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GENFRUCHT/002: Spielraum beim Anbauverbot von Gentechnik-Sorten nutzen (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 335 - Juli/August 2010,
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Spielraum beim Anbauverbot von Gentechnik-Sorten nutzen
Wieviel Freiheit können die EU-Mitgliedsstaaten durch eine veränderte Freisetzungsrichtline wirklich gewinnen?

Von Christiane Hinck


Ein genauer Blick lohnt sich, wenn im Hinblick auf Verbotsmöglichkeiten beim Anbau gentechnisch veränderter Sorten eine Formulierung durch die öffentlichen Debatten geistert: "mehr Freiheit für die Mitgliedsstaaten, den Anbau von Gentechnikpflanzen verbieten zu dürfen". Im Juni unterbreitete Verbraucherschutzkommissar John Dalli den EU-Mitgliedsstaaten seine Vorschläge für eine "mittelfristige" Neufassung der Leitlinien zur Koexistenz sowie einen ersten Textvorschlag zur Änderung der EU-Freisetzungsrichtlinie. Allerdings sind die Leitlinien rechtlich völlig unverbindlich.

"Entscheidend ist und bleibt das Gesetz, hier die Freisetzungsrichtlinie der EU", erläutert Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf. Dieses Gesetz wolle die EU-Kommission aber zunächst nicht antasten. Nichts als "heiße Luft" steckt nach Einschätzung des AbL-Vorsitzenden hinter den Plänen der EU-Kommission, die lediglich dazu dienen, von den Mitgliedsstaaten "freie Fahrt zu bekommen für eine beschleunigte EU-weite Zulassung von Gentechnik-Sorten". Für eine Änderung der Freisetzungsrichtlinie ist ein ordentliches Gesetzesänderungsverfahren unter Mitwirkung des EU-Parlaments und der Mitgliedstaaten notwendig. Diese Verfahren sind langwierig und es bleibt fraglich, ob die nötigen Mehrheiten erreicht werden. Wenn das Gesetz geöffnet wird, können insgesamt Änderungen verschiedenster Art vorgenommen werden. Ob dabei unter dem eher gentechnik-freundlichen Kommissar Dalli am Ende Fortschritte für die gentechnikfreie Wirtschaft entstehen können, bleibt zweifelhaft.


Rechte der Mitgliedsstaaten bisher

Hilfreich ist dabei die Frage: Welche Rechte für die gentechnikfreie Wirtschaft bestehen bereits heute? Mit dem Artikel 26a der Freisetzungsrichtlinie, der die Koexistenz regelt, dürfen die Staaten "geeignete Maßnahmen ergreifen, um das unbeabsichtigte Vorhandensein von GVO in anderen Produkten zu verhindern". Ein Blick nach Österreich und Bulgarien zeigt, dass Staaten nach der EU-Freisetzungsrichtlinie mit Vorsorgegesetzen, die große Sicherheitsabstände und strenge Haftungsregelungen vorsehen, den Gentechnik-Anbau bereits gesetzlich untersagen können. Graefe zu Baringdorf: "Wenn die EU-Kommission nun so tut, als würde sie den Mitgliedsstaaten mehr Spielraum zubilligen wollen, dann blufft sie. Der Spielraum ist schon da." Jeder Regierung steht auf diese Weise offen, ihr Land weitgehend gentechnikfrei zu halten. Weiter ist es sechs Staaten gelungen, den Anbau, teilweise sogar den Import des in der EU zugelassenen Mais-Konstrukts Monsanto 810 im eigenen Land bis auf Weiteres zu verbieten. Dabei haben sich die Regierungen auf die sogenannte Schutzklausel der Freisetzungsrichtlinie, Artikel 23, bezogen. Danach müssen für ein solches Verbot neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorgelegt werden, die die Sicherheit der menschlichen Gesundheit oder Umwelt anzweifeln. Diese wissenschaftlichen Studien müssen der Kommission vorgelegt werden. Sind diese für die Kommission nicht stichhaltig oder wird mit einem generellen Gentechnik-Verbot gegen die Freisetzungsrichtlinie verstoßen, muss die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, das letztlich vor dem Europäischen Gerichtshof entschieden wird. In Deutschland darf MON 810 aufgrund solcher neuen Studien seit April 2009 nicht mehr angebaut werden.

Zu fragen bleibt: Welche neuen Rechte werden die Staaten nach den Vorschlägen von John Dalli bekommen?


Schwer erkämpfte Rechte gefährdet

Nach dem bisherigen Textvorschlag sollen sie durch einen neuen Artikel 26b das Recht bekommen, den kommerziellen Anbau von Gentechnik insgesamt oder einzelner Sorten zu verbieten. Bei genauer Betrachtung bleiben den Mitgliedsstaaten aber kaum Gründe übrig, mit denen sie die Verbote durchsetzen können. Danach dürfen Verbote weder mit wissenschaftlich belegten Sicherheitsrisiken für Gesundheit oder Umwelt, noch, mit Koexistenzmaßnahmen wie großen Sicherheitsabständen begründet werden. Für den neuen Artikel sollen die Mitgliedsstaaten neue Begründungen anführen. Im Gegenzug zu den "Zugeständnissen" will die Kommission, so der Textvorschlag Dallis, die Anbauzulassung weiterer Gentechnikpflanzen beschleunigen. Bisher hat - noch nie eine ausreichende Mehrheit der Mitgliedsstaaten für den Anbau weiterer Gentechnikpflanzen gestimmt. Bei den beiden einzigen zugelassenen Gentechnikpflanzen - dem Mais MON 810 und der Kartoffel Amflora - hat die Kommission gegen die Mehrheit der Regierungen die Zulassung durchgesetzt. "Wir fordern die Regierungen der Europäischen Union auf, dieses zweifelhafte Angebot zurückzuweisen", erklärt Mute Schimpf von der Umweltschutzorganisation Friends of the Earth.


Gentechnikfreie Zukunft Europas

Der vorliegende Entwurf greift keinen der langjährigen Kritikpunkte an den Zulassungsverfahren auf. Die einstimmigen Forderungen der EU-Umweltminister wie die Einbeziehung von Langzeitstudien bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, von Gesundheitsrisiken und unabhängigen Wissenschaftlern fehlen. Fest steht, dass im Falle einer Gesetzesänderung noch unzählige neue Formulierungen möglich sind. Durch den "Deal" soll vor allem der kommerzielle Gentechnik-Anbau in gentechnik-freundlichen Staaten wie Spanien, dem einzigen EU-Land mit einer bedeutenden Anbaufläche für Gentechnik, vorangetrieben werden. Eine Ausweitung des Gentechnikanbaus würde die gentechnikfreie Land- und Lebensmittelwirtschaft innerhalb Europas durch fortschreitende Verunreinigung auch des Saatguts erschweren, wenn nicht gänzlich in Frage stellen. Dies stände im Widerspruch zum gemeinsamen Binnenmarkt und machte die EU angreifbarer gegenüber Gentechnikexporteuren wie den USA. Ein Kommentar aus der Kommission unterstreicht, dass die Koexistenz für sie ihre Bedeutung verliert: "Dort, wo Gentechnik-Sorten angebaut werden, wird in der EU produziertes oder importiertes gentechnisch verändertes Saatgut konventionelles Saatgut derselben Art ersetzen". Eine zunehmende Anzahl freiwilliger gentechnikfreier Regionen in ganz Europa sowie die kürzlich rechtlich verankerte gentechnikfreie Insel Madeira zeigen, dass die gentechnikfreie Wirtschaft mit den bestehenden rechtlichen Möglichkeiten vieles erreichen kann.


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Vorläufiger Text des Artikel 26 b

Anbau

Genehmigungen, die unter Abschnitt C und der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 erteilt wurden, sollen die Möglichkeit der Mitgliedsstaaten nicht beeinträchtigen, Maßnahmen zum Verbot, zur Einschränkung oder Verhinderung des Anbaus aller oder bestimmter GVO, einschließlich genetisch veränderter Sorten, die in gemäß der einschlägigen EU Gesetzgebung zum Inverkehrbringen von Saatgut und pflanzlichem Vermehrungsmaterial zugelassen wurden, zu beschließen, auf dem gesamten Hoheitsgebiet oder Teilen des Hoheitsgebietes, vorausgesetzt dass diese Maßnahmen auf anderen Begründungen beruhen als diejenigen, die sich beziehen auf die Beurteilung schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt, die von einer Freisetzung beziehungsweise einem Inverkehrbringen ausgehen könnten, oder sich beziehen auf die Notwendigkeit, das unbeabsichtigte Vorhandensein von GVO in anderen Produkten zu verhindern, und mit den Verträgen im Einklang stehen. Die Mitgliedsstaaten, die planen, Maßnahmen im Rahmen dieses Artikels zu verabschieden, informieren darüber vor der Entscheidung die anderen Mitgliedsstaaten und die Kommission."


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 335 - Juli/August 2010, S. 3
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft -
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Erscheinungsweise: monatlich (11 x jährlich)
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(verbilligt auf Antrag 26,00 Euro jährlich)


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2010