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POLITIK/035: Trojanisches Pferd aus Bologna? (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1 - 2009

Trojanisches Pferd aus Bologna?

Von Ulrich Bartosch


Die Europäische Union soll sich zum weltweit wettbewerbsfähigsten wissenbasierten Wirtschaftsraum werden. Gleichzeitig ist rund um die Bologna-Reform die Rede von "learning outcome" und "employability". Ein Plädoyer für die Verantwortung der Wissenschaft(ler).


Bologna und Lissabon wurden Synonyme für europäische politische Programmatiken. Sie stehen - grob gesagt - für "Hochschulraum" und für "Wirtschaftsraum". Der Bologna-Prozess begann 1998 als europäische Wissenschaftsminister postulierten, "dass Europa nicht nur das Europa des Euro, der Banken und der Wirtschaft ist; es muss auch ein Europa des Wissens sein." In der Bologna Deklaration wurde der Sinn der Reform ausgesprochen, in der den Hochschulen eine "entscheidende Rolle" für die maßgeblichen Dimensionen "unseres Kontinents" zuerkannt wird.

Im Jahr 2000 einigten sich die Regierungschefs aller damaligen 15 Mitgliedsstaaten in Lissabon auf das Projekt "die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln". Die "Lissabon-Strategie" prägt die europäische Politik maßgeblich. Für das Verständnis der Wirkungsweise der europäischen Politik ist es nützlich, die "Methode der offenen Koordinierung" (Open Method of Coordination, OMC) zu vergegenwärtigen.


Grundsätzlich verfügt die EU über geringe Macht, um wirtschaftspolitische Maßnahmen oder gar aktive Bildungspolitik durchzusetzen. Die OMC verschafft der EU Kommission Steuerungsmöglichkeiten für ihre Politikbereiche ohne Rückgriff auf eigene exekutive Gewalt oder legislative Kompetenz. Es werden Empfehlungen formuliert, die von den jeweiligen Nationalstaaten operativ aufgenommen werden. Diese aktive Politikgestaltung findet dabei in den Nationalstaaten überwiegend im Geschäftsbereich der Exekutive statt, die häufig mit Verbänden, Unternehmen usw. die fachliche Arbeit erledigen. Eine Umsetzung der europäischen Politikvorgaben geschieht also zunehmend ohne eine parlamentarische Auseinandersetzung und damit auch ohne öffentliche politische Diskussion.

Durch ein ausgeprägtes Berichtswesen ("naming, blaming, faming") werden die nationalen Fortschritte gegeneinander sichtbar gemacht. Sie dienen dann z.B. als Grundlage für weitere Ratsentscheidungen. Zugleich werden die Förderprogramme als Anreize für die strukturelle Gestaltung Europas nach den strategischen Plänen eingesetzt. Die Kommission verteilt Geld an die, die ihre Politikideen umsetzen. Ohne zum Kapitän des Dampfers Europa gewählt worden zu sein, schränkt sie die Bewegungsmöglichkeiten für die Besatzung der Brücke sehr subtil ein.


Bologna-Prozess und Lissabon-Strategie sind zwei unterscheidbare Politikprozesse. Während der Bologna-Prozess die Abstimmung innerhalb eines europäischen Hochschulraumes zwischen nunmehr 46 Staaten verbessern soll, beschränkt sich die Lissabon-Strategie auf die Mitgliedsstaaten der EU. Ursprünglich war die EU Kommission gar nicht im Bologna-Geschehen beteiligt. Mit der Möglichkeit der Maßnahmenfinanzierung rückte die Kommission zunehmend in die operative Gestaltungsebene der Hochschulreform. Unter den Vorgaben von Lissabon konnte die EU-Kommission dann z.B. in der Erklärung "Mobilizing the Brainpower" die Zwecksetzung der weiteren Entwicklung ökonomisch einengen: "Enabling Universities to make their full contribution to the Lisbon Strategy". Hochschulische Bildung wird zuvorderst wirtschaftlichen Erfordernissen untergeordnet, die vom aktuellen Arbeitsmarkt und gegenwärtigen (technischen) Entwicklungsbedarfen formuliert werden. Die Gefahr: "Bildung in einem umfassenden Sinn verschwindet hinter arbeitsmarktbezogenen Kompetenzvorgaben." (Herfried Münkler). Damit würden die Bologna-Instrumente im Prozess der Hochschulreform mittels der Richtgröße "employability" zur Herstellung wirtschaftlicher Verwertbarkeit eingesetzt.


Ein neues Bologna-Tool, das geeignet wäre den "takeover" der hochschulischen Reformbestrebungen durch die wirtschaftspolitischen Interessenlagen zu beschleunigen, könnte der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) werden. Er wird ab diesem Jahr eine zentrale Zuordnungs- und Übersetzungsfunktion im deutschen Bildungswesen einnehmen. QRs sind Beschreibungen von Qualifikationsprofilen in der Form von "Lernergebnissen" (learning outcomes) die am Ende einer Ausbildung festgestellt wurden, bzw. am Beginn eines Ausbildungsabschnittes durch die Bildungsträger versprochen werden. Der DQR will alle Qualifikationsstufen aller Qualifikationswege im deutschen Bildungssystem einschließen. Er reicht von der einfachen Schulbildung bis zur Promotion. Seine acht Stufen orientieren sich am Europäischen QR, der seit April 2008 als gültige Empfehlung der EU verabschiedet ist, und beschreiben Befähigungen oder Kompetenzen. Sie unterscheiden sich nicht nach dem Ort des Qualifikationserwerbs, sondern gemäß der Reichweite ihrer Anwendung könnte man sagen. Der DQR wurde in einer Arbeitsgruppe des BMBF unter Federführung des BiBB und mit starker Beteiligung der Wirtschaftsverbände entwickelt. Letztere haben ihre Interessenlage klar zum Ausdruck gebracht: "Qualifikationen müssen ... nach ihrer Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt eingeordnet werden...".

Diese Stimme der Wirtschaft muss man aufmerksam hören, besonders wenn zugleich die hochschulischen Gremien dazu kompatible Äußerungen machen. So hat z.B. die European University Association in ihrer Glasgow-Declaration 2005 der Bologna-Reform instrumentellen Charakter für die Umsetzung der Lissabon-Strategie zuerkannt. Wir befinden uns in einer bildungspolitischen Entwicklung, in der Qualifikationserfordernisse und Bildungsziele nicht selbstverständlich gemeinsam verfolgt werden. Muss der Bologna-Prozess am Ende ein Trojanisches Pferd für die reine wirtschaftliche Verwertbarkeit von hochschulischer Lehre (und Forschung) werden? Könnte er überhaupt noch der Heranbildung von verantwortlichen, reflektierenden Wissenschaftlerinnen dienen?


Die Frage nach dem Bildungshorizont unseres Jahrhunderts ist gleichbedeutend mit der Frage nach dem gegenwärtigen und dem zukünftigen Horizont unserer geistigen Verantwortung. Der Bildungshorizont des 20. Jahrhunderts ist also der Horizont, in dem wir befähigt sind, nach den Maßstäben unserer Kultur im Dienste der Zukunft solidarisch zu handeln." Als Georg Picht dies in den 60er Jahren innerhalb der von ihm angestoßenen Debatte zur "Bildungskatastrophe" feststellt, waren viele unserer heutigen Probleme für die große Mehrheit noch nicht absehbar. Aber es ist die Zukunftsfähigkeit des Denkens, die zukünftiges und zukunftssicherndes Handeln ermöglicht. Das steht damals so fest, wie es uns heute klar sein sollte. Verantwortliches Denken ist also die Voraussetzung für die aktive Annahme von (politischer) Verantwortung. Wie aber kann Lehre diese Verantwortung als subjektive persönliche Eigenschaft und Überzeugung hervorbringen?

Für Picht ging es darum, Verantwortung zu leben, nicht sie curricular zu lehren. Daraus müsste auch heute z.B. folgen, dass die Spezialisierungstendenz von Wissenschaft aktiv durch interdisziplinäre Lehr-, Lern- und Arbeitsfelder ergänzt werden muss. Spezialwissen muss mit Überblickswissen und mit vernetzten Problemstellungen verbunden werden, das die Folgenabschätzung von wissenschaftlichem Handeln einbezieht. Es geht also darum eine reflexive Wissenschaft zu betreiben, die sich ohne Verwertungszwang aber mit Verantwortungspflicht verstehen darf. Eine Lehre, die Verantwortung fördern will, muss offensichtlich ein verändertes Vorgehen der Wissenschaft praktizieren: "Kommt zuerst die Forschung und dann erst die Moral, so ist es für diese schon zu spät. ... Es handelt sich um eine der betreffenden Wissenschaftlergruppe gemeinsame Verantwortung. Sie besteht darin, nach bestem Wissen und Gewissen diejenigen Erkenntnisse zu suchen, derer die Allgemeinheit in Zukunft bedarf." (Klaus Michael Meyer-Abich )

Wenn wir diese Form aufgeklärter Wissenschaft für die Hochschullehre annehmen und anstreben, dann können wir die schlechte Instrumentalisierung des Studiums für wirtschaftliche Verwertungszwecke abwehren.


Die gegenwärtigen Reformbedarfe der Hochschule sind nicht alleine an den teilweise unsinnigen Zwischenergebnissen der konkreten Bologna-Umsetzung festzumachen. Die Bologna-Reform bietet relevante Chancen, die Zielsetzung einer wissenschaftlichen Bildung zur wissenschaftlich verantwortlichen Wissenschaftlerinnen-Persönlichkeit besser zu verwirklichen. Die Reform des Hochschulstudiums kann auch in die richtige Richtung gelenkt werden. Die Bologna-Reform gibt Raum für eine veränderte Hochschule, für neue Strukturen des Lehrens und Lernens. Die Bologna-Tools sind geeignet, die Verantwortungsfrage voranzubringen. Ganz besonders die aktuelle Diskussion um die Qualifikationsrahmen wird zu wirkungsmächtigen Definitionen führen können. Hier werden Qualifikationsprofile als Schnittstellen zwischen Ausbildungs- und Karriereschritten beschrieben. Wir sollten uns nach Kräften bemühen, eine verantwortliche, fragende Persönlichkeit als unbedingten Bestandteil jeglichen wissenschaftlichen Qualifikationsprofils festzuschreiben. Die Logik und die Mechanismen des Bologna-Prozesses werden uns dann helfen können. Die technischen Details hierzu bedürfen einer eigenen Diskussion. Darin müssen auch die bisherigen Deutungen der Bologna-Begriffe wie z.B. employability oder learning outcome kritisch reflektiert werden.


Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Vortrags auf dem 2. Hamburger Carl Friedrich von Weizsäcker-Forum der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler.

Prof. Dr. Ulrich Bartosch ist seit 2000 Professor für Pädagogik an der Fakultät für Soziale Arbeit und derzeit deren Prodekan. Als einer von 18 nationalen Bologna-Experten unterstützt er im Auftrag der EU-Kommission die Hochschulen bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2009, Seite 12-13
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Ruprecht Wimmer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2009