienzusammenführung."


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, Nr. 9 vom 4. März 2011, Seite 10
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2011