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SHORTLIST 2016/001: Rezension - Reinhard Kaiser-Mühlecker "Fremde Seele, dunkler Wald" (Roman) (SB)


Reinhard Kaiser-Mühlecker

Fremde Seele, dunkler Wald

von Christiane Baumann


Literaturpreisverdächtiges: Reinhard Kaiser-Mühleckers neuer Roman Fremde Seele, dunkler Wald auf der Shortlist

Nun steht sie fest, die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016, mit dem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels jährlich den deutschsprachigen "Roman des Jahres" auszeichnet. Aus den zwanzig Titeln der Longlist wurden sechs Werke ausgewählt, die in den Endspurt um den begehrten und gut dotierten Preis gehen. Immerhin erhält der Preisträger 25.000 Euro und die fünf auf der Shortlist Genannten jeweils 2.500 Euro. Auf dieser Liste, die heute bekanntgegeben wurde, stehen Reinhard Kaiser-Mühlecker, Bodo Kirchhoff, André Kubiczek, Thomas Melle, Eva Schmidt und Philipp Winkler.

Längst ist die Buchpreisverleihung ein Marketingspektakel, das mit einem eigens erstellten Leseprobenband zur Longlist wirbt und das nicht zuletzt immer wieder auch Kritik aushalten muss. Kritiker vermissen unter den Nominierten regelmäßig Autorinnen und Autoren. Da wird der geringe Anteil weiblicher Schreibender auf der Longlist angemerkt. Auch die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren überwiegend die Schwergewichte unter den Verlagen das Rennen um den Preis unter sich ausmachten, rief verschiedentlich Kritiker auf den Plan.
Die diesjährige siebenköpfige Jury verwies denn auch gleich im Vorwort zu den Leseproben darauf, dass die Longlist "eine von vielen möglichen Listen, eine subjektive, diskussionswürdige Auswahl" sei. Das klingt fast wie ein Freibrief oder wie ein Plädoyer für Beliebigkeit im Feld der Buchpreisverdächtigen. Auf jeden Fall erweckte die diesjährige Longlist den Eindruck, man habe sich vor allem um Ausgewogenheit in alle Richtungen bemüht: Romandebütanten (Philipp Winkler, Michelle Steinbeck) standen neben arrivierten Autoren wie Bodo Kirchhoff oder Reinhard Kaiser-Mühlecker, große Verlage (gleich fünf Mal S. Fischer) neben kleinen (Lenos Verlag, Paul Zsolnay), bereits mehrfach Nominierte wie Katja Lange-Müller, Sibylle Lewitscharoff, Thomas Melle, Thomas von Steinaecker neben Buchpreis-Neulingen. Blieb noch die Gender-Frage, an der zu kritteln gewesen wäre, denn nur sechs Frauen kamen auf die Liste der Top Twenty. Und natürlich die Verwunderung darüber, dass sich Autoren wie Christian Kracht (Die Toten), Martin Mosebach (Mogador) oder vor allem der bereits mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnete Guntram Vesper (Frohburg) nicht auf der Longlist fanden.

Reinhard Kaiser-Mühlecker schaffte es in diesem Jahr nicht nur auf die Longlist. Der 1982 geborene Österreicher gehört mit seinem Roman Fremde Seele, dunkler Wald zu den sechs Autoren, die sich weiterhin Hoffnungen auf den Preis machen dürfen. Es ist der sechste Roman des Autors, von dem außerdem Erzählungen und ein Bühnenstück erschienen sind.

Fremde Seele, dunkler Wald - der Titel variiert das Motto des Romans, das Iwan Turgenjew entnommen ist: "Du weißt, eine fremde Seele ist wie ein dunkler Wald". Das Zitat stammt aus Turgenjews Roman Ein Adelsnest, der im russischen Gutsbesitzermilieu Mitte des 19. Jahrhunderts spielt. Angesichts sozialer Umbrüche gerät der russische Adel in eine existenzielle Krise. Er hat sich überlebt und ist dabei, seine gesellschaftliche Stellung, Einfluss und Macht, einzubüßen. Aber vor allem erzählt der Roman von einer großen Liebe, von der Suche nach Glück und nach einem sinnerfüllten Leben. Turgenjews Werk durchzieht das Gefühl der Perspektivlosigkeit und Langeweile. Damit ist auch das Grundthema des Romans von Kaiser-Mühlecker angeschlagen. Erzählt wird die Geschichte einer Bauernfamilie in Oberösterreich, die in Zeiten der Globalisierung sukzessive ihren Hof verliert. Die Fleisch- und Milchpreise sind so niedrig, dass die Landwirtschaft zu einem existenzgefährdenden Verlustgeschäft wird. Das Land ernährt seinen Bauern nicht mehr. Andere Einnahmequellen, aus dubiosen Solar- und Investmentgeschäften, werden benötigt, erweisen sich jedoch als Luftnummern. Der Hof, einst von Generation zu Generation vererbt, ist am Ende. Es ist das "Los" der heranwachsenden Generation, dass für sie nicht mehr gilt, "was für die Vorfahren noch gegolten habe" (S. 90). Der Untergang des Hofes steht symbolisch für den Untergang der Familie, deren Zusammenleben sich als finstere Schmierenkomödie entpuppt. Jeder versucht irgendwie, "den Umständen zu entkommen" (S. 87), doch jeder nimmt den "Hof" letztlich an den neuen Ort mit, kann seinem Milieu nicht entfliehen.

Der Roman bietet ein Panorama an Biographien, auch hierin dem Vorbild Turgenjew folgend. Im Zentrum stehen die Brüder Alexander und Jakob Fischer.
Es ist nicht die Geschichte von Alexander dem Großen und Welteneroberer, die aufgerollt wird, sondern die verfehlte Biographie eines oberösterreichischen Jungen, der nach Selbstverwirklichung sucht. Er hofft zunächst, der Enge des bäuerlichen Lebens dadurch zu entfliehen, indem er Priester werden will. Als er seinen Irrtum erkennt, stürzt er sich in ein Medizinstudium, an dem er jedoch ebenso schnell das Interesse verliert. Schließlich meldet er sich zum Wehrdienst und bleibt beim Militär. Es ist der "Korpsgeist" (S. 82), der ihm Halt und Orientierung gibt in einem Leben, in dem Werte und Maßstäbe verlorengegangen sind. Letztlich landet er als Soldat im Kosovo beim Auslandseinsatz. Er ist auf Friedensmission, was ihn langweilt.
Hier setzt der Roman ein. Alexander ist nach einer Verletzung, die er sich aber nicht etwa im Einsatz, sondern bei einem privaten Ausritt zugezogen hat, auf Heimaturlaub. Er sitzt mit seinem fünfzehnjährigen Bruder Jakob in einer Kneipe und philosophiert über die weltpolitische Lage, vor allem über die "verdammten Russen". (S. 7) Gefährliche Klischees treten zutage, die schon einmal in der Geschichte zu einem verheerenden Weltkrieg beitrugen. "Wünsch dir keinen Krieg", mahnt der Kneipenwirt, dessen Mutter ihre Brüder im zweiten Weltkrieg verlor. (S. 10) Doch die Botschaft geht ins Leere.
Jakob ist der zweitgeborene Sohn, wie im Alten Testament, der in dem Glauben lebt, der rechtmäßige Erbe des elterlichen Hofes zu sein, nicht weil er sich wie sein biblischer Namensvetter dieses Recht erschlichen hat, sondern weil er die tägliche Arbeit in der Landwirtschaft leistet, während sein Vater seinen Investmentträumen nachjagt. Als er seinen Irrtum erkennt, flüchtet er in eine Beziehung zu einem Mädchen. Er gründet mit Nina, die vorgibt von ihm schwanger zu sein, eine eigene Familie. Als er sich endlich eingesteht, dass sie ihm das Kind "untergejubelt" hat und der leibliche Vater Markus ist, sein Freund, der gerade freiwillig aus dem Leben schied, stürzt er in eine Krise. Er kehrt auf den elterlichen Hof zurück, aber auch er wird wohl zum Militär gehen, um den Umständen zu entkommen, wie sein Bruder. Das Romanende antizipiert damit geradezu fatalistisch die Wiederholung von Alexanders Geschichte, die im kleinbürgerlichen Milieu endet, mit einer Stellung im Verteidigungsministerium.

Bedrückend ist das, was da erzählt wird in einer Atmosphäre unaufhörlichen Regens und Trübsinns, einer Ausweglosigkeit, die nüchtern und erbarmungslos ausgestellt wird. Doch das Ungeheuerliche der Geschichte sind die vielen kleinen Dinge des Alltags, Boshaftigkeiten und Bösartigkeiten, die das geschilderte Leben bestimmen. Da sind die Großeltern, die ihr Vermögen, das offenbar aus schmutzigen Geschäften der Nazizeit stammt, nicht für den Erhalt des Hofes hergeben, es lieber verprassen und schließlich einer rechten Partei vererben. Da ist Luisa, die Schwester von Alexander und Jakob, die mit ihrer kleinen Tochter aus Schweden nach Hause kommt und nach dem Tod des Großvaters auf das Erbe spekuliert, wie alle Verwandten: "was sie einte, war nicht die Trauer um den Verstorbenen, sondern die Gier, zumindest die Hoffnung auf Geld" (S. 120). Und da ist zum Beispiel Elvira, die eine sektenartige Gruppe der "Urchristen" gegründet hat und deshalb von den Dorfbewohnern übel verleumdet wird und zwar so, dass das Geschäft ihres Mannes vor dem Ruin steht. (S. 61) Elviras Mädchenname ist Beham, ein merkwürdiger Name zwischen den Fischers und Hagers im Roman. Die namentliche Übereinstimmung mit den Malerbrüdern Hans Sebald und Barthel Beham, die im 16. Jahrhundert im Umfeld Albrecht Dürers lebten, zu den radikalen Vertretern der Reformation gehörten und als "gottlos", als Ketzer, aus Nürnberg verbannt wurden, ist wohl kein Zufall, leuchtet doch darin die Sehnsucht nach einer neuen Menschlichkeit, einer neuen Reformation auf, vergleichbar jener Lutherischen, die sich gegen die korrupten und deformierten Verhältnisse wandte.
Schließlich wird sogar der Selbstmord von Markus Jakob zum Verhängnis, geht doch das Gerücht, er sei darin verwickelt. Jakob verliert seine Arbeit.
Es ist eine Atmosphäre der Denunziation und Verleumdung, der Missgunst und des Misstrauens, die einem entgegenschlägt und die beklemmend ist. Die große wie die kleine Welt ist aus den Fugen geraten, die Existenz des Einzelnen wie die der Menschheit bedroht.
Ein Bibelwort wird Jakob letztlich zum Rettungsanker: "Rette mich, Herr, denn die Wasser sind bis an meine Seele gekommen" (S. 172). Mit diesem Psalm Davids (Psalm 69, 1,2) wird das Ausmaß der Krise begreifbar, klagte doch David seinem Gott weiter: "Ich versinke in tiefem Schlamm, da kein Grund ist; ich bin im tiefen Wasser, und die Flut will mich ersäufen." Doch damit verbindet sich auch die Hoffnung, die Krise zu überwinden, denn dieses Zitat, eine Schlüsselstelle im Roman, korrespondiert auffällig mit einem Traum Alexanders: "Er träumte von einem Wald, der weit entfernt war, auf einmal aber immer näher kam, und als er so nah war, dass man die einzelnen Bäume am Saum nicht mehr nur den Umrissen nach, sondern ganz deutlich ausmachen konnte, stieg aus seiner Mitte sehr langsam, fast zögerlich, ein Heißluftballon auf, und wenig darauf noch einer, und dann noch einer und immer noch einer, bis sie schließlich zu Stufen wurden, die vielfarbig in den hohen hellblauen Himmel führten." (S. 83) Der Traum vom Wald und den Bäumen, in Verbindung mit den aufsteigenden Ballons ist in Freud'scher Terminologie unschwer als Phallussymbol zu identifizieren. Indem die Heißluftballons sich zu einer Treppe, zu einer "Jakobsleiter" formieren, werden in diesem Traum die Liebe und Nächstenliebe zum Symbol der Hoffnung und Erlösung, die der Titel des Romans, Fremde Seele, dunkler Wald, im Zusammentreffen von Bibelzitat und Traum widerspiegelt.

Auch wenn der zweite Teil des Romans, der sich stärker auf die Geschichte Alexanders fokussiert, mit zuweilen trivialen Wendungen überrascht, in seinen Naturschilderungen, die sich als Spiegel menschlicher Seelenzustände erweisen, nimmt der Roman den Leser gefangen und erinnert auch hier an sein Vorbild Turgenjew. Oft sind es nur Momentaufnahmen, die in Kaiser-Mühleckers Text aufleuchten und die wie eine Variation des Romanendes von Turgenjews Ein Adelsnest anmuten: "Es gibt im Leben Augenblicke, Gefühle ... Auf sie kann man nur hinweisen - und vorübergehen." [1] Liest Alexander Tolstois Roman Krieg und Frieden, so schildert Reinhard Kaiser-Mühlecker eine alltägliche Geschichte in Friedenszeiten, die jedoch in ihrer Zustandsbeschreibung die Qualität eines Krieges hat.


Anmerkung:

[1] Turgenjew, Iwan: Ein Adelsnest. Aus dem Russischen übertragen von Rose Wittfogel. Berlin 1948, S. 188.


Die Shortlist zum Deutschen Buchpreis:
  • Reinhard Kaiser-Mühlecker Fremde Seele, dunkler Wald
  • Bodo Kirchhoff Widerfahrnis
  • André Kubiczek Skizze eines Sommers
  • Thomas Melle Die Welt im Rücken
  • Eva Schmidt Ein langes Jahr
  • Philipp Winkler Hool


Reinhard Kaiser-Mühlecker
Fremde Seele, dunkler Wald
Roman
Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 2016
301 Seiten
20,00 Euro
ISBN: 978-3-10-002428-2

20. September 2016


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